Einbrüche, Diebstähle, Messerstechereien: Warum die Gangs of Marzahn nicht zu fassen sind
Ein Areal in Marzahn ist Berlins neuer Brennpunkt. Die Polizei hat reagiert, doch gelöst ist das Problem damit noch lange nicht. Eine Reportage.
Am Jugendclub an der Marzahner Promenade fährt die Polizei vor. Drei Einsatzfahrzeuge, wenig später Ermittler der Kripo in einem abgedunkelten Wagen, Einbruchsalarm an der Peter-Pan-Grundschule nebenan. Die Beamten springen aus den Autos, verteilen sich auf dem Areal. Die Jugendlichen, die sie suchen, sind längst weg. Zehn Minuten, und die Polizisten geben auf.
Kurz wird es ruhig. Dann tauchen drei Mädchen auf, um die 14, vielleicht auch 16 Jahre alt, Leggings, Kippe, Handy. „Die informieren sich jetzt via Whatsapp“, sagt Sozialarbeiter Uwe Heide, der die Szene beobachtet. In kleinen Gruppen nähern sich weitere junge Frauen, dann auch junge Männer. Nach einer halben Stunde an diesem Frühlingsnachmittag ist der Platz zwischen Schule und Jugendclub wieder gefüllt. Aus Boxen tönt Musik von Beyoncé, es wird geraucht, gekreischt, getrunken. „Das ist ein Katz-und-Maus-Spiel“, sagt Heide.
Katz und Maus. Hier am „Eastgate“ ist gerade mitzuerleben, wie die Stadt Berlin regelmäßig mit Kriminalitätsschwerpunkten umgeht. Zuerst – und beim „Eastgate“ ist das seit zwei Jahren der Fall – lässt man sie nahezu ungestört entstehen, überhört Warnungen von Bürgern und Bezirksparlamentariern, bis die Größe des Problems nicht mehr ignoriert werden kann, und schickt dann die Polizei. Man baut eine Wache auf den Alexanderplatz. Durchkämmt ein paar Tage lang den Görlitzer Park. Schickt mehr Beamte zum Kottbusser Tor. Nur was, wenn die Polizisten wieder gehen, weil sie nicht überall sein können und woanders ein neuer Brennpunkt entstanden ist?
Überall parken Einsatzwagen
Seit 2017 beschäftigt das Areal zwischen dem Einkaufszentrum „Eastgate“, der Landsberger Allee und der Raoul-Wallenberg-Straße immer wieder die Polizei. Mittendrin: die Marzahner Promenade und der Jugendclub neben der Peter-Pan-Grundschule. Einbrüche, Diebstähle, aber auch Raubüberfälle und Messerstechereien nehmen zu. Gangs bilden sich – teilweise bis zu 50 Personen stark.
Im Februar wurden innerhalb von fünf Tagen ein 56-Jähriger und ein 22-Jähriger von einer Gruppe ausgeraubt und schwer verletzt. Daraufhin reagierte die Polizei, sie richtete eine „Taskforce“ ein, erhöhte ihre Präsenz. Zunächst für fünf Wochen, inzwischen wurde der Einsatz verlängert. Überall parken Einsatzwagen, eine mobile Wache steht regelmäßig am Eingang des „Eastgate“, Polizisten patrouillieren zwischen Einkaufszentrum, Jugendclub und Marzahner Promenade.
Die Rädelsführer sind bekannt. Auf Tagesspiegel-Anfrage heißt es über die mutmaßlichen Täter: „Die verschiedenen Gruppen bestehen zumeist aus männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden mit Migrationshintergrund und weiblichen Jugendlichen überwiegend aus dem Wohnbereich des Bezirkes Marzahn-Hellersdorf.“ Und weiter: „In den Gruppen befinden sich unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, aber auch Jugendliche mit Migrationshintergrund, deren Erziehungsberechtigte sich im Bezirk Marzahn-Hellersdorf aufhalten.“ Ein Teil der Jugendlichen komme aus anderen Bezirken hier.
„Die Mädels sind der Anziehungspunkt“, sagt Uwe Heide, ein Streetworker, wie ihn sich wohl viele vorstellen würden: Bart, Lederjacke, Jeanshemd, Schirmmütze. Schon lange wundern er und seine Kollegen sich über die jungen Frauen. Erst durch Beobachtungen und lange Gespräche habe man erkannt, dass sie es sind, die die jungen Männer ans „Eastgate“ locken. Es habe sich herumgesprochen, dass die Mädels „leicht zu haben“ seien. „Um sie herum entsteht der Konkurrenzkampf.“ Für ihn ist das eine vollkommen neue Herausforderung. „Wir sind da auch keine Experten“, sagt er.
Die jungen Frauen hätten ein Zuhause, keinen Migrationshintergrund, kämen größtenteils aus geordneten Verhältnissen. Von den Angeboten der Streetworker würden sie bislang nicht erreicht. Heide klingt ein bisschen ratlos.
Steglitz, Jena, Cottbus: die gleichen Probleme
Einkaufszentren wie das „Eastgate“ haben sich zu beliebten Treffpunkten für Jugendliche entwickelt, auch für Migranten und Flüchtlinge. Hier ist es auch im Winter warm und trocken, häufig gibt es kostenloses W-Lan und billige Lebensmittel-Discounter. Und es kommt immer wieder zu Problemen. Im „Boulevard Berlin“ in Steglitz war es 2016 eine Jugendclique, die wiederholt Kunden belästigte, randalierte, klaute und sich respektlos gegenüber Polizisten und Sicherheitsdienst verhielt. Dasselbe Muster 2018 in der „Goethegalerie“ in Jena, im „Blechen-Carré“ in Cottbus.
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Wenn Uwe Heide spricht, denkt er immer wieder ein paar Momente über die Sätze nach, die er sagen möchte. Er hat selbst Höhen und Tiefen erlebt. Nach der Schule arbeitet er auf dem Bau in Hellersdorf. Weil er nicht in der Nationalen Volksarmee dienen möchte, flieht er über Ungarn aus der DDR. Ein paar Jahre lebt er in einem Dorf in der Eifel. Mittellos, ohne soziale Kontakte. Das Dorf unterstützt ihn, er baut sich einen Handwerksbetrieb auf. Nach dem Mauerfall kommt er zurück nach Berlin. Er sympathisiert mit der Hausbesetzerszene, legt als DJ auf und fährt viel Skateboard.
Die größte Schwierigkeit: Vertrauen aufbauen
„Ich habe ein System zusammenfallen sehen – und trotzdem ging das Leben weiter.“ Mitte der 90er Jahre beginnt Heide eine Ausbildung zum Erzieher, schult dann um und wird Streetworker. „Bei mir hat erst einmal jeder die Chance, ein guter Mensch zu sein.“
Heide und sein Team versuchen, die jungen Menschen aufzufangen, ihnen eine Perspektive zu geben. Sei es durch Hilfen beim Ämtergang oder durch Beschäftigung. Die größte Schwierigkeit für ihn: Vertrauen aufbauen.
Am Jugendclub wirkt alles friedlich. Die Jugendlichen stehen in Grüppchen zusammen, immer wieder umkreisen Mädchen Jungs und umgekehrt. Einige halten Händchen, ein paar knutschen. Das Ganze wirkt wie ein Balzkampf.
Paula, 14 Jahre alt und blond, trägt weiße Sneaker, knöchelfreie Slimfit-Jeans und ein rotes Shirt. Alles Markenklamotten. „Mit den Jungs kann man halt Spaß haben. Die machen alles mit“, sagt sie, ein Schokoladeneis in der Hand. Die Jungs aus ihrer Klasse seien dagegen langweilig, würden nur am Computer spielen. Drei- bis viermal die Woche sei sie hier, sagt Paula, gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester, immer nachmittags nach der Schule, seit mehr als einem Jahr. An ihren neuen Freunden schätze sie vor allem: „Die sind immer für uns da. Ein Anruf und sie kommen.“ Gerade kommt eine Freundin, die eine blaue Flasche Hugo – Holunderblütensirup-Prosecco – dabeihat. Paula wirft ihr Eis über den Schulzaun und folgt ihr. Wenig später kehrt die Gruppe zurück. Ohne Flasche. Eine torkelt. Ob ihre Eltern wüssten, was sie hier tue? Paula lacht.
416 Personen kontrolliert, 179 Strafanzeigen gestellt
Das meiste, was die Mädchen hier machen, ist nicht strafbar. Die Polizei habe wenig Handlungsspielraum, sagt ein Beamter, der gerade mit seinem Kollegen zwischen „Eastgate“ und Jugendclub patrouilliert. Mehr als 1300 Einsatzstunden hat die Taskforce bis Mitte April hier verbracht, 416 Personen kontrolliert, 179 Strafanzeigen gestellt. „Ich habe in meiner Laufbahn noch nie so viel Lob und Dank für meine Arbeit bekommen“, sagt der Beamte. Auch der Polizist berichtet davon, „die Mädels“ in der Gegend stünden bei Migranten aus der ganzen Stadt in dem Ruf, leicht zu haben zu sein.
Solange die Mädchen alt genug seien, könne er nicht eingreifen. „Neulich hatte ich hier eine Zwölfjährige. Da habe ich die Eltern angerufen – die sind aus allen Wolken gefallen.“ Seitdem hat er das Kind nicht mehr gesehen. Die meisten anderen sind jedoch mindestens 14 Jahre alt, manche auch über 16. Der Polizist hält den Einsatz der Taskforce für maximal erfolgreich. Die Zahl der Ladeneinbrüche sei „in den Keller gerauscht“, Gewalttäter habe man angezeigt, Gruppen hätten sich aufgelöst. „Unsere Taktik ist, die zu nerven“, sagt der Polizist.
Fast täglich wird Ahmed kontrolliert. 17 sei er, aus Palästina, seit fünf Jahren in Berlin. Erst in Neukölln, jetzt in Marzahn. „Das sind unsere Kumpels“, sagt er in Richtung der Mädchen. „Wir können mit denen Deutsch üben und ein bisschen abhängen.“ Stress gebe es nur, wenn die Afghanen kämen. „Die saufen Alkohol und machen Ärger.“ Ein Kampf um die Mädchen? „Ahh“, sagt Ahmed. Er schnalzt mit der Zunge, schaut vorwurfsvoll. Darüber spricht man nicht.
In einer internen Lagebewertung der Polizei, die dem Tagesspiegel vorliegt, heißt es: „Die Auseinandersetzungen untereinander finden zumeist zwischen Jugendlichen verschiedener Ethnien, aufgrund unterschiedlicher kultureller und regionaler Sozialisation, statt.“
"In den letzten zwei, drei Jahren ist es extrem geworden"
Ahmed beginnt mit einem Kumpel einen Schattenboxkampf. Tänzelnd umkreisen sie sich, immer wieder schnellen die Fäuste vor. Freundschaftlich – und demonstrativ vor den Mädchen.
„Warum sich die Mädchen denen so anbiedern, kann ich nicht verstehen“, sagt ein Anwohner, der anonym bleiben möchte. Er wohnt schon seit fast 40 Jahren in der Platte direkt neben dem Jugendclub. Erstbezug. „In den letzten zwei, drei Jahren ist es extrem geworden“, sagt der Mann. Er beklagt Lärm und Müll. Neulich habe man ihm das Verdeck seines Cabrios aufgeschlitzt. „Blaulicht sieht man jetzt hier dauernd.“ Er sagt, er suche schon eine neue Wohnung.
Uwe Heide beobachtet seit Jahren die schleichende Veränderung im Kiez, „man sieht hier jetzt vor allem ältere Menschen“, abends wirke alles wie ausgestorben. „Wenn dann mal fünf Jugendliche mit Bierflaschen gesehen werden, wird das direkt als Bedrohung wahrgenommen.“
Die „Biertulpe“, eine Gaststätte, liegt im Erdgeschoss eines 19-stöckigen Hochhaus an der Marzahner Promenade. Auf der Tafel am Eingang wird „Berliner und Brandenburgische Küche“ angeboten. Königsberger Klopse mit Kartoffeln gibt es für 9,50 Euro, Kesselgulasch für 5,95.
Es ist 16 Uhr und am Tresen stehen zwei Rentner und ein Mann im Blaumann – vor ihnen drei Pils. „Wir gehören zum Inventar“, sagt einer und lacht. Fragt man sie nach der Stimmung vor Ort, beginnen sie über die Migranten und die nahe Flüchtlingsunterkunft zu wettern. Die drei Männer beklagen, dass sich die Politik nicht blicken lasse, der Westen bevorzugt und mit Kriminellen zu lasch umgegangen werde.
Ein Einbruch, vor eineinhalb Wochen
In der Ecke der Kneipe steht ein Spielautomat, der einem Schild an der Eingangstür zufolge täglich geleert wird. „Erst vor eineinhalb Wochen sind die wieder bei uns eingestiegen und haben ein ziemliches Chaos hinterlassen“, sagt die Wirtin. Wer „die“ sind, weiß sie nicht.
Seit 30 Jahren arbeitet die Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, in der Biertulpe. Seit 1979 wohnt sie in Marzahn, inzwischen über der Hochhausgaststätte. „Das ist meine Heimat“, sagt sie. Doch seit ein paar Jahren fühlt sie sich immer unwohler. Abends schließt sie jetzt die Tür zur Gaststätte zu. Wer bei Dunkelheit noch in die Kneipe möchte, muss klopfen – meist lässt sie nur die Stammgäste rein. „Neulich kam einer meiner Gäste mit einem Kopfverband in den Laden – dem haben sie eine Flasche übern Kopf gezogen und ihn komplett ausgeraubt.“ Wenn sie „hier nicht arbeiten würde“, sagt die Wirtin, „wäre ich schon längst weggezogen“.
Der Markt ist leer, "das ist wie Goldstaub"
Uwe Heide hat eine Streetworkerin eingestellt, in ein paar Wochen soll sie anfangen. Er würde sich auch einen Mitarbeiter mit Migrationshintergrund wünschen. „Der Markt ist leer“, sagt Heide. „Das ist wie Goldstaub.“
Neulich war er mit einigen Heranwachsenden Paintball spielen, auch eine Fahrradwerkstatt hat er eingerichtet. „Unsere Angebote müssen attraktiver sein als die der Gruppe.“ Bislang haben sich ihm ein paar Jugendliche anvertraut. Er hofft, dass sie zu Vorbildern für die anderen werden. „Wir sind die einzigen Erwachsenen, die sich für sie interessieren“, sagt Uwe Heide.
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