US-Sanktionen gegen Sassnitz: Wie eine deutsche Kleinstadt in den Kampf der Großmächte geriet
Sassnitz gegen Goliath: Die USA drohen dem deutschen Küstenstädtchen mit „Vernichtung“. Wegen der Gaspipeline Nord Stream 2. Ein Ortsbesuch.
Als der Bürgermeister am Alten Kühlhaus aus dem Wagen steigt, sieht er eine Bekannte mit ihrer Familie vorübergehen. „Was machen Sie denn hier am Hafen?“, fragt Frank Kracht sichtlich erstaunt.
Die Sassnitzerin hebt entschuldigend die Schultern: „Wenn ich nicht nach Amerika kann!“
So viel zur abschreckenden Wirkung von Sanktionen. Es ist ein heißer Samstagmittag, der Wind streicht vom Meer aus über das Land. Und in Sassnitz hat es nur einen Tag gedauert, um aus einer Drohung der USA einen Witz zu machen.
Lustig ist die Angelegenheit indes nicht, mit der sich das 10.000-Einwohner-Städtchen im äußersten Nordosten Rügens konfrontiert sieht. In einem Brief, datiert auf den 5. August 2020, sprechen drei US-Senatoren als Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses eine unmissverständliche Warnung aus. Sollte es die Sassnitz Fährhafen GmbH weiterhin erlauben, dass Schiffe für das Nord-Stream-2-Projekt von ihr ausgerüstet und zum Weiterarbeiten befähigt würden, habe sie Sanktionen mit „fatalen Folgen“ zu befürchten. Der Hafen, seine Mitarbeiter sowie sämtliche Anteilseigner würden wirtschaftlich von den USA abgeschnitten.
Das würde, so die Senatoren weiter, auf die unmittelbare ökonomische Vernichtung hinauslaufen. Sie schließen ihre namentlich an den Geschäftsführer der GmbH und dessen Justiziar adressierte „formal legal notice“ mit dem Hinweis, dass die beiden Herren auf „Aktionärsklagen in Milliardenhöhe für die Verletzung ihrer Treuhänderpflicht“ gefasst sein müssten.
Aktionärsklagen? Bei einem kommunalen Unternehmen?
Während die Fährhafen GmbH sich zu dem Brief nicht äußert, offiziell nicht mal bestätigt, ihn überhaupt erhalten zu haben, steigt Frank Kracht im Alten Kühlhaus die Treppenstufen ins Hafenamt hinauf. In einem der oberen Geschosse des den Stadthafen überragenden Gebäudes nimmt er an einem langen Konferenztisch Platz. Das Meer, dem er den Rücken zukehrt, glitzert weiß in der Sonne. Undeutlich ist von hier aus im Dunst das andere Ende der Bucht zu erkennen sowie der weiter südlich gelegene Mukran Port, der den Argwohn der Amerikaner erregt.
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Sassnitz hat das Privileg von zwei Häfen, beide gehören der Stadt, was den 53 Jahre alten, großgewachsenen Mann mit kurzen Haaren und einer modischen Brille automatisch im Aufsichtsrat der Betreibergesellschaft Fährhafen GmbH sitzen lässt. Kracht vertritt 90 Prozent der Gesellschafteranteile am Fährhafen. Zehn Prozent hält das Land Mecklenburg-Vorpommern.
Ob ihm da nicht mulmig werde? Der kleine Bürgermeister allein gegen eine Supermacht?
Da strafft sich Krachts wuchtiger Körper. Es gebe in Deutschland immer noch „das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung“, sagt er. „Wir lassen uns von niemandem vorschreiben, welche Schiffe wir in unserem Hafen anlegen lassen.“
Es hört sich an, als glaube er in diesem Augenblick wirklich, dass der US-Präsident nicht mehr Macht als ein einfacher Bürgermeister besitze.
"Da stehe ich drüber."
Für ihn, Kracht, ist der gegenwärtige Ärger ein Nebeneffekt der Globalisierung. Sie rufe eben selbstherrliche Persönlichkeiten auf den Plan, die bestimmen wollten, was in der Welt passiere. Jedoch, was soll er sich beklagen? Er ist Nutznießer derselben Globalisierung. Es gäbe die Stadt Sassnitz heute nicht, wenn nicht Fische in so großer Zahl quasi vor der Haustür vorübergezogen wären, dass sich die DDR entschloss, hier eine Fangflotte anzusiedeln. Und Fische, wie man weiß, sind globale Wesen par excellence.
Auf 17.000 Einwohner wuchs Sassnitz bis zur Wende an, weshalb Frank Kracht von seinem Geburtsort mit seinen weiß getünchten Urlaubsresidenzen und pittoresken Villen gerne als „Arbeiterstadt“ spricht.
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Von der Fischerei, die dem Ort 1957 Stadtrecht bescherte, ist nicht mehr viel übrig. Doch Sassnitz baute sich mit Fährverbindungen nach Bornholm und Südschweden ein neues Standbein auf. Und dann sind da immer noch die Touristen, die an einem Tag wie diesem zahlreich über Steine ins Meer klettern.
„Da stehe ich also drüber“, sagt Kracht mit Blick auf den Drohbrief.
Trotzdem regt ihn auf, „Gipfel der Unverfrorenheit“, dass sich erstmals in dem seit Jahren schwelenden Konflikt Strafen gegen Personen richteten, die gegen keinerlei Gesetz verstießen, sondern nur ihren Job täten. Das gehe beim Wachmann im Hafen los und höre bei der Sekretärin des Geschäftsführers auf. Was könnten die 70 Mitarbeiter dafür, dass Amerika eine Pipeline verhindern wolle?
Wahrscheinlich nehme man sie in dem Kampf um geopolitischen Einfluss gar nicht wahr, vermutet Kracht. Die Amerikaner wollten ein Licht austreten, und die Sassnitzer seien nur Funken im Wind.
Einmal hat es funktioniert
Am 18. Dezember vergangenen Jahres hatte US-Senator Ted Cruz schon einmal einen Brief in Sachen Nord Stream 2 verschickt. Damals forderte der Republikaner aus Texas den Chef der Reederei Allseas mit Sitz in der Schweiz auf, sich aus dem Pipeline-Projekt zurückzuziehen. Der National Defense Authorization Act gebiete es: „Sie haben keine Wahl, als die Arbeiten an der Pipeline unverzüglich einzustellen.“
Der niederländische Reeder Edward Heerema, der Allseas als Flotte von monströsen Spezialschiffen für das Ölgeschäft aufgebaut und zum Marktführer gemacht hatte, sah sein Lebenswerk in Gefahr und beugte sich der Drohung. Die mit dem Verlegen der Pipeline in der Ostsee befassten „Pioneering Spirit“ und „Solitaire“ wurden abgezogen. Seither ruhen die Arbeiten. 160 Kilometer der Unterseetrasse blieben unvollendet. Das entspricht etwa sechs Prozent der Gesamtstrecke.
Allseas war leicht zu beeindrucken. Ihre Spezialschiffe werden durch internationale Fonds finanziert. Allein die Androhung, die Firma vom US-Finanzmarkt auszuschließen, hätte Anleger auf der ganzen Welt genötigt, sich zurückzuziehen. Hinzu kommt, dass der Öl-Markt in den USA für Allseas wichtig ist. Die Firma war dort in den vergangenen Jahren zwar nur wenig aktiv, doch der Einfluss der US-Regierung auf die Vergabe von Aufträgen in der arabischen Golf-Region, wo in naher Zukunft große Pipelinetrassen entstehen, erhöht den Druck.
Es dauerte eine Weile, bis das einzige verfügbare russische Ersatzfahrzeug, die „Akademik Cherskiy“, vor Ort eintraf. Da es eine andere als die bereits genehmigte Technik zur Verankerung der Röhren auf dem Meeresboden benutzt, mussten die dänischen Behörden, durch deren Terrain die Pipeline bei Bornholm verläuft, ihre Zusage erneuern. Auch das zog sich hin.
Um etwaiger Gegenwehr der USA vorzubeugen, hat der Gazprom-Konzern die „Akademik Cherskiy“ aus seiner Flotte ausgegliedert und an einen Samara Thermal Energy Property Fund verkauft. Der ist zwar Teil des verzweigten Gazprom-Imperiums, wäre aber wohl gegen US-Sanktionen immun, weil die Anteile an ihm schnell weiterveräußert werden könnten.
Die USA rechtfertigen ihren Widerstand mit nationalen Sicherheitsinteressen. Präsident Trump formulierte es in einem ersten Wahlkampfauftritt so: „Wir sollen Deutschland vor Russland beschützen. Aber Deutschland zahlt Russland Milliarden Dollar für Energie, die aus einer Pipeline kommt, einer brandneuen Pipeline.“ Aus einer Passage des entsprechenden Sicherheitsgesetzes geht hervor, dass ein weiteres Ziel sei, „dem Export von US-Energieressourcen den Vorrang zu geben, um amerikanische Jobs zu schaffen“.
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Handelt es sich also um eine „wirtschaftliche Kriegserklärung“, wie der Grünen-Politiker Jürgen Trittin meint?
Nach Erhalt des Briefs der Senatoren wandte sich Kracht nach Berlin, an die diplomatischen Profis. Man möge ihm erklären, „ist das ernstzunehmen?“ Was solle er den Bürgern sagen? Er fragt sich: „Was macht das mit uns in Sassnitz, wenn einer in den USA die Stimme erhebt und sagt, ‚Ich mache euch kaputt‘?“
An seiner Stelle, so hat man ihm seitens der Landesregierung bedeutet, solle er derzeit von Reisen in die USA absehen. Okay. Hatte er auch nicht vor. Aber was ist mit den Freiflächen, die die Stadt am Hafen entwickeln will? Dafür bräuchte sie Geld. Die alte Fährverbindung nach Schweden soll durch eine neue ersetzt werden. Jetzt möchten Anbieter wissen, wie er, Kracht, sich im Fall von Sanktionen verhält.
Gas bekommen, Macht abgeben. Ist das die russische Rechnung?
Auch unter den europäischen Staaten ist das Nord-Stream-2-Projekt nicht unumstritten. Da es Russland erlaubt, Erdgas direkt nach Europa zu liefern, ohne Transitgebühren an Drittstaaten wie die Ukraine oder Polen zu entrichten, fürchten Kritiker, dass Putin seine Rohstoffe benutzt, um die geopolitische Vormacht Russlands auszubauen.
Darauf hat die EU 2019 mit einer Verschärfung des Energiegesetzes reagiert. EU-fremden Energielieferanten ist es nicht mehr gestattet, gleichzeitig auch als Betreiber einer Pipeline aufzutreten. Die ,Lex Gazprom‘ begrenzt den Einfluss des russischen Energiekonzerns, da es einer europäisch kontrollierten Zwischeninstanz bedarf, um Tarife und Absatzmengen auszuhandeln.
Das stelle eine empfindliche Minderung der Marktmacht dar, die Gazprom angestrebt habe, heißt es in einer „Forbes“-Analyse. Längst drängten weitere Anbieter auf den EU-Markt: „Die Notwendigkeit, um Konsumenten konkurrieren zu müssen, wird die russischen Gaspreise stärker den Kräften des Marktes unterwerfen als Russlands dominante Position als Lieferant widerspiegeln.“
Mit anderen Worten: Jede Verzögerung bis zur Inbetriebnahme von Nord Stream 2 reduziert russische Profite.
Gleise über die Ostsee legen.
In gewisser Weise wiederholt sich in Sassnitz das altbekannte Spiel. Der Ort hätte 1986 keinen zusätzlichen Hafen bekommen, wenn die Sowjetunion mit dem Erstarken der polnischen Solidarnosc-Bewegung nicht um ihre Transportsicherheit hätte fürchten müssen. Polen war zu unsicher.
Deshalb haben sie jetzt im Mukran Port noch immer Gleise in den Maßen der russischen Breitspur liegen. Sassnitz sei das westlichste Ende der Transsibirischen Eisenbahn gewesen, meint Frank Kracht. Es überrascht da vielleicht nicht zu erfahren, dass Kracht daran arbeitet, auch das westliche Ende der Seidenstraße zu werden. Jedenfalls bietet der Hafen heute regelmäßige Güterverbindungen nach Baltijsk in der russischen Enklave an, wo ein Arm des chinesischen Seidenstraßen-Projekts endet. „Wir bringen die Schiene auf die Ostsee“, lautet Krachts Motto.
Das Amt des Bürgermeisters bekleidet der Parteilose, der der Linken nahesteht, seit Dezember 2015. Schon unter seinem Vorgänger sei Mukran von einem reinen Fähr- zu einem Multifunktionshafen ausgebaut worden. Es gibt zahlreiche industrielle Ansiedelungen auf dem Gelände.
Für die Trawlerflotte etwa, die einen Großteil der deutschen Heringsfangquoten abfischt. Für Windanlagen-Betreiber, die von Mukran aus ihre Offshore-Parks versorgen. Betonteile für die Kopenhagener U-Bahn wurden hier gefertigt und die Pipelineröhren mit Beton ummantelt. Die Arbeiten für Nord Stream 2 hat das Unternehmen abgeschlossen. Tausende fertige Rohre liegen bereit zur Montage. Mukran dient als Logistikzentrum für Gazprom.
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Mehrfach in seinem Leben hat der frühere Marineoffizier der NVA Kracht nach vorne blicken müssen, weil etwas bitter und plötzlich zu Ende ging. Er wurde nach der Wende von der Bundesmarine nicht übernommen, sein Studium der Elektrotechnik nicht anerkannt. Seine erste Frau starb bei einem Autounfall, da stand er mit seinem zweijährigen Kind alleine da. Er baute ein Unternehmen auf, verließ es für die Politik, und hatte in letzter Zeit zu viel mit den Folgen der Corona-Pandemie zu tun, um sich Sorgen über mögliche Sanktionen zu machen.
Der neuralgische Punkt
Vielen Europäern sei nicht bewusst, „was auf sie zukommt“, sagt Sascha Lohmann von der Stiftung Wissenschaft und Politik, der dort intensiv zu Sanktionen in der US-Außenpolitik forscht und berät. Wenn das Auftreten dreier US-Senatoren aus deutscher Sicht auch befremdlich wirken mag, so berechtige sie die amerikanische Verfassung dazu, sagt der Politikwissenschaftler.
Der Kongress habe die alleinige Kompetenz in Fragen des Außenwirtschaftsverkehrs, deshalb begreife sich jeder der 100 Senatoren als eigener Außenminister. Die Blockade gegenüber Nord Stream 2 ging denn auch auf die Initiative des Kongresses zurück. Die Trump-Administration hat sie bislang eher widerwillig umgesetzt.
Interessant findet Lohmann in diesem Fall, wie schlampig der Brief der Senatoren Cruz, Johnson und Cotton formuliert ist. Er werfe Sanktionen in einen Topf, die ganz unterschiedlich wirkten. Einige seien schon gebilligt, andere noch gar nicht vorbereitet, und dann gibt es welche, die erst Ende 2020 in Kraft treten könnten. Etwa das Verbot, die Pipeline in mehr als 30 Meter Wassertiefe zu verlegen. Wenn man es also schaffte, die Trasse durch flachere Gewässer zu führen, täte man dem Gesetz genüge.
„Der neuralgische Punkt solcher Sanktionen ist die Finanzwirtschaft“, sagt Lohmann. Gegen das Risiko-Szenario einer strafenden Supermacht gebe es keinen politischen Schutzschirm. Auf das Verhalten heimischer Banken haben Regierungen kaum Einfluss, egal wie energisch Landesherrin Manuela Schwesig sich gegen die Einmischung der USA verwahrt. Bürgermeister Kracht sollte sich Sorgen machen, meint Lohmann.
Wo ist Sassnitz da bloß hineingeraten?
Der Besuch von Jugendlichen aus Port Washington am Michigan-See, der amerikanischen Partnerstadt, musste in diesem Jahr coronabedingt ausfallen. Sie sollten im Naturpark auf Rügen arbeiten. Ob der Austausch nächstes Jahr stattfinden kann, kann Kracht nicht sagen. Das letzte Telefonat hat vor sechs Wochen stattgefunden. Er weiß nicht, was er dem anderen Bürgermeister gerade sagen soll.