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Aufstand der Randständigen. Gwen Carr empfindet es als ihre Pflicht, gegen die diskriminierende Politik von Donald Trump zu protestieren. In New York wurde sie deswegen festgenommen.
© Stephanie Keith/Reuters

Rassismus in den USA: Wie eine Mutter gegen Diskriminierung kämpft

Ihr Sohn wurde von Polizisten erwürgt. Sein Ende war der Anfang von Gwen Carrs Leben als Bürgerrechtlerin. Seit Trump regiert, ist daraus eine Volksbewegung geworden – und aus Protest Ungehorsam.

Auf Staten Island, dieser Insel südlich von Manhattan, fühlt es sich noch etwas amerikanischer an als im Rest von New York. In den Vorgärten der Einfamilienhäuser hängen US-Flaggen, 75 Prozent der Einwohner sind weiß, es ist der einzige Bezirk, in dem mehrheitlich Republikaner gewählt werden, Trump-Land. In einem Neubau wohnt dort Gwen Carr, 67, Afroamerikanerin, die sich den größten Teil ihres Lebens nicht für Politik interessierte. Bis zum 17. Juli 2014. Bis man ihr ihren Sohn nahm.

Gwen Carr – blondgesträhnte Haartolle, weißes Kleid, Badelatschen – erhebt sich von ihrer beigen Couch im Wohnzimmer, läuft zur Wand, wo mehrere Fotos ihres Sohnes hängen: Sie zeigen Eric Garner, der vor zweieinhalb Jahren von Polizisten zu Tode gewürgt wurde, weil er illegal Zigaretten verkaufte. Ein Mann, 43 Jahre alt, der wohl auch sterben musste, weil er schwarz war. „Ich wollte mich damals einfach nur in mein Bett legen und nie wieder aufwachen“, sagt Carr, als sie auf die Bilder blickt.

Gwen Carr blieb nicht liegen. Sie spürte eine Wut in sich. Eine Wut, die mittlerweile immer mehr Amerikaner packt. Gwen Carr ist zu einem der Gesichter einer Bewegung geworden, die längst nicht mehr nur für die Rechte von Schwarzen kämpft. Seit Donald Trump im Weißen Haus regiert, ist das ganze Land aus seiner Lethargie erwacht. 5,2 Millionen Amerikaner demonstrierten allein am Tag nach der Amtseinführung. Als Trump sein Einreiseverbot für Muslime aus sieben Ländern verkündete, strömten tausende Demonstranten spontan zu den großen Flughäfen. Jeden Tag gründen sich neue Protestorganisationen.

Garner wurde getötet, da war Obama der erste schwarze Präsident des Landes

Als Eric Garner umgebracht wurde, führte mit Barack Obama der erste schwarze Präsident die USA. Nun ist mit Trump einer gefolgt, der vom Ku-Klux-Klan beklatscht wird. „Da ist es doch meine Pflicht“, sagt Carr, „Trump zu bekämpfen.“ Selbst wenn sie dadurch im Gefängnis landet.

Carr berichtet so abgeklärt von ihrer Festnahme, als hätte sie das alles schon tausendmal erlebt. Wie Polizisten sie an einem Dienstag vor zwei Wochen aufgreifen, ihr Kabelbinder anlegen, sie einmal quer durch Manhattan zur Hauptwache des NYPD fahren. Wie sie Fotos von ihr machen, sie stundenlang warten lassen. Aufgeregt war sie nicht. Sie wusste ja, was man ihr zur Last legte: Zivilen Ungehorsam.

Rund 30 Demonstranten hatten sich an jenem Abend vor dem Trump-Tower an der Fifth Avenue in Midtown Manhattan versammelt. Es war der Tag, an dem Donald Trump seinen Kandidaten für den Supreme Court, das höchste Gericht der Vereinigten Staaten, präsentierte: Neil Gorsuch, ein rechtskonservativer Richter, der viel von Waffenrechten und wenig vom Abtreibungsrecht hält. Skandalös, fand Carr.

Organisiert wurde der Protest vom National Action Network, einer Bürgerrechtsorganisation, deren Mitglied Carr seit zwei Jahren ist. „Wir haben den Verkehr geblockt, und als uns die Beamten aufgefordert haben zu gehen, sind wir geblieben“, erzählt sie. Elf Demonstranten wurden abgeführt. Für Gwen Carr war es die erste Festnahme ihres Lebens.

„Die Polizei hat mich anständig behandelt“, sagt Carr. Sie muss das betonen. Festnahmen, das weiß sie, finden oft ein anderes Ende.

"I can't breathe" wurde zum Hilfeschrei der Black-Lives-Matter-Bewegung

Zweieinhalb Jahre ist es her, dass Gwen Carrs Sohn zum letzten Mal festgenommen wurde. Gut 30 Mal hatte ihn die Polizei mitgenommen, seit er ein Jugendlicher war. Als Eric Garner an jenem Nachmittag im Juli 2014 wieder einmal von den Beamten kontrolliert wurde, wirkte er deshalb vor allem eines: genervt. „Lasst mich in in Ruhe, das hier ist meine Angelegenheit“, sagte Garner, der seit ein paar Jahren unversteuerte Zigaretten auf der Straße verkaufte. Die Beamten ließen ihn nicht in Ruhe, sie rissen ihn im Würgegriff zu Boden, pressten seinen Kopf auf den Asphalt. Eine Stunde später war der Mann tot.

Weil ein Freund den Vorgang mit einem Handy gefilmt hatte, gingen Garners letzte Worte um die Welt: „I can't breathe“, röchelte der asthmakranke Mann elf Mal hintereinander. Es wurde zum Hilfeschrei der Black-Lives-Matter-Bewegung. Garners Tod entfachte Proteste von Los Angeles bis Washington D.C., plötzlich hielt auch Barack Obama Grundsatzreden über Rassismus. „Das ist ein amerikanisches Problem“, sagte der Präsident damals.

„Mein Sohn wäre noch am Leben, wenn er weiß gewesen wäre“, sagt Gwen Carr, die bis heute seine Medikamente in einer Holztruhe aufbewahrt. Im Wohnzimmer hängt ein Gemälde von ihm, das ihr ein Künstler geschenkt hat.

Der Fernseher läuft, Sonntagmittagstalk. Bürgerrechtsikone Jesse Jackson und die ABC-Moderatorin vergleichen die Protestbewegung von 1965 mit der Protestbewegung von heute. Gwen Carr sagt: „Die Leute, die dieses Land terrorisieren, sind keine muslimischen Flüchtlinge“, sagt Carr. Sie bedauert, so lange geschwiegen zu haben. „Trump will die Leute gegeneinander aufbringen. Wenn er so weitermacht, gibt es bald einen Bürgerkrieg.“

Tatsächlich scheinen die Vereinigten Staaten so unvereinigt wie selten. Fast täglich schockiert Trump die Welt mit einem neuen Gesetz, einer neuen Idee, einem neuen Tweet. Einer Umfrage zufolge fordern mittlerweile 40 Prozent der amerikanischen Wähler eine Amtsenthebung. Und Trump reagiert auf die wachsende Opposition mit neuen Drohungen. „Wir sehen uns vor Gericht!“, schrieb er in Großbuchstaben auf Twitter, nachdem sein „Muslim Ban“ gekippt worden war. Und Medien, die nicht in seinem Sinne berichten, wie „CNN“ und „New York Times“, bezeichnet er als „Fake News“.

Doch Trump weiß auch einen großen Teil des Landes hinter sich. Die Abgehängten, die vielen Millionen Menschen, die aus Wut auf die reichen Eliten in Washington Trump gewählt hatten, gibt es noch immer. Auch wenn Trump, der zwar als Außenseiter gestartet war, aber schon immer selbst das Establishment verkörperte und sich mittlerweile das wohlhabendste und elitärste Kabinett der jüngeren US-Geschichte zusammengestellt hat.

Gwen Carr gehörte zu den Abgehängten. „Ich habe mich zu lange nicht um Politik gekümmert. Bin zur Arbeit, nach Hause, zur Arbeit, nach Hause, war einfach viel zu passiv“, sagt Carr heute. Eine Stubenhockerin sei sie gewesen. „Ich war Teil des Problems. Ich hätte mich früher einmischen sollen.“ Doch zur Wahrheit gehört auch, dass sie in ihrem Leben lange andere Sorgen hatte als Politik.

Sie war 17 Jahre alt, als Martin Luther King, Jesse Jackson und die vielen anderen Aktivisten 1965 von Selma nach Montgomery marschierten. „Ich hatte Freunde im Süden und wenn die zu Besuch kamen, haben sie von den Demonstrationen erzählt. Aber es fühlte sich weit weg an“, sagt sie. 1970 kam Eric auf die Welt, ihr erster Sohn, der schon als Baby wegen Atemproblemen Monate im Krankenhaus verbrachte. „Er wollte Mechaniker werden, aber sein Asthma stand ihm im Weg.“ Carr musste sich neben ihren drei leiblichen Kindern auch um die drei Kinder ihres verstorbenen Bruders und um die drei Kinder ihres ersten Ehemanns kümmern. Als ihr Mann an einem Herzinfarkt starb, war Carr mit neun Kindern alleine. Die Familie wohnte damals noch in Downtown Brooklyn. „Im Haus war es immer ein bisschen zu eng“, erinnert sie sich. Ihr zweitältester Sohn Emery wurde mit 18 bei einem Raubüberfall ermordet.

Die Beschuldigten wurde nicht einmal angeklagt

Mitte der 90er Jahre zog die Familie nach Staten Island. Wann genau ihr Sohn Eric begann, Zigaretten zu verkaufen, kann die Mutter nicht mehr rekonstruieren. „Er hat sich mit verschiedenen Jobs durchgehangelt, um seine Familie zu ernähren“, sagt Carr. Sie selbst arbeitete 22 Jahre als Zugführerin für die New Yorker Subway. Als sie die Nachricht von der Festnahme ihres Sohnes bekam, machte sie gerade eine Pause zwischen zwei Fahrten. Zu Hause auf Staten Island angekommen, standen schon die Boulevardreporter vor ihrer Haustür.

Der Tod ihres Sohnes wurde zum Politikum und bis ins Detail zerlegt. Zeugen berichteten, dass der über 1,90 Meter große und 160 Kilogramm schwere Garner unmittelbar vor der Festnahme einen Streit zwischen zwei Bewohnern an der Bay Street geschlichtet hatte. Bekannt wurde auch, dass Daniel Pantaleo, der damals 29-jährige Polizist, der Garner würgte, in seiner Karriere bereits mehrfach von Bürgern wegen Fehlverhaltens verklagt worden war.

Als ein Geschworenengericht im Dezember 2014 verkündete, dass die beteiligten Polizisten nicht mal angeklagt werden, – ohne die Entscheidung zu begründen –, gingen innerhalb weniger Stunden in vielen Großstädten die Menschen auf die Straße, um zu protestieren. Basketballsuperstars wie LeBron James oder Kobe Bryant zogen sich T-Shirts mit dem Aufdruck „I can’t breathe“ über. Als Gwen Carr vor ein paar Wochen beim Woman’s March in Washington auf der Bühne stand, trug sie das gleiche Shirt.

Carr ist nicht die einzige Mutter, die den Tod eines Kindes politisiert

„Wir müssen Politikern mit unserer Stimme drohen“, sagt Carr. „Ich habe zu lange überhaupt nicht gewusst, dass ich eine Stimme habe.“

Dafür wird sie nun umso deutlicher gehört. Sie kann irritierend autoritär klingen, wenn sie jetzt ihre Mitmenschen auffordert, sich über Lokalpolitik zu informieren, sich in der Nachbarschaft zu engagieren, „die Hausaufgaben zu machen“. Eine Strenge, die zu ihrer Vergangenheitsbewältigung gehört. Jede Woche marschiert sie nun mit den anderen Mitgliedern des National Action Networks durch Manhattan. Sie hat Vorträge in etlichen Schulen gehalten. Und als der Wahlkampf zwischen Clinton und Trump immer bizarrer und bedenklicher wurde, verkündete Carr, dass sie von nun an für Hillary Clinton Werbung mache. „Sie hat sich bei mir gemeldet, und wir haben uns getroffen“, sagt Carr.

Sie ist nicht die einzige Mutter, die der Tod eines Kindes politisiert hat. Im Sommer 2016 trat sie mit sechs Frauen beim Parteitag der Demokraten auf. Sie wurden als die „Mütter der Bewegung“ bekannt. Dazu gehören unter anderem Lesley McSpadden, deren Sohn Michael Brown 2014 in Ferguson von einem Polizisten erschossen wurde, Geneva Reed-Veal, deren Tochter Sandra Bland 2015 wegen einer Ordnungswidrigkeit im Gefängnis landete und dort unter rätselhaften Umständen ums Leben kam, und auch Sybrina Fulton, deren 17-jähriger Sohn Trayvon Martin 2012 in Florida, auf dem Heimweg von einem Mitglied der örtlichen Bürgerwehr in die Brust geschossen wurde und starb. Der Schütze wurde freigesprochen.

Gwen Carr will sich nicht mehr entmutigen lassen

„Ich bin mit vielen dieser Mütter befreundet“, sagt Carr. Erst vergangenes Wochenende besuchte sie Sybrina Fulton in Florida, um an einer Benefizveranstaltung für die Familie teilzunehmen. Als Nächstes reist sie nach Oakland, wo vor acht Jahren der 22-jährige Oscar Grant von einem Polizisten erschossen wurde. „Es wäre Oscars 30. Geburtstag, deshalb möchte ich bei seiner Mutter sein“, sagt Carr. Beide Männer waren unbewaffnet, als sie getötet wurden. Genau wie Garner.

Das US-Justizministerium hatte 2014 eine unabhängige Untersuchung von Garners Tod angekündigt, doch Gwen Carrs Hoffnung, dass es endlich Aufklärung geben könnte, hat sich mittlerweile zerschlagen. Im vergangenen November verfasste sie einen Brief an Justizministerin Loretta Lynch. „Bitte hören Sie meinen Appell, bitte lassen Sie die Worte meines Sohnes und unsere Tränen nicht umsonst sein“, schrieb Carr und forderte endlich ein Resultat der Untersuchung. Eine Antwort hat sie bis heute nicht.

Seit einigen Tagen nun ist Jeff Sessions neuer Justizminister, der Ex-Senator von Alabama, der unter den rechten Hardlinern als rechter Hardliner gilt. Ein Mann, der in den 80er Jahren bei dem Versuch scheiterte, Bundesrichter zu werden, weil ihm Sympathien zum Ku-Klux-Klan nachgesagt wurden.

„Wir müssen konstant dagegenhalten, sonst normalisiert sich Trump“, sagt Carr. Nächste Woche wird sie wieder auf der Straße sein. Sie will sich nicht mehr entmutigen lassen, keine Angst mehr haben. „Gerechtigkeit für meinen Sohn gibt es sowieso nicht“, sagt Gwen Carr. Sie kämpft jetzt für andere.

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