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Mike Delberg ist Vertreter der Jüdischen Gemeinde Berlin.
© Doris Spiekermann-Klaas

„Ich hatte einfach genug“: Warum ein Berliner Jude jetzt demonstrativ Kippa trägt

Weil Gewalt und Anfeindungen zunehmen, geht Mike Delberg nicht mehr ohne Kippa aus dem Haus. Damit alle sehen: Wir bleiben hier.

Die ersten Wochen, sagt er, haben ihn überrascht. Viele Blicke spürte er auf sich. Neugierige, irritierte, auch feindselige. Manche waren aggressiv. Gelegentlich wurde er angesprochen.

Zum Beispiel neulich abends auf der Straße, ein kräftiger Mann trat auf ihn zu und fragte: „Sag mal, bist du Jude oder was?“ Ja, hat Mike Delberg geantwortet, und der Fremde dann: „Mensch, das ist ja lustig. Ich bin Palästinenser.“ Sie haben sich nett unterhalten, es war sehr herzlich, sagt Delberg.

Die meiste Zeit seines Lebens trug Mike Samuel Delberg, 29, nur selten Kippa. Beim Gottesdienst in der Synagoge, auch mal auf dem Weg dorthin oder anschließend nach Hause. Säkularer Jude halt. Damit ist es jetzt vorbei. Seit Ende Mai bedeckt das runde Stück Stoff beinahe ununterbrochen seinen Hinterkopf. Beim Einkaufen, auf der Straße, abends im Club, im Bundestag, wo er als wissenschaftlicher Mitarbeiter einer CDU-Abgeordneten tätig ist. Oder jetzt hier, früher Montagnachmittag, in der Ecke eines Restaurants in der City-West. Nicht weil Delberg plötzlich entschieden hätte, ein strengreligiöses Leben zu führen. Er sagt: „Ich hatte einfach genug.“

Delberg ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Er ist gewählter Vertreter der Jüdischen Gemeinde. Seit Jahren, sagt er, müsse er mit ansehen, wie sich die Zustände verschärfen. Wie Angriffe auf Juden in der Öffentlichkeit zunehmen. Wie Menschen bedroht werden, weil sie jüdisch sind. Und wie ihnen geraten wird, besser nicht aufzufallen, aus Sicherheitsgründen.

Es begann mit zwei Sätzen

Zuletzt im Mai. Da gab Felix Klein, der Antisemitismus-Beauftrage der Bundesregierung, ein Interview. Er sagte folgende Sätze: „Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen. Das muss ich leider so sagen.“ Die Aussage erregte viel Aufsehen, deutsche Politiker, der Zentralrat der Juden und der US-Botschafter schalteten sich ein. Israels Präsident Reuven Rivlin sagte, die Aussage habe ihn „zutiefst schockiert“.

Mike Delberg haben diese Sätze wütend gemacht, enttäuscht und traurig. Sich zu verstecken könne doch nicht der richtige Weg sein. Seitdem trägt er Kippa. Damit alle sehen: Das jüdische Leben wird aus dem deutschen Straßenbild nie wieder verschwinden.

Knapp 1800 antisemitische Straftaten hat die Polizei 2018 bundesweit gezählt. Das sind 20 Prozent mehr als im Vorjahr. Beim Treffen im Restaurant sagt Mike Delberg, es sei gut, dass sich die Statistiken langsam der Realität annäherten. Aber klar sei auch: Die eigentlichen Zahlen seien weit höher, etliche Taten, von denen Delberg im Rahmen seiner Gemeindearbeit erfährt, würden gar nicht angezeigt. Er sagt, er wisse also sehr wohl, dass die Einschätzung der Bedrohungslage durch den Antisemitismus-Beauftragten realistisch sei. Und dass Felix Klein es gut gemeint habe.

Das Signal sei trotzdem fatal. „Aufgabe des Staates ist es, gegen Antisemiten vorzugehen, anstatt den Juden zu raten, unterzutauchen.“ Laufe er nun mit seiner Kippa durch Berlin, habe er oft ein mulmiges Gefühl. Überall falle er auf, komme sich wie eine Rarität vor, wie ein Einhorn. Er sagt: „Für die meisten Deutschen sind Juden abstrakt.“ Man sehe sie ja sonst nicht, oder besser: Man erkenne sie nicht. Vielleicht könne er mit seiner Aktion wenigstens minimal dazu beitragen, dass sich die Menschen an den Anblick gewöhnen.

Auf dem Pausenhof spielten sie „Judenjagd“

Delberg sagt, es sei als Jude in Deutschland kaum möglich, aufzuwachsen, ohne Antisemitismus zu erfahren. In der Grundschule hatte er keine Probleme, dort wurde sein Jüdischsein eher „als etwas Interessantes und Schönes angesehen“. Dann kam er auf ein altdeutsches Gymnasium in Eichkamp, nahe der Heerstraße. Delberg sagt, es fing mit Sprüchen Einzelner an, andere stimmten ein. Bald wurde offen auf ihm herumgehackt. Auf dem Pausenhof erfanden seine Klassenkameraden ein Spiel, das sie „Judenjagd“ nannten. Derjenige, der Mike Delberg fing, durfte ihn schlagen.

Es ist dann noch schlimmer geworden. Da war die Platzwunde am Kopf, weil Delberg mit Schneebällen beworfen wurde, in denen Steine steckten. Während des Unterrichts schlugen Mitschüler mit einem Besen auf seinen Hinterkopf. Der Lehrer schaute weg, auch dann, als Delberg ihn weinend um Hilfe bat. Der Schulleiter habe ebenfalls nichts unternommen, der habe nur Angst um den Ruf der Schule gehabt, sagt Delberg.

In der zehnten Klasse haben seine Eltern ihn überredet, die Schule zu wechseln. „Es war das Beste, was mir passieren konnte“, sagt Delberg heute. Eine riesige Last sei von ihm gefallen. Weil er damals intensiv tanzte, lateinamerikanisch, wechselte er auf ein Sportgymnasium in Nord-Charlottenburg. Dort, unter Sportlern, habe er Zusammenhalt gespürt, habe seine Religion keine Rolle gespielt. Der Erste, der an der neuen Schule sein enger Freund wurde, war Libanese.

Unterwegs in Berlin-Mitte.
Unterwegs in Berlin-Mitte.
© Doris Spiekermann-Klaas

Dass er von jetzt an Kippa trage, hat Mike Delberg auf Facebook öffentlich gemacht, gelegentlich berichtet er dort von seinen Erlebnissen. Es hat sich schnell rumgesprochen in der deutschen Gemeinde, sagt er. Er bekam viel Zuspruch, auch von Rabbinern, auch aus anderen europäischen Ländern. Vergangene Woche fragte das israelische Fernsehen für ein Interview an. Israelis schrieben ihm: Danke für deinen Mut. Aber wenn es so schlimm ist für Juden in Deutschland, dann komm doch einfach nach Israel. Hier bist du willkommen. Delberg antwortet: Aber meine Heimat ist doch Deutschland.

Wie seine Eltern nach Deutschland kamen

Mike Delbergs Vater ist in der Ukraine aufgewachsen. Er floh, als dort in den 1960er Jahren der Antisemitismus zunahm, zunächst nach Israel. Weil er ein erfolgreicher Fechter war, bekam er Angebote von Vereinen aus Deutschland, zog in den 1970ern her, kämpfte für den Fecht-Club Grunewald, wurde mehrere Male deutscher Meister, auch Junioren-Weltcupsieger – vor allem lernte er an einem Imbissstand Emily kennen, ebenfalls Jüdin und aus Sankt Petersburg eingewandert.

Mike Delberg sagt, er sei seinen Eltern dankbar dafür, dass sie ihm hier etwas ermöglichten, was ihnen selbst in der Sowjetunion nicht erlaubt gewesen war: sich für Religion zu interessieren und zu entscheiden, ob das Jüdischsein eine Rolle im Leben spielen soll.

Weil die Mutter das Schmücken des Tannenbaums liebte und nicht wollte, dass Mike und seine Schwester auf die anderen Kinder neidisch wären, haben sie zu Beginn beides gleichzeitig gefeiert, Chanukka und Weihnachten. Als er sieben war, wurde es der Mutter zu viel: „Mike, wir müssen jetzt ein ernsthaftes Gespräch führen.“ Er müsse sich entscheiden. „Entweder wir feiern Weihnachten wie deine Schulfreunde, und du bekommst Heiligabend deine Geschenke. Oder wir feiern Chanukka, und du bekommst acht Tage lang Geschenke.“ Damit sei die Sache für ihn klar gewesen, sagt Delberg.

Weil er sonntags Zeit im jüdischen Jugendzentrum verbrachte, in den Sommerferien auf jüdische Freizeiten fuhr, wusste er bald mehr über die Religion als seine Eltern. Die lernten dann von ihm. Und er legte sie rein, wenn er ihnen ausgedachten Unfug als uralte Bräuche verkaufte: „Und jetzt nehmen wir diesen Fisch und führen ihn drei Mal um unseren Kopf herum.“ Sie haben es ihm abgenommen.

Kinder zu Pessach in den Brotteig gerührt?

Als Vertreter der Jüdischen Gemeinde besucht er heute manchmal Schulklassen. Dort fragt er die Jugendlichen, was sie über Juden wissen. „Kommt“, sagt er dann, „haut mal alles raus.“ Und dann hauen sie alles raus. Die Gerüchte, dass Juden alle Banken und Zeitungen beherrschten, die Politik auch. Dass Juden in Deutschland keine Steuern zahlten, als Wiedergutmachung für den Holocaust. Dass Adolf Hitlers Großmutter jüdisch gewesen sei. Einmal wurde Delberg von Berliner Schülern gefragt, ob es stimme, dass Juden in Israel als Vorbereitung zum Pessachfest die Überreste christlicher und muslimischer Kinder in den Brotteig rühren.

Delberg sagt, er habe in solchen Situationen zweierlei anzubieten: Geduld und Freundlichkeit. Er wisse, dass hinter antisemitischen Gedankenmustern oft keine Boshaftigkeit stecke. Dass die Schüler meist irgendwo etwas Blödes aufgeschnappt hätten. Dass dieses irgendwo allerdings oft die eigene Familie sei.

Manchmal hilft nur, sich kennenzulernen, sagt er. Nach einem Workshop kam ein Junge zu ihm und bedankte sich. Der habe mit seinen Freunden auch mal Juden auf der Straße gesehen und sie verprügeln wollen. „Er sagte dann noch: Das nächste Mal wisse er jetzt, dass dies gar nicht nötig sei.“

Der Gürtelschläger lächelte über das Urteil

Für die Jüdische Gemeinde hat Delberg auch den sogenannten Kippa-Prozess beobachtet. Das Gerichtsverfahren gegen den 19-Jährigen, der 2018 am Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg einen kippatragenden Israeli mit seiner Gürtelschnalle schlug. Der Richter ordnete vier Wochen Hausarrest an, dazu eine Führung durch das Haus der Wannseekonferenz. Das Urteil habe ihn sehr enttäuscht, sagt Delberg. „Es war ein gefühlter Freispruch.“ In dem Moment, in dem ein antisemitischer Schläger lächelnd den Gerichtssaal verlasse, könne man davon ausgehen, dass er seine Lektion nicht gelernt habe. Delberg wünscht sich, deutsche Richter würden bei derartigen Taten öfter das gesamte mögliche Strafmaß ausreizen.

Er war es auch, der Ende 2017 das Video auf seine Facebook-Seite stellte, auf dem der jüdische Restaurantbetreiber Yorai Feinberg, ein guter Freund von ihm, von einem Fremden bepöbelt wurde. Der Mann prophezeite: „Ihr werdet alle in den Gaskammern landen. Alle wieder zurück in eure blöden Gaskammern ... Keiner will euch hier.“ Das Video verbreitete sich schnell, bis Facebook es sperrte. Es verstoße gegen die Regeln der Plattform. Mehrere Anzeigen, die Yorai Feinberg in den vergangenen Jahren gegen mutmaßliche antisemitische Täter gestellt hat, wurden eingestellt. Ein Verdächtiger gilt als psychisch krank.

Israel als Lebensversicherung

In Frankreich sei die Situation noch schlimmer, sagt Delberg. „Da ist es endgültig eskaliert.“ Eine Bekannte von ihm musste vor einem Mob flüchten, versteckte sich in einer Synagoge, die Scheiben wurden eingeworfen. Von solchen Zuständen sei Deutschland noch weit entfernt. Aber auch in seiner Berliner Gemeinde kennt Delberg Juden, die aus Angst nach Israel auswandern wollen oder es bereits getan haben. „Die sagen: Wir kennen das aus den Geschichten unserer Großeltern. Wir werden uns das nicht angucken, wir gehen jetzt mal lieber.“ Besser zu früh flüchten als zu spät.

Die Bedrohung, die zunimmt, komme von verschiedenen Seiten. „Das eine“, sagt Delberg, „ist der gewaltbereite muslimische Antisemitismus. Die jüdische Gemeinde hat Angst davor, er ist sehr real.“ Klar gebe es unzählige Gegenbeispiele, auch in seinem engsten Freundeskreis. Aber Tatsache sei eben auch, dass in strenggläubigen, weniger gebildeten muslimischen Kreisen die Judenfeindlichkeit zum Alltag gehöre – und sich auch in Form von Gewalt materialisiere.

Das andere ist der Rechtsruck. Speziell die AfD und wie sie das Klima vergifte. „Wenn eine Partei die gesamte Erinnerungspolitik verändern möchte, dann ist das mindestens so gefährlich wie der Stiefelnazi mit Schlagstock.“ Es mache ihn wütend, dass führende AfDler als Freunde Israels und Beschützer der Juden aufträten. Zwar seien diese Vereinnahmungsversuche arg durchsichtig und würden in Deutschland von sämtlichen jüdischen Institutionen abgeblockt.

Doch aus dem Ausland, zumal aus Israel, höre er Stimmen schlecht informierter Juden, die tatsächlich glaubten, die AfD stünde auf ihrer Seite. Auch da braucht Delberg Geduld und Freundlichkeit, wenn er sagt: „Die Rechten tun das nicht, weil sie uns mögen. Sondern weil sie die Moslems so sehr hassen, dass sie sich scheinbar mit uns verbrüdern – damit wir ihnen den moralischen Koscher-Stempel geben“, sodass sie ihren Hass und ihre Hetze nach außen tragen könnten. Delberg sagt: „Sie benutzen unsere Notlage, um ihren Rassismus auszuleben.“

Es hat ihn erschreckt, als er erfuhr, dass CDU-Mitglieder in der Stadtvertretung von Penzlin in Mecklenburg-Vorpommern eine Zählgemeinschaft mit dem AfD-Vertreter gebildet haben. Er war erleichtert, als sich so viele in seiner Partei darüber empörten. Nicht nur als Jude, sondern auch als überzeugter CDUler werde er alles daransetzen, solche Annäherungen zu verhindern. „Würden wir ernsthaft überlegen, uns mit Rassisten und Faschisten an einen Tisch zu setzen, dann wäre das nicht mehr meine Partei.“

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