Nacht der Solidarität in Berlin: Was das Zählen von Obdachlosen einen lehren kann
Wo würde man selbst in der Kälte übernachten? Was bedeuten die Pfandflaschen? Bei der Zählung von Obdachlosen verändert sich die Perspektive auf Berlin.
Und dann ein feuchter Trampelpfad, der schräg ins dunkle Nirgendwo zu führen scheint. Weiter oben endet unerwartet ein Zaun, und da hinten rechts unter Bäumen liegt ein Haufen, der wie Müll aussieht aber zugleich zu absichtlich wirkt und erst beim Näherkommen auch die Rückseite einer möglichen Behausung sein könnte.
„Hallo, ist jemand da?“ Auf der abgewandten Seite spreizt sich aus dem Haufen Plastik eine Plane, als Vorzelt mit Wäscheleinen abgespannt. Darunter ein weißer Plastiktisch und einige Bürodrehstühle. Keine Antwort. Keine Bewegung. Kein Licht. Und kein Rascheln. Der Eingang vertäut.
Hier stehen wir sechs freiwilligen Helfer der ersten Berliner Obdachlosenzählung im Dunkel und bewegen uns nicht, damit unsere blauen Plastikwesten mit dem Aufdruck „Nacht der Solidarität“ nicht so knistern und wir ein Geräusch hören können, das eventuell von einem bewegten Schlafsack unter diesen vielen Sorten Plastik herrührt. Aber es ist vollkommen unmöglich, irgendein Rascheln zu hören, weil das Tosen des Verkehrs von der unwirtlichen Schnellstraße jenseits der Böschung zu laut ist. Der Verkehr brüllt aus dieser Stadt namens Berlin heraus, die von hier aus gar nicht mehr zu sehen und in jeder Hinsicht ganz weit weg ist.
Würde man die Anwesenheit eines anderen Menschen einfach spüren? Wenn wir es wären, die hier in diesem Zelt liegen würden, da sind wir sicher, würde keiner von uns jetzt einen Mucks tun.
Aber ganz offensichtlich liegen wir nicht darin. Wir sind sechs ehrenamtliche Helfer in ihren dicksten Daunenjacken und Skiunterwäsche, die vor einer halben Stunde viel zu warm angezogen und verschwitzt aus einem Zählbüro im bürgerlichen Tempelhof aufgebrochen sind, gewappnet wie für eine Expedition mit Thermoskanne, Klemmbrett und Ermutigungen. In der gleichen Stadt, die wir sonst, am gleichen Abend und zu einem anderen Zweck mit Turnschuhen und ohne Schal betreten hätten.
Halb abgefackelter Müll, durchweichte Textilien
Aber es ist nicht mehr die gleiche Stadt. Hier hat sich jemand einen privaten Raum aus einem eigentlich unzugänglichen Zwischengeschoss geschaffen, mit der Absicht, nicht gefunden zu werden. Dies ist nicht der Bahnhof Zoo, wo man sich an alles gewöhnt hat. Hier hat sich plötzlich ein Spalt aufgetan voller Überreste der Zivilisation. Außer den Bewohnern sieht niemand in diesem Canyon voll tosenden Lärms den halb abgefackelten Müll, die Scherben, die unkenntlichen Reste durchweichter Textilien, die für jemanden doch noch ein Zuhause bilden.
Denn sorgfältig hängt eine Baumwolltasche mit Pfandflaschen an einem Haken vor dem Zelt. Die guten, für die es 25 Cent gibt. Diese Sorgfalt trennt das Menschliche vom Nichts. Hätte der letzte Bewohner diesen Ort für immer verlassen, hätte er die Pfandflaschen mitgenommen. Würden andere diesen Ort kennen, wäre die pralle Tasche voller erstklassiger Pfandflaschen als erstes verschwunden. Es ist erst zwanzig nach zehn, womöglich ist es einfach noch zu früh und die Bewohner sind noch unterwegs. Wer immer hier wohnt, er wird nicht in die Statistik eingehen.
Wir drehen um und gehen den Trampelpfad zurück in die Welt, die wir kennen. Eine S-Bahn-Station, das Geschnatter eines vollen Waggons an einem normalen Berliner Mittwochabend, an dem die sechs schweigenden Menschen mit den blauen Westen einen Fremdkörper bilden. In den Händen die laminierte A3-Karte unseres Gebietes, das wir nicht verlassen dürfen, damit niemand doppelt gezählt wird.
Wir sind sechs von 2601 ehrenamtlichen Helfern und bilden eines der 615 Zählteams, die sich ganz Berlin aufgeteilt und vor zwei Stunden kennengelernt haben: Eine Unternehmensberaterin, eine Pädagogin, eine katholische Studentin der Sozialen Arbeit, eine Verwaltungsangestellte, ein Doktorand der Elektrotechnik – und eine Journalistin.
Für Journalisten ist es eigentlich verboten, die Zählung zu begleiten. Jedenfalls dann, wenn sie sich währenddessen wie Journalisten verhalten, nur Beobachter sind, Fotos machen und Leute befragen. Wer sich jedoch als als privater Helfer angemeldet hat, darf hinterher davon auch berichten. Vorausgesetzt, man hält sich an die Erklärung, die man vorher unterschrieben hat: keine Fotos, und keine Orte erkennbar machen, an denen Obdachlose schlafen, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Denn Obdachlose werden bedroht und bestohlen, vor ein paar Wochen wurde wieder einem im Vorraum einer Bank ein Hosenbein angezündet.
Obdachlos? Selbst schuld! - Das gilt nicht mehr
Obdachlosenzählungen sind ein junges Genre. Es gab welche in New York und Buenos Aires und seit drei Jahren in Paris. Anfang November sitzt Susanne Gerull im vierten Stock der Alice-Salomon-Hochschule in Marzahn in ihrem kleinen, aufgeräumten Büro. Die Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, Schwerpunkte Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und niedrigschwellige Sozialarbeit, spricht immer von „Wohnungslosen“, nie von „Obdachlosen“. Auf jeden Fall aber ist etwas „lose“. Ihnen fehlt etwas.
Wenn man nur einen einzigen Begriff für Gerulls Erscheinung benutzen dürfte, so wäre das: Sorgfalt. Gerull rührt löslichen Nescafé in zwei Tassen. Früher habe die Auffassung geherrscht: Obdachlos? Selbst schuld. Inzwischen wisse man sehr wohl, dass viele Faktoren dazu führen können, dass jemand auf der Straße landet. Auch Akademiker sind darunter und solche, die einmal gut bezahlt waren.
Und weil die Mieten steigen, betrifft das Problem immer mehr Menschen, schon fühlt sich die Mittelschicht gefährdet. Obdachlose sind längst ein Bestseller-Thema, zuletzt für die Trilogie „Das Leben des Vernon Subutex“ der Französin Virginie Despentes, in der ein etablierter Pariser Plattenhändler alles verliert und erschreckend widerstandslos auf der Straße landet. Dieses Milieu beschrieben zu haben, gilt in Frankreich nicht mehr als Roman über Außenseiter, sondern als „großer Gesellschaftsroman“, gefeiert für seine Wahrhaftigkeit.
Susanne Gerull ist der Meinung, wer hier Erkenntnisse hat, „hat automatisch auch ein politisches Mandat, zu helfen“, also diese Erkenntnisse umzusetzen. Und deshalb sieht es nun so aus, als liefe ihre gesamte Biografie schnurgerade auf die Konzeption dieser Zählung zu.
Susanne Gerull hat im letzten Jahr an der Obdachlosenzählung in Paris teilgenommen. Paris dient als Vorbild für Berlin, bis hin zum Namen: „Nacht der Solidarität“. Auch in Paris zählen Freiwillige, wenn auch nur halb so viele wie in Berlin. Als Gerull im Berlin der 60er Jahre geboren wurde, nahm sie zuerst überhaupt keine Menschen ohne Wohnung wahr. Das Problem war nicht sichtbar, „Obdachlose wurden von der Polizei von der Straße geholt“. Erst Ende der Siebziger habe sich die Politik geändert, gab es die ersten Notübernachtungen, Wärmestuben und Wohnungslosentagesstätten.
Susanne Gerull startete mit dem unabdingbaren Gerechtigkeitsgefühl der Kinder. Auf ihrer Grundschule waren sie: gemischt. Persische, türkische, geschlagene und arme Kinder. Man sammelte Spielzeug „fürs Waisenhaus“. Zuhause, sagt sie, wurde immer diskutiert, was „gerecht“ ist. Und am Abend klappten sich ihre Eltern dann im Wohnzimmer ihrer 1,5-Zimmer-Wohnung das Sofa auf, damit die vier Kinder ein eigenes Zimmer haben konnten.
Als die erwachsene Frau Professor Doktor Susanne Gerull vor zwei Jahren zum ersten Mal die Lehrveranstaltung „Wohnungslos in Berlin“ anbot, fürchtete sie, es würde niemand kommen: der Forschungsgegenstand zu abstoßend, die Hemmschwellen zu groß. Doch die Studenten rannten ihr die Bude ein: sie hätten bemerkt, wie viele Obdachlose es in der Stadt plötzlich gebe. Täglich, erzählte eine, müsse sie über Menschen vor ihrer eigenen Haustür hinwegsteigen. Zugleich werden die Wohnungen umkämpfter. Einige ihrer Studenten erzählten von Erfahrung mit Arbeitslosigkeit oder davon, wie es ist, sich von Nacht zu Nacht bei Freunden von einer Couch zur anderen zu hangeln.
Gerull war beeindruckt. Die Studenten interessierten sich für das Thema nicht, weil es so exotisch war, sondern weil sie es kannten. Es war ihnen nah – manchmal bedrohlich nahe.
Ist das Alleinsein die Gefahr oder die Gesellschaft?
Die Schätzungen liegen zwischen 5000 und 10.000 Obdachlosen in Berlin, genaue Zahlen hat niemand. Bis heute. 4 Grad, Nieselregen. Die Befragung läuft von 22 bis 1 Uhr in der Nacht. Die Fragebögen sind laminiert, als hätte man es geahnt. Die Gefahr, heute einen betrunkenen Touristen mit einem Obdachlosen zu verwechseln, hält sich Grenzen.
Rechts rollt der Verkehr, links streckt sich eine Grünfläche. Unwillkürlich, da kann man sich gar nicht gegen wehren, findet in der Gruppe der Perspektivwechsel statt: Wo würden wir übernachten? Welcher Platz wäre geeignet? Lieber ein lauter, beleuchteter oder ein stiller, uneinsehbarer? Ist das Alleinsein die Gefahr oder die Gesellschaft? Wir schauen in die Ecken, als bräuchten wir gleich hier einen Schlafplatz.
Die Unternehmensberaterin im Team macht etwa zwei Mal im Jahr an einem Projekt mit. Sie hat für Forsa Wähler befragt und Bäume gepflanzt, nachdem im Sommer 2018 in Treuenbrietzen so viel Wald abgebrannt war. Sie tut das, weil sie es kann. Weil sie etwas lernt. Und weil etwas besser wird.
Eine Woche vor der Zählung. Der Kantinengeruch hängt schwer im Foyer der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Irgendwas mit Kohl. Aber im sechsten Stock unterm Dach herrscht aufgekratzte Start-Up-Atmosphäre um das junge, fünfköpfige Team um Klaus-Peter Licht, Projektleiter. Aufgerissene Kekspackungen, nachlässig verteilte Blumen, Flipcharts und Zettel. „Es ist die Logistikhölle“, sagt Licht und strahlt. Gerade erst sind 3000 Westen angekommen, blau wie die Farbe der Kältehilfe. Die Blauen sind die Guten! 3725 Freiwillige hatten sich angemeldet, mehr, als sie sich erhofft hatten.
In einem knappen halben Jahr hat das kleine Team die Zählung konzipiert. Zuerst druckte man sich einmal ganz Berlin aus, in 250 A3-Bögen. Darin vermerkten sie jede einzelne Parkbank, jeden Bankvorraum, Supermarkt und Unterstand, jede U-Bahn-Station als Hinweise für die Zählteams. Dann spielten sie jede nur erdenkliche Situation durch, in die die Helfer in der Nacht geraten könnten. Und irgendwo, wenn auch nicht überall, werden diese Situationen eingetreten sein: Aggressionen, Tiere, Scham und innere Konflikte.
Wie damit umgehen, wenn man Kinder findet, Minderjährige? Soll man da die Polizei rufen? „Da sind sich auch die Fachleute nicht einig“, sagt Licht. Rechtlich müsse man die Polizei rufen. Andererseits: „Wenn man das einmal macht, verschwinden sie. Danach erreicht man sie gar nicht mehr.“ Licht vermeidet deshalb eine Direktive. „Handeln Sie so, wie sie auch als Privatperson handeln würden“, sagte er. „Sie sind erwachsen.“
In diesem Sinne wurden 600 Teamleiter geschult.
Und so wird sich das Ergebnis der Zählung aus tausenden Einzelentscheidungen von Leuten zusammensetzen, die alle ihrem Gewissen verpflichtet und mit ihren eigenen Maßstäben konfrontiert waren: Wann ist eine Situation zu gefährlich, um zu bleiben? In welchem Zustand spricht man Leute an? „Nicht wecken!“ ist eine der Regeln. Keine Zelte betreten, keinen Körperkontakt. Nicht mit Taschenlampen blenden und das Alter nie schätzen: Obdachlose sehen meist älter aus, als sie sind. Auch bei Leuten mit Bart nicht davon ausgehen, dass sie männlich sind! Das letzte Wort hat im Zweifel der Teamleiter. Der darf auch Teilnehmer hinauswerfen, die ihr Handy zücken oder abfällige Bemerkungen machen.
Eines der Szenarien ist, dass man auf überhaupt gar keine Obdachlosen trifft. Denn Berlin wird flächendeckend abgesucht, es werde zwangsläufig fundlose Teams geben. Sie sollten dann nicht enttäuscht sein. „Das ist nicht wie beim Pilzesammeln“, sagt Licht. Man müsse vermitteln, dass es ein gutes Zeichen ist, keine Obdachlosen zu finden.
Paare schlafen draußen, weil sie sich sonst trennen müssten
Klaus-Peter Licht hat 2015 die ehrenamtliche Hilfe für die Geflüchteten koordiniert, er traut Freiwilligen eine Menge zu. Er hat gesehen, wie sie von einem Tag auf den anderen eine überfüllte Turnhalle managen konnten. Sein Projektteam hat schon Thesen herausgearbeitet, indem seine Mitarbeiter mit den Sozialarbeitern vor Ort gesprochen haben, die sehr genau wussten, wo bei ihnen regelmäßig Obdachlose zu finden sind. Wo die Deutschen sitzen und wo die Rumänen. Zum Beispiel zeichne sich ab, dass die Annahme, Obdachlose würden sich im Prinzip nur innerhalb des S-Bahn-Rings aufhalten, kaum zu halten sein wird. Auch in den Außenbezirken werde man fündig werden.
Wahrscheinlich leben mehr Frauen auf der Straße, als immer angenommen. Und von allen Seiten wird gemeldet, dass die Zahl der Behinderten zugenommen hat, für deren Rollstühle es kaum passende Einrichtungen gibt. Außerdem hörten sie, dass viele Paare auf der Straße leben, die nur deshalb nicht in Notunterkünfte gehen, weil sie sich da nach Männer- und Frauenunterkünften trennen müssten.
Wenn man an diesem Punkt aufhören, die Zählung gar nicht mehr durchführen würde, man wüsste schon jetzt mehr, als jemals zuvor. Weil man das ganze, vereinzelte Wissen, das in den Stadtteilen vorhanden ist, einmal zusammengeführt hat.
Aber die Zählung wird nicht abgeblasen. Sie geht noch bis ein Uhr nachts.
Auch wer kein Haus hat, kann ein Haustier haben
In der S-Bahn werden wir befragt, was wir hier denn genau machen würden? Was das bringe? Und wir berichten über alles, was heute zählt: welchen Geschlechts Obdachlose sind, welchen Alters, wer mit wem in welcher Konstellation lebt, auch die Haustiere wollen wir zählen, und nicht nur Hunde. Denn es sei, sagen wir, merkwürdigerweise möglich, kein Haus, und doch ein Haustier zu haben.
Es scheint irgendwie schräg: Wir sind es, die Obdachlose ansprechen sollten, doch jetzt müssen dauernd wir Fragen beantworten. Aber vermutlich ist das genau so im Sinne des Erfinders Klaus-Peter Licht, der will, dass die Zivilgesellschaft miteinander über dieses Thema ins Gespräch kommt.
Licht war in den vergangene Wochen auf unzähligen Podiumsdiskussionen von Nachbarschaftszentren, er saß auch mit Obdachlosen an einem Tisch und mit Anwohnern. Die häufigste Frage: Was bringt es, wenn man Obdachlose zählt? Tut man ihnen damit etwas Gutes? Welche Macht hat eine Zahl?
„Ich bin Radfahrer“, sagt Licht. Täglich fährt er aus Biesdorf 14 Kilometer zur Arbeit in der Oranienstraße, zu Elke Breitenbachs Behörde. Letztes Jahr zeigte ihm sein Tacho an, dass er einmal um die Erde gefahren war: 40.075 Kilometer. 90 Prozent davon Berliner Kilometer!
Erst Zahlen machen die Politik handlungsfähig
Licht liebt diese Fahrten nach der Arbeit, die Oranienburger raus, dann an der Rummelsburger Bucht entlang, die Umgebung wird immer ruhiger und er selber auch. Wenn er sich fragt, was Verkehrszählungen bringen, weiß er sehr schnell, dass mit den Ergebnissen idealerweise gefährliche Kreuzungen entschärft und Radwege angelegt werden. Erst verlässliche Zahlen machen Politik handlungsfähig.
Wir sind am nördlichen Rand des Tempelhofer Feldes unterwegs. Laut Plan nur zuständig für die unbebaute Straßenseite des Feldes. Doch eine auf unserer Karte eingezeichnete Route ist nicht betretbar und mit einem Tor verriegelt. Es ist erst 22.53 Uhr, als wir begreifen, dass unsere Aufgabe hier schon zu Ende ist. Wir dürfen nur genau die Strecke gehen, die auf unserem Kartenpuzzlestück eingezeichnet ist. Über das versperrte Tempelhofer Feld kommt man nicht. Wir sind tatsächlich keinem einzigen Obdachlosen begegnet. Der Wind reißt in den Haaren. Erst am 7. Februar werden wir wissen, was für ein Bild das gesamte Puzzle ergibt.