Prozess um toten Flüchtling in Gerhart-Hauptmann-Schule: Wie wird ein Opfer zum Täter?
Ein Streit vor der Dusche. Am Ende ist ein Flüchtling tot. Seit Donnerstag steht der Angeklagte aus der besetzten Hauptmann-Schule vor Gericht. Wie wird ein gambischer Bauernsohn zum Messerstecher?
Manchmal reicht schon ein Funke zum Brand. Wenn der Wind richtig steht und das Holz trocken ist. Dann ist die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten. So lässt sich lesen, was am 25. April 2014 in der von Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg geschehen ist und gestern am Berliner Landgericht verhandelt wurde.
Der Gambier Nfamara J. hat den Marokkaner Anwar R. im einzigen Duschraum der Schule mit neun Messerstichen getötet. Das gab er gestern durch seinen Anwalt zu. Der Rest – war es Totschlag, Notwehr, ein minder schwerer Fall? – bleibt zu klären.
Doch wie wird einer vom Opfer zum Täter? Vom gambischen Bauernsohn, analphabetischen Familienvater, vom Flüchtling im Holzboot, vom Tomatenpflücker in Spanien zum Messerstecher in Berlin? Wie muss der Wind stehen?
Nfamara J., 41 Jahre, so schmächtig, dass die Hose rutscht, zieht die Schultern zum Kinn. Saal B129, Große Strafkammer. Er gräbt die Lippe in seinen dunkelblauen Rollkragenpullover, klemmt die Arme zwischen seine Oberschenkel, kehrt die Turnschuhspitzen zueinander. Versinkt zwischen Verteidiger und Dolmetscher. Unsichtbarer geht nicht.
Er scheint sich zu fragen: Wie bin ich hierhergekommen?
Manchmal wischt er sich Tränen aus dem Gesicht. Auch er scheint sich zu fragen: Wie bin ich nur hierhergekommen?
Es ist nicht leicht in diesen Tagen, jemanden zu finden, der diese Frage beantworten kann. Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg hat vorerst ein Besuchsverbot für die Schule verhängt – wieder einmal kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern des seit 2012 besetzten Gebäudes und der Polizei. Der Bezirk ist wegen der Ausgaben rund um die Schule pleite. Was einst in Würzburg als Protestmarsch von Flüchtlingen nach Berlin startete – Residenzpflicht abschaffen, Asylverfahren beschleunigen, Arbeitserlaubnis bewilligen – und zu einer Bewegung inmitten der Hauptstadt, inmitten der Gesellschaft, herangewachsen war, ist zerstoben. Politiker brechen Versprechen, Unterstützer beschuldigen sich gegenseitig, Flüchtlinge drohen mit Selbstmord. Bislang sind alle Asylanträge – obwohl wohlwollende Prüfung versprochen war – abschlägig beschieden worden, bis auf die von jenen, die psychiatrische Probleme haben. Kürzlich wurde ein Flüchtling durchgedreht in Boxershorts in Potsdam aufgegriffen. Kaum einer will noch mit Namen sprechen, zu groß sind die persönlichen und politischen Abhängigkeiten. Und kaum einer kannte Nfamara J.
Am falschen Ort. Wie das Leben in der Schule aussah
Gédéon schon. Der 27-jährige Kameruner sitzt in einem Café am Hermannplatz und erzählt von der Zeit in der Hauptmann-Schule. Inzwischen lebt er in einem Berliner Heim. Als er vor sieben Monaten in der Hauptstadt landete, weil er weg wollte aus seinem Lager in Rathenow, wo ihn alte Frauen auf der Straße „Affe“ nannten, fragte er sich durch bis zur Hauptmann-Schule. Er betrat, wie er sagt, eine neue Galaxie. Er traf hunderte junge Männer, ohne Familie, ohne Geld, ohne Chance auf Rückzug, viele betrunken, viele auf Drogen. Er hörte Arabisch, Bambara, Hausa und Woloff, er traf jene, die in Deutschland einen faschistischen Staat sehen, und andere, die Flaschen sammelten, sich illegal auf dem Bau verdingten, auch jene, die unpolitisch bleiben wollten. „Es war kein guter oder schlechter Ort, es war beides“, sagt er. Eine Galaxie zwischen Solidarität und Brutalität, wo die Menschen gemeinsam kochten und sangen, sich mit Flaschen bekriegten und in Gerüchten verstrickten. So viele Untergruppen, so viele Interessen. Er traf Drogendealer, die ihren Stoff in der Schule lagerten, ihn für ihre Geschäfte anheuern, und Arme, die ihn beklauen wollten. Gédéon schlief mit dem Handy in der Unterhose.
Er war ein ruhiger Mann, sagt er über den Täter
Und Gédéon traf Nfamara J. Wochenlang schlief der Gambier auf der Matratze neben dem Kameruner. Sie sprachen verschiedene Sprachen, hatten nicht viel miteinander zu tun. Aber sie mochten sich. „Er war ein ruhiger, freundlicher Mann", sagt Gédéon.
Was macht ein Opfer zum Täter? „Die Situation“, sagt Gédéon.
„Er war am falschen Ort“, sagt auch der Anwalt des Angeklagten im Berliner Gerichtssaal. Nfamara, erzählt sein Pflichtverteidiger, habe die Krise in Spanien nach Deutschland getrieben, er habe hier mit einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung für den Schengenraum Arbeit gesucht, um weiterhin Geld nach Hause zu schicken, nichts gefunden und sei, wie so viele andere, in der Schule gelandet. Dort schlief er neben Gédéon, bis zu jenem 25. April, als der Funke übersprang. Nfamaras Anwalt schildert, was passiert sein soll.
Am Morgen des 25. April habe Nfamara duschen wollen – in der einzigen Dusche, die für die Flüchtlinge zugänglich war, im Flachbau auf dem Innenhof der Schule, neben dem Beratungsraum, wo unregelmäßig Deutschkurse stattfanden, neben der Bar, wo gekifft und getrunken wurde. Wer nicht wie Gédéon Bus fahren wollte, um auswärts zu duschen, musste sich anstellen. An manchen Tagen standen hunderte in der Schlange.
Kontrollverlust: Wir der Anwalt die Tat schildert
Nfamaras Anwalt beschreibt jetzt ausführlich den Streit. Anwar R., ein 29-jähriger Marokkaner, habe dem Angeklagten mit dem Kopf gegen die Stirn gedrückt, ihm das Duschen verboten, ihn als „dreckigen Schwarzen“ und seine Mutter als „Ziege“ beschimpft. Mehrere Arabisch sprechende Männer hätten ihn bedroht, einer sei mit einem Stuhl auf ihn losgegangen. Nfamara habe sich gewehrt, seine Hand habe zu bluten begonnen. Dann habe er sich an das Messer erinnert. Das soll er am Morgen zum Kochen im Görlitzer Park erstanden haben, sagt sein Anwalt. Sozialarbeiterinnen aus dem Umfeld der Schule hingegen berichten, viele seien zu dieser Zeit bewaffnet gewesen. Damals hatte gerade ein psychisch Kranker mehrere Flüchtlinge in der Gegend mit Rasierklingen verletzt. Da trage man eben Waffen bei sich. Viele Bewohner erzählen, dass nächtliche Kämpfe mit Messern üblich gewesen seien. Gédéon sagt, es habe zum Alltag gehört.
Nfamara, sagt sein Anwalt, habe sich an das eigene Messer im Hosenbund erinnert, zunächst damit gedroht, dann aber zugestochen. „Er hat die Kontrolle verloren.“ Wenige hundert Meter von der Schule entfernt griffen Polizisten Nfamara auf, fanden die Tatwaffe, stellten Blutspuren fest.
Nfamara, sagt sein Anwalt, sei froh gewesen in die Obhut der Polizei zu gelangen, weil er die Rache der Marokkaner und Sudanesen aus der Schule fürchtete.
Im Blut hatte er Alkohol, MDMA, Kokain
Wenn die Flüchtlinge aus der Hauptmann-Schule von jenem 25. April sprechen, benutzen sie das deutsche Wort „Blutbad“. Anwar R., Alkohol, MDMA und Kokain im Blut, eine tickende Zeitbombe, wie einige aus der Schule berichten, starb in den Armen einer Sozialarbeiterin. Ein Mitarbeiter des Wachdienstes, der im April an der Schule war, sagte aus, dass Anwar R. ihn am selben Tag mit einem schweren Stuhl bedroht hatte und laut eigener Angabe 36 Stunden vor dem Streit nicht geschlafen hatte.
Nach Anwars Tod zog der Trägerverein seine Angestellten ab.
Die Kollegin der Sozialarbeiterin, die kurz danach ins Zimmer kam, erinnert sich an die Stille im Haus, an zwei betende afrikanische Frauen, an einen Krankenwagen, der erstaunlich lange gebraucht habe.
„Es ist immer das gleiche Prinzip“, sagt eine Unterstützerin des Flüchtlingsprotests. Sie war von Anfang an dabei, hat die Flüchtlinge am Oranienplatz begleitet und mit ihnen im vergangenen Juni auf dem Dach der Hauptmann-Schule gegen die Räumung angebrüllt. Als am Abend des 2. Juli allerdings die so genannte Einigung kam, verließ sie enttäuscht den Platz. Seither engagiert sie sich für andere Zwecke. Fragt man sie nach den Bedingungen, die Nfamaras Funken zum Brand haben werden lassen, sagt sie: „Die Eskalation ist politisch gewollt.“ Erst treibe man die Flüchtlinge durch Kontrolle und Verbote in die Kriminalität, lasse Uniformierte auf Traumatisierte los, behandle sie so lange wie Kriminelle, bis sie es würden, und werfe es ihnen dann vor. Warum sonst habe man keine weiteren Duschen aufgestellt, das Selberbauen verboten? Die 16 Duschen in der angrenzenden Turnhalle durften von den Flüchtlingen nicht genutzt werden. „Man wollte, dass die Bewohner so sehr leiden, dass sie freiwillig ausziehen“, glaubt sie. Jeder Normalbürger würde hier aggressiv werden. Erstaunlich, dass aus den Streitereien so selten Blutbäder wurden. Es sei nicht das Interesse der Politik gewesen, hygienische Zustände zu schaffen. Der Bezirk bestreitet das. Intern sprechen Politiker der Grünen allerdings von Überforderung.
Kein Aktivist ist zur Verhandlung erschienen
Nfamara hatte wie Gédéon in der Aula geschlafen, dort, wo die Neuen unterkommen, die noch nicht den Schutz einer Gruppe genießen, die Einzelgänger. Darum ist auch gestern keiner der Aktivisten zur Verhandlung gekommen, kein Politiker, kein Angehöriger, kein Freund. Nfamara ist allein. Seine Frau in Gambia kann er nur selten telefonisch erreichen. Aber er beklage sich nie, sagt sein Anwalt. Das Gericht hat vier weitere Termine angesetzt, die Haftstrafe kann maximal 15 Jahre betragen.
Im kommenden Jahr will der Bezirk die Schule zu einem Flüchtlingszentrum mit etwa 70 Plätzen umbauen. Diese Woche erklärte der Kreuzberger Baustadtrat Hans Panhoff den verbliebenen Bewohnern, dass sie das Haus zum Jahresende verlassen müssten. Die Sicherheitslage lasse keine parallelen Bauarbeiten zu. Wer in einem Asylbewerberheim in Deutschland registriert sei, müsse dorthin zurückkehren, wer aus einem sicheren Drittstaat, wie beispielsweise Italien, eingewandert sei, auch. Die Bewohner stellen sich bereits auf Widerstand ein.
Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.