Mahnwachen in Berlin: Wie Verschwörungstheoretiker ticken
Hat der Anschlag am Breitscheidplatz gar nicht stattgefunden? Verschwörungstheoretikern ist kein Gedanke zu blöd. Als Einstiegsdroge dienen die Berliner Montagsmahnwachen.
Der Mann am Mikrofon hat gerade erklärt, er finde es gar nicht schlimm, Verschwörungstheoretiker genannt zu werden. Weil das ja nur bedeute, dass er Fragen stelle, anstatt sich, wie der Rest der Gesellschaft, mit offensichtlichen Lügen zufriedenzugeben. Ein Zweiter sagt, der syrische Diktator Assad habe niemals Fassbomben abwerfen lassen. Alles Propaganda, das habe er im Internet recherchiert. Ein Dritter glaubt, Michael Jackson musste sterben, weil er Kriege ablehnte. Er war den Mächtigen einfach im Weg.
Montagabend auf dem Pariser Platz, ein paar Dutzend Menschen stehen im Halbkreis um einen weißen Lieferwagen herum. Sie demonstrieren für Frieden, so wie sie es jeden Montag tun, seit drei Jahren schon.
Verschwörungsgläubige, Reichsbürger, Israel-Hasser, Esoteriker. Auf der Längsseite des Wagens steht: „Frieden schaffen kann nur, wer den Frieden in sich trägt.“ Das Auto gehört einem Aktivisten aus dem Oderbruch, der behauptet, er könne durch Handauflegen Herzchakren aktivieren. Was alle Anwesenden eint, ist ihre Überzeugung, dass die Herrschenden und die Massenmedien ihnen etwas verheimlichen. Dass es dunkle Mächte gibt, die ihnen Böses wollen.
Kritiker der Mahnwachen unterteilen sich in zwei Fraktionen. Die einen sagen: Das sind harmlose Spinner. Die anderen sagen: Von harmlos kann keine Rede sein.
Das World Trade Center darf nicht fehlen
Offiziell heißt die Veranstaltung „Mahnwache für den ersten Weltfrieden“. Die Teilnehmer tragen Sticker mit Friedenstauben. Es gibt mehrere Mikrofone, sodass sich die Redner gegenseitig Stichwörter zurufen können: „Jetzt sag du doch auch mal was zum World Trade Center!“
Manche bemühen sich um sachlichen Tonfall, andere schreien ins Mikro. Bei Regen quetschen sich alle unter die vorhandenen Schirme, und ein Redner sagt, das sei nun ein starkes Zeichen für die Geschlossenheit ihrer Bewegung.
Als die Aktivisten im März 2014 mit ihren Mahnwachen begannen, war „postfaktisch“ noch nicht „Wort des Jahres“, gab es keine Diskussion um Fake News oder alternative Fakten. Die AfD saß nicht in zehn Landtagen, es gab weder Pegida noch den Propagandakanal „RT Deutsch“. Die rechtsextremen Identitären schafften es nicht in die „Tagesschau“. Haben die Mitglieder der Mahnwachen das, was kommen würde, vorweggenommen? Gar mitgestaltet?
Einer, der die Szene seit drei Jahren beobachtet, sitzt Sonntagmittag in einem Café in Gesundbrunnen. Er ist Journalist. Aus Angst vor Übergriffen möchte er hier Kay Schmitt heißen, das ist nicht sein bürgerlicher Name. Schmitt sagt, die Mahnwache funktioniere wie eine Einstiegsdroge. Ziehe verunsicherte Menschen in ein Milieu, das simple Erklärungsmuster für eine überkomplexe Welt biete. Sündenböcke für alles, was schieflaufe.
Detailliert kann Schmitt die Biografien von Berliner Friedensaktivisten nachzeichnen, die erst am Pariser Platz standen, dann zu Bärgida wechselten und schließlich in der AfD oder im Umfeld der rechtsextremen „Merkel muss weg“-Demos landeten. Viele engagieren sich in mehreren Gruppen gleichzeitig, so entstehen enge Vernetzungen.
Kay Schmitt sagt, die Berliner Mahnwache sei der Ort, an dem sich der braune Verschwörungssumpf aus den Tiefen des Internets erstmals auf Deutschlands Straßen materialisiert habe. Und dass manch wirrer Gedanke, der dort als Wahrheit verkauft werde, es inzwischen bis in die Mitte der Gesellschaft geschafft habe. Ohne dass bekannt ist, aus welcher Ecke er ursprünglich kam.
Von Islamfeinden und Chemtrail-Gegnern
Ein gutes Barometer für die Anschlussfähigkeit von Verschwörungstheorien sind die Amazon-Charts. Hier zählen nur Verkäufe, der Buchhandel trifft keine Vorauswahl. Schriften über Ufos oder die Involvierung der US-Regierung in islamistische Terroranschläge landen regelmäßig auf Spitzenplätzen. Mit kruden Thesen in Buchform, im Netz und auf Konferenzen werden Millionen umgesetzt. Als besonders erfolgreich gilt der rechtsesoterische Kopp-Verlag. Dessen Starautor Udo Ulfkotte starb im Januar mit 56 Jahren an einem Herzinfarkt. Seine Anhänger glauben, er sei vom CIA mit einer „Herzinfarktpistole“ beseitigt worden. Es musste halt nach einem natürlichen Tod aussehen.
Vor seiner Karriere als Verschwörungsonkel war Ulfkotte 15 Jahre Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Auf Leute wie ihn ist die Szene stolz. Nach ihrer Lesart wandte sich Ulfkotte vom Establishment ab, weil er dessen Verlogenheit nicht länger ertrug. Gleiches gilt für Ex-„Tagesschau“-Sprecherin Eva Herman. Oder Willy Wimmer, einst CDU-Staatssekretär, jetzt Autor des islamfeindlichen „Compact“-Magazins.
Eine aktuell sehr populäre Verschwörungstheorie besagt, der Terroranschlag am Breitscheidplatz im Dezember habe überhaupt nicht stattgefunden. Vielmehr sei der gesamte Tatort hergerichtet, der Lkw bloß ein paar Meter rückwärts auf den Weihnachtsmarkt gerollt worden, um es nach einem Attentat aussehen zu lassen. Als Beweise dienen Bilder des Fahrzeugs. Da sich an Reifen und Kühlergrill keine Blutflecken befänden, könne es sich nur um Fake handeln. Als Drahtzieher vermuten die Verschwörungsgläubigen wahlweise die Bundesregierung, US-Geheimdienste oder die Freimaurer. Oder natürlich die Juden. Am Ende sind meistens die Juden schuld.
Er bezweifelt, dass die NPD so schlimm ist
Bei den Demonstranten auf dem Pariser Platz steht auch Florian. Er ist studierter Strömungsingenieur, hat seit 2014 keine einzige Montagsmahnwache verpasst. Er sagt, er wisse selbst nicht genau, wie er in dieser Szene gelandet sei, aber es fühle sich gut an. Er sei ganz sicher nicht rechts, doch er bezweifle, dass die NPD tatsächlich so schlimm sei wie von den Massenmedien dargestellt.
Ob Florian erklären kann, warum Michael Jackson ermordet wurde?
„Der hat dieses Lied gesungen“, sagt er. Dieses „nanananananana, nananananananana“. Florian meint „They Dont Care About Us“ von 1995, die „New York Times“ schrieb damals, der Text sei teilweise judenfeindlich. Das war womöglich Jacksons Todesurteil, sagt Florian. Warum sich die geheimen Mächte dann noch 14 Jahre Zeit ließen, weiß er auch nicht. „Aber solange keiner das Gegenteil beweist, schließe ich nichts aus.“ Überhaupt gelte, was er vor Jahren in einem indischen Meditationszentrum gelernt habe: „Es gibt nur eine echte Wahrheit, und die steckt in dir selbst.“
Dass Verschwörungstheorien im Extremfall Leben kosten können, zeigt das Beispiel der Impfgegner. Berlin hat mehrere Wellen von Masern-Ausbrüchen erlebt, auch Kinder steckten sich an. Den Irrglauben, Impfen sei überflüssig, verbreitet die Szene seit Jahren.
Hartnäckig hält sich auch die sogenannte Chemtrail-Theorie, wonach Kondensstreifen, am Himmel von Flugzeugen hinterlassen, giftige Chemikalien enthalten. Diese würden im Regierungsauftrag versprüht, um die Weltbevölkerung zu reduzieren. Star der deutschsprachigen Chemtrail-Szene und häufiger Gast auf Berliner Demonstrationen ist der ehemalige Greenpeace-Aktivist Werner Altnickel. In seinen Reden beschränkt sich der Mann mit Pferdeschwanz und ergrautem Vollbart aber nicht auf Chemtrails. Er warnt auch vor Masseneinwanderung und der „Vernichtung der weißen Rasse“, neuerdings ebenso vor „36 ultrageheimen Höchstgrad-Logen“, die angeblich die Welt regieren. Zu ihren Mitgliedern gehörten IS-Führer Abu Bakr al Bagdadi und Gerhard Schröder. Auf Youtube verbreitet Werner Altnickel die Theorie, Juden hätten nach dem Zweiten Weltkrieg eigene Konzentrationslager errichtet und dort 100 000 Kinder ermordet.
Ken Jebsen und die Hamas-Versteher
Zu den bekanntesten Köpfen der Berliner Mahnwachenbewegung zählt der ehemalige RBB-Moderator Ken Jebsen. Auf seiner Internetseite „KenFM“ interviewt er Politiker wie Rita Süssmuth, bietet aber auch Verschwörungstheoretikern und Hamas-Verstehern eine Plattform. Er selbst bestreitet, Antisemit zu sein. Seine Worte „Ich weiß, wer den Holocaust als PR erfunden hat“ seien aus dem Zusammenhang gerissen. Seine Überzeugung, die Mächtigen der USA würden von Menschen mit jüdischen Wurzeln gesteuert, deren Ziel die „Schaffung eines israelischen Großreichs“ sei, hält er nicht für judenfeindlich. Jebsen behauptete, Zionisten kontrollierten die UN, den Internationalen Währungsfonds und die Atomenergiebehörde. US-Präsidenten müssten ihre wichtigsten Reden vorab von Juden genehmigen lassen. Laut Jebsen begeht Israel seit 40 Jahren Völkermord. Das Ziel sei nichts weniger als die „Endlösung“, nämlich das Ausrotten aller Palästinenser in Palästina.
Gern beschwert er sich darüber, dass Journalisten nur über ihn schreiben, aber nie mit ihm sprechen würden. Eine Interviewanfrage des Tagesspiegels lässt er unbeantwortet. Auf eine zweite richtet seine Mitarbeiterin aus, er habe keine Zeit.
In einem aktuellen Video vermutet Ken Jebsen, die Proteste des sogenannten Womens March seien vom jüdischen Investor George Soros gelenkt worden. Der erhoffe sich eine Zunahme an Abtreibungen, damit er am Verkauf toter Embryonen an die Pharmaindustrie verdiene.
Zur Pflichtlektüre vieler Verschwörungstheoretiker gehören die regelmäßigen Infoschreiben von „Stimme und Gegenstimme“. Sie liegen jeden Montag bei den Demonstranten am Brandenburger Tor aus, der Mann am Infotisch preist sie als „seriöse Berichterstattung, die bei der Wahrheitsfindung hilft“. Tatsächlich handelt es sich um Schriften des Schweizer Sektengründers Ivo Sasek. Viele Texte könnten aus der Satirezeitschrift „Titanic“ stammen, aber hier ist alles todernst gemeint. Zum Beispiel „Fifty Shades of Grey: Satanische Praktiken für Jugendliche?“ oder „Die Grammy-Verleihung: ein Instrument zur Umprogrammierung unserer Gesellschaft?“
Sektengründer Sasek hat zur körperlichen Züchtigung von Kindern aufgerufen. Andere Mitglieder der Szene schrecken auch vor Schusswaffen nicht zurück. Sie wollen sich gegen die Mächtigen im Notfall wehren können. Als Polizisten in Bayern kürzlich 31 Waffen eines Reichsbürgers konfiszierten, erschoss dieser einen Beamten.
Hat der CIA die Mahnwachen unterwandert?
Das Phänomen der Verschwörungstheorien und ihrer Verbreitung ist inzwischen gut erforscht. Die gängigste Erklärung unter Psychologen besagt: Wer sich vom Sozialleben ausgeschlossen fühlt, versucht umso verzweifelter, einen Sinn im Leben finden - und diese Sinnsuche verstärkt den Glauben an Verschwörungstheorien. US-Forscher der Universität Princeton sagen, das beste Gegenmittel sei, die Betroffenen nicht weiter an den Rand zu drängen. Sondern zu versuchen, sie wieder ins gesellschaftliche Leben einzubinden. Die Angesprochenen toben und unterstellen den Forschern, diese riefen zur Gehirnwäsche auf.
Im Juni werden viele von ihnen auf einem alten Flughafengelände im brandenburgischen Niedergörsdorf zusammenkommen. Die Chemtrail-Gegner, die Esos, die Rechtsausleger, Ken Jebsen und Redakteure von „RT Deutsch“. Sie wollen das dreitägige „Friedensfestival“ Pax Terra Musica feiern. Veranstalter ist ein Aktivist vom Pariser Platz.
"Schwerer Fehler, diesen Unsinn zu veröffentlichen"
Auf dem Infotisch der Mahnwache liegt auch das Magazin „Free21“ aus. Es ist vom Dänen Tommy Hansen gegründet worden, der vor zwei Jahren nach Berlin zog, weil man nirgendwo sonst so frei denken könne. Mittlerweile arbeiten bis zu 40 Freiwillige an dem Projekt mit. Im Heft sind mehrere Texte des Verschwörungstheoretikers Dean Henderson erschienen - eines Mannes, der glaubt, der Massenmörder Anders Breivik habe 2011 im Auftrag Israels gehandelt. Norwegen sei den Juden nämlich zu palästinenserfreundlich. In „Free21“ behauptete Henderson ernsthaft, die größten Unglücke der Menschheitsgeschichte gingen auf Intrigen der jüdischen Familie Rothschild zurück.
Chefredakteur Hansen sagt am Telefon, es sei ein schwerer Fehler gewesen, diesen Unsinn zu veröffentlichen. Das würde er heute nicht mehr tun. „Es war unprofessionell.“ Überhaupt passe er inzwischen auf, welche Autoren in „Free21“ publizieren. „Bei uns gibt es keine Berichte über Aliens oder Freimaurer.“ So einiges, was auf den Mahnwachen behauptet werde, sei leider falsch. Er selbst habe jahrelang versucht, anderen Friedensbewegten „die Idiotie der Chemtrails auszureden“. Ohne Erfolg.
Im Gespräch wirkt Tommy Hansen recht vernünftig. Dann sagt er: Es könne sein, dass die Chemtrail-Jünger und andere Fanatiker vom CIA geschickt würden. Um so die neue Friedensbewegung zu diskreditieren und „von den ernsthaften Themen abzulenken“. Er behaupte nicht, dies sei auf jeden Fall so. Er sage nur: Vielleicht ist es so.
Sebastian Leber