Nach der Landtagswahl: Was das Ergebnis an der Saar für die Bundestagswahl bedeutet
Die Landtagswahlen 2017 gelten als Test für die große Schlacht im Herbst. Es geht auch um die Aussichten der Kanzlerin und ihres Herausforderers.
Bei flüchtigem Hinsehen ist es beinahe wie immer. Nur dass Martin Schulz diesmal einen Tick zu schnell zum Rednerpult eilt; mit kurzen Schritten schießt der SPD-Chef derart durch das Foyer im Willy-Brandt-Haus, dass die anderen gar nicht nachkommen. Und mit dem Jubel ist auch etwas nicht in Ordnung. Die Groupie-Schreie fehlen, mit der die SPD ihren Kanzlerkandidaten jetzt seit Wochen feiert, auch die „Martin, Martin!“-Rufe. Er hat etwas Trotziges, der Jubel. Und der Kandidat hat diesmal etwas zu erklären. An diesem Wahltag gebe es eine positive und eine negative Seite, sagt Schulz. „Wir haben deutlich aufgeholt“ – das ist schon mal das Gute. „Aber wir haben unser Ziel für diesen Abend nicht erreicht.“
Das stimmt nur zu gut. Nein, die SPD übernimmt nicht die Regierung im Saarland. Nein, die erste Landtagswahl im Bundestagswahljahr gipfelt nicht im Prozente gewordenen Schulz-Effekt. Und nein, Angela Merkel erlebt auch kein Menetekel an der Saar. Es ist anders gekommen. Der Jubel hat für dieses Mal die Seiten gewechselt.
Die Genossen in der SPD-Parteizentrale erinnern infolgedessen ein bisschen an Manisch-Depressive - eben noch himmelhoch jauchzend, plötzlich zu Tode betrübt. Es ist gerade eine Woche her, dass die SPD unweit von hier in der alten Fabrikhalle der Treptower „Arena“ ihrem Hoffnungsträger 100 Prozent Vertrauen mitgegeben haben. Das Applausometer stand beim Parteitag praktisch durchgängig am oberen Anschlag – gerne auch für Schulz’ Vorhersage, Anke Rehlinger werde die SPD im Saarland zur stärksten Kraft machen und die CDU-Frau Annegret Kramp-Karrenbauer als Regierungschefin ablösen. Der Optimismus war ansteckend. Rehlinger gibt sich Sonntagfrüh siegesgewiss: „Wir werden vorne liegen!“, sagt die Spitzenkandidatin, als sie ihren Wahlzettel in die Wahlurne wirft.
Grimmige Freude
Am Sonntagabend um Punkt 18 Uhr aber wandert auf den Bildschirmen in den Parteizentralen der schwarze Balken mit den CDU-Prozenten höher und höher, erreicht die 40, bleibt knapp drüber stehen. In die Stille im Willy-Brandt-Haus hinein ist ein leises Aufstöhnen zu hören: „Oh nein!“ Das Stöhnen wird noch lauter, als der rote SPD-Balken bei der 30 stoppt, noch unter den 30,6 Prozent, die sie 2012 an der Saar geholt hatten.
Die übrigen Balken sind auch kein Trost. Oskar Lafontaines Linke hat anständige 13 Prozent erzielt, die Grünen sind draußen aus dem Landtag, genau wie die FDP. Nur die rund sechs Prozent für die AfD lösen kurz grimmige Freude aus bei den Sozialdemokraten – wenigstens sind die Rechten gestutzt. Aber ansonsten bleiben die Zahlen eindeutig: Aus der Mehrheit in Saarbrücken wird nichts, aus Rot-Rot auch nichts.
Annegret Kramp-Karrenbauer ist eine ziemlich schlechte Schauspielerin. Als die schmale, kleine Frau vor dem Saarbrücker Landtag aus dem Dienstwagen klettert, spielt ein übermütiges Lächeln um ihre Mundwinkel: „Dass das so deutlich ausfällt, das hat mich auch überrascht.“ Die Umfragen waren widersprüchlich bis zuletzt, AKK, wie sie jeder hier nennt, alles andere als siegessicher. Sie hatte sich in den Tagen vor der Wahl sogar schon Gedanken über den Tag danach gemacht, die unter Wahlkämpfern eigentlich als grobe handwerkliche Fehler gelten: dass sie eine Niederlage auf die eigene Kappe nehmen würde, und dass sie aus der Saar-Politik völlig ausscheiden werde, wenn’s schief geht.
Das hat sich jetzt also vorerst erledigt. Vielleicht gerade deshalb, weil AKK sich um vieles nicht schert, was das Lehrbuch für Spitzenpolitiker empfiehlt. Authentisch zu sein, sei das Wichtigste, hat sie neulich mal angemerkt. So wird sie offenkundig auch wahrgenommen in den alten Stahl- und Zechensiedlungen, in den wenigen Städten und vielen Dörfern ihrer kleinen Heimat. „Die Annegret“ – man duzt sich hier: Redet nicht groß daher, aber macht was. Die Wahlkampagne war infolgedessen strikt auf sie selbst ausgerichtet und strikt auf das Land: Es gehe darum, wer in Saarbrücken regiere, sonst um nichts.
Befreite Union
Aber das stimmte so nie, und AKK wusste das natürlich. Es ging immer auch um die Frau, die ihr in vielem so sehr ähnelt, dass der Bundes-Linke Dietmar Bartsch die Saarländerin neulich beim Wahlkampfausflug an die Saar „little Merkel“ genannt hat, in polemischer Absicht, versteht sich. Am Sonntagabend würde er den Vergleich wohl lieber nicht wiederholen. Die „little Merkel“ hat nicht nur für sich gewonnen, sondern auch für die Kanzlerin. „Wir haben Seite an Seite gekämpft“, sagt Kramp-Karrenbauer.
Im Konrad-Adenauer-Haus steht Peter Tauber auf der Bühne, seine Stimme überschlägt sich fast. „Es gibt eine klare Gewinnerin“, ruft der CDU-General in den Beifall im Foyer hinein. „Die Menschen haben sich für Stabilität und Verlässlichkeit entschieden!“ Offiziell gilt der Satz der Wahlsiegerin in Saarbrücken, inoffiziell hätte Merkels General sicher nichts dagegen, wenn ihn jemand auf die zweite Siegerin im Kanzleramt übertragen würde. Tauber wirkt wie befreit. Was haben sie in seiner CDU nicht vor diesem Wahltag befürchtet und gedrängt, von der CSU ganz zu schweigen: Merkel müsse endlich richtig in den Wahlkampf einsteigen! Volle Kanne gegen den Schulz-Effekt, sonst wird das nichts! Die Saar-Wahl als Anfang einer Rutsche abwärts – das Hoffnungsbild der SPD war der Horror der Union. Alles falsch. Später kommt Peter Altmaier aus der Vorstandsetage runter ins Foyer. Merkels Kanzleramtschef stammt aus Saarlouis und strahlt über beide Backen: „Heute Abend sind wir alle Saarländer!“
Drüben bei der SPD sind sie inzwischen beim Auswerten angekommen. Die Analyse fällt je nach Interessenlage etwas unterschiedlich aus. „Es war keine Testwahl für den Bund“, behauptet der Saar-Landeschef, Bundesjustizminister Heiko Maas. Generalsekretärin Katarina Barley und Parteivize Ralf Stegner suchen das Positive. Eine populäre Landespolitikerin habe in einer polarisierten Wahl ihren Amtsbonus ausspielen können, sagen beide – was als gutes Vorzeichen zu gelten habe für Torsten Albig in Schleswig-Holstein und Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen, die die nächsten Landtagswahlen bestreiten müssen. Außerdem sei die Saar ja irgendwie schon anders als andere Länder mit dieser starken Linken und den ungewöhnlich schwachen Kleinparteien. Speziell die Grünen sind an der Saar seit langem Sorgenkind. Am Abend kündigt ihr Chef Herbert Ulrich den Rücktritt an; nicht zum ersten Mal in seiner Karriere als höchst umstrittener starker Mann, aber diesmal wohl wirklich zum letzten Mal.
Gestiegene Wahlbeteiligung
Diese Saarländer Spezialitäten sind also durchaus bedenkenswert. Die zentrale Frage an diesem Abend lautet aber anders. Wenn bisher die Theorie galt, dass mit diesem Wahlabend der „Schulz-Zug“ unaufhaltsam seine Fahrt ins Kanzleramt aufnehmen werde – ist dann jetzt also umgekehrt richtig, dass bei dem fabulösen Gefährt plötzlich Bremsen quietschen? War der viel bestaunte „Schulz-Effekt“ nur ein Rausch?
Bei der SPD weisen sie den Gedanken weit von sich, so wie sie ihn bei der CDU nach Kräften zu befördern suchen. „Die SPD tritt auf der Stelle!“, ruft der enthusiasmierte Tauber. Nüchtern betrachtet, stimmt beides ein bisschen. Die Saar-SPD stand im Januar, also in der Zeitrechnung vor Schulz, noch bei etwa 25 Prozent in den Umfragen weit abgeschlagen da. Die nicht ganz 30 Prozent heute sind also ein deutlicher Fortschritt. Aber er geht, erstens, nicht zwingend auf Kosten der CDU, dafür aber, zweitens, offenbar auf Kosten von potenziellen Bündnispartnern wie den Grünen. Drittens scheint er in viele Richtungen zu wirken. Wenn die ersten Nachwahl-Befragungen der Demoskopen ein richtiges Bild zeichnen, dann hat die Auferstehung der SPD aus jahrelangem Halbdämmer auf der CDU-Seite ebenfalls Kräfte freigesetzt. Der Zuwachs der Christdemokraten kommt demnach nämlich zu guten Teilen von Menschen, die früher nicht zur Wahl gegangen sind. Die Wahlbeteiligung ist um gut zehn Prozent gestiegen. Schulz mobilisiert alle, auch seine politischen Widersacher.
Rehlinger bleibt
Aus alledem aber folgt, viertens, dass es nach der ersten Stufe nicht automatisch weitergeht auf dem Weg nach oben. Der Schulz-Effekt war ein wuchtiger Einmal-Effekt; ob er noch weiter reichen kann, muss jetzt vorläufig als offen betrachtet werden. Es gibt übrigens Sozialdemokraten, die diese Erkenntnis zwar schmerzhaft, aber trotzdem womöglich ganz nützlich finden. „Vielleicht kommt es doch zur richtigen Zeit“, sagt ein erfahrener Genosse über den Dämpfer. „Das sorgt dafür, dass wir die Füße auf den Boden kriegen und nicht abheben.“
Nein, mit dem Abheben ist es jetzt erst mal ein bisschen vorbei. Schulz muss plötzlich über längere Applaus-Pausen hinweg reden. Er macht aus seiner Enttäuschung kein Hehl. Er selbst habe vor wenigen Stunden noch an ein Stimmen-Patt von CDU und SPD oder sogar an den Sieg seiner Partei geglaubt, räumt er ein.
Aber andererseits – noch ist nichts verloren außer dem kleinsten Flächenland der Republik. Die Spitzenkandidatin Rehlinger wird dort absehbar als das weitermachen, was sie bisher schon war: Wirtschaftsministerin unter Kramp-Karrenbauer. Wenn die gerade erst 40-Jährige Glück hat, verabschiedet sich AKK irgendwann Richtung Bundeskabinett.
Wobei sich Rehlinger einen solchen Gang der Dinge ja andererseits nicht wirklich wünschen kann, weil das dann nämlich das vierte Kabinett Merkel wäre und nicht das erste Kabinett Schulz. Das zu erreichen wird jetzt vielleicht schwieriger als gedacht. Unmöglich ist es nicht. Merkel ist nicht Kramp-Karrenbauer, bei allen Parallelen. Die CDU-Chefin hat glühende Anhänger in den eigenen Reihen, aber auch grollende Gegner.
„Unser Ziel ist, dass wir einen Regierungswechsel in Berlin erreichen“, ruft Schulz. Der Applaus klingt immer noch ein bisschen trotzig. Aber der erste Schreck ist vorbei. „Das ist ein Langstreckenlauf und kein Sprint“, mahnt Schulz noch, die anderen und sich selbst. Für ihn fängt er gerade an. Für Annegret Kramp-Karrenbauer ist er dafür vorbei. „Ich bin platt, das kann ich gar nicht anders sagen“, gibt die CDU-Frau zu Protokoll. Aber sie lächelt wieder dabei.