Kurzarbeit seit acht Monaten: Von heute auf morgen in die Ohnmacht entlassen
Als Chefconcierge eines Hotels half Thomas Schwarz seinen Gästen in jeder Situation. Nun ist er in Kurzarbeit – und merkt, wie schwer es ist, Hilfe anzunehmen.
Keine Drogen, keine lebenden Tiere – sonst organisierte Thomas Schwarz alles, was die Gäste seines Hotels wünschten. Er erzählt, wie er Tampons besorgt hat und unkreativen Ehemännern Liebesbriefe für den Jahrestag schrieb.
Ein Popstar, Vegetarier, wollte für seine zwei Tage in Berlin eine S-Klasse ohne jegliches Leder. Thomas Schwarz sprach mit Mercedes-Benz. In den 90er Jahren wünschte sich einer der berühmtesten Sänger aller Zeiten einen DVD-Player mit Display. Auf der ganzen Welt gab es damals nur einen Prototypen in Singapur. Schwarz telefonierte.
Jetzt steht auf dem Tisch neben ihm eine Tasse, weißes Porzellan, brauner Kaffeerand, benutzt von einem der wenigen Gäste. Doch niemand in der Lobby ist da, der dreckiges Geschirr wegräumt. Auch niemand, der Türen aufhält oder Koffer umherträgt. Als wäre das Haus nicht mehr das, was es eigentlich ist: Eines der luxuriösesten Hotels der Stadt.
Seit 31 Jahren ist Thomas Schwarz hier Chefconcierge. Oder: Er war es. Schwarz, 50 Jahre, dunkle Haare, Bart um Kinn und Mund, schüttelte mächtigen Politikern die Hand, Wirtschaftsbossen, Stars. Was er da alles sah und hörte, erforderte, dass er eine Verschwiegenheitsklausel unterschreibt.
Deswegen nennt Thomas Schwarz nicht seinen wahren Namen, wenn er von den Monaten seit März erzählt. Monate, in denen er nicht mehr durch die Eingangshalle schritt oder an der Rezeption stand, im Frack, mit zwei gekreuzten goldenen Schlüsseln am Kragen.
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Die sind ein diskretes Zeichen dafür, dass Schwarz einer der Besten seines Fachs ist, Mitglied der internationalen Vereinigung „Les Clefs d’Or“. Brauchte Thomas Schwarz einmal etwas aus Paris, fragte er den Kollegen im Four Seasons George V. Der meldete sich wiederum für einen kleinen Gefallen in Berlin, für einen Kontakt zur Staatsoper etwa oder zu Universal. „Wir sind weltweit mit allen vernetzt, die in irgendeiner wichtigen Position sind“, sagt Thomas Schwarz.
Doch das alles nützt ihm gerade nichts. Thomas Schwarz ist selbst auf Hilfe angewiesen. Sein Gehalt kommt vom Staat. Er ist auf Kurzarbeit. Null Wochenstunden seit acht Monaten.
An den genauen Tag im März, der sein Leben drastisch verändern sollte, kann sich Schwarz nicht erinnern. Zu viel geschah damals auf einmal. Grenzen wurden dicht gemacht, damit sich Covid-19 nicht weiter ausbreitet, Kitas, Schulen, Geschäfte schlossen. Die Bundeskanzlerin mahnte: Jeder sollte zu Hause bleiben! Keine unnötigen Reisen! Keine Übernachtungen in Hotels!
Schwarz und seine Kollegen hörten noch etwas daraus: weniger Gäste bedeuten weniger Einnahmen – und die wiederum weniger Personal, das kostet. „Mein erster Gedanke war damals, ob ich die Miete noch zahlen kann.“
Kurz kam Hoffnung auf
Damit nicht Millionen Menschen in Deutschland wegen der Pandemie ihren Job verlieren, macht es die Politik Unternehmen, Restaurants und Hotels seit dem Frühling leichter, Kurzarbeit zu beantragen. Und das tun sie. Der Staat ersetzt 60 Prozent des gestrichenen Lohns. Hat jemand Kinder, sind es 67 Prozent.
Im April, als man in den Straßen nur an verriegelten Türen vorbeilief, erhielten laut der Bundesagentur für Arbeit knapp sechs Millionen Erwerbstätige Kurzarbeitergeld, fast vier Mal mehr als während der Finanzkrise. Im Oktober waren nur noch halb so viele betroffen. Kurz kam Hoffnung auf. Bis die Zahlen der Corona-Infizierten wieder rasant stiegen und die Regierung das öffentliche Leben erneut massiv einschränkte. Wieder hieß es: keine unnötigen Reisen und Übernachtungen!
Wer zu 50 Prozent in Kurzarbeit ist, arbeitet halb so viel wie gewöhnlich, bis sich die Auftragsbücher wieder füllen. Thomas Schwarz arbeitet gar nicht mehr.
Im Februar verdiente er 2000 Euro netto plus Trinkgeld. An diesem grauen Tag Anfang Oktober sind es 1420 Euro. „Es ist toll, dass der Staat den Lohnausfall ausgleicht“, sagt Schwarz, der geschieden ist und einen siebenjährigen Sohn hat. „Man hat aber feste Ausgaben wie Miete, Versicherungen, die sind abgestimmt auf das Gehalt. Da kann man mit 67 Prozent nicht lange überleben.“
Wie lange er in Kurzarbeit bleiben wird, weiß er nicht. Vielleicht den Winter über. Vielleicht ein ganzes, langes Jahr.
Was ihn rettet: Er hat etwas Geld angespart. Für den Fall, dass irgendwann mal etwas geschieht. Wer ahnte denn, was das sein wird. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen haben keine Rücklagen. Er erzählt, dass sie jetzt bei Lidl auf der erlaubten 450-Euro-Basis Regale einräumen, als Umzugshelfer Schränke schleppen.
Der Vermieter will sein Geld, Kinder brauchen warme Schuhe. Manche melden wegen Kurzarbeit ihr Auto ab, wissen nicht, ob sie in ihrer Wohnung bleiben können, verzweifeln, verschulden sich.
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In dieser Lage hören sie, wie der CDU-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Parlamentskreises Mittelstand Christian von Stetten sagt: Derzeit werde „in ganz Deutschland hunderttausenden Personen ohne finanzielle Beteiligung des Arbeitgebers ein Jahr Sabbatical auf Kosten der Allgemeinheit finanziert.“
Sie sehen Friedrich Merz im Fernsehen, einen Mann mit Millionenvermögen, der Bundeskanzler werden will. Der sagte vor kurzem: „Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir uns nicht alle daran gewöhnen, dass wir ohne Arbeit leben können.“ Als hätten die Menschen, als hätte Thomas Schwarz, eine Wahl.
„Friedrich Merz würde sich bestimmt nicht wünschen, ohne seinen Job, mit wenig Geld und kaum sozialen Kontakten zu Hause zu sitzen“, sagt Thomas Schwarz. „Die allermeisten sind unfreiwillig in Kurzarbeit. Und bestimmt nicht faul.“
Trinkgelder sind enorm wichtig - und fallen jetzt komplett weg
Das Gastgewerbe zählte schon vor Corona zum Niedriglohnsektor. Deswegen sind Trinkgelder enorm wichtig. Schwarz nennt ein Beispiel: „Ein Hoteldiener bekommt einen Tausender Gehalt und schon 1000 bis 2000 Euro Trinkgeld. Jetzt sind es 700 Euro – und die Miete von 450 Euro bleibt gleich“. Eine Realität fernab von Plenarsälen und stuckverzierten Altbauwohnungen.
Thomas Schwarz lebt im Süden Berlins, ein kleines Haus im Grünen mit acht Wohnungen. Backt die ältere Dame im ersten Stock, dann schiebt sie zwei Kuchen in den Ofen. Einen für sich, einen für die Nachbarn. Schwarz’ Eltern leben auch in der Stadt.
Bei ihnen hat er früher meist nur alle 14 Tage angerufen, gehetzt vom Arbeitsalltag, kurz angebunden: Passt gerade nicht, zu viel Stress, melde mich. Während der Kurzarbeit ist alles anders. Er trifft die Eltern jetzt zwei, drei Mal in der Woche, fegt Laub zusammen, deckt die Blumen ab, kocht.
Er weiß sich zu beschäftigen, fährt mit dem Roller durch Berlin, mit dem Rad ins Umland. Im Sommer reiste Schwarz nach Italien, wo er kostenlos in einer Wohnung von Bekannten schlafen kann. Nach Binz auf Rügen wurde er von einem Freund eingeladen. Er telefoniert mit Menschen, die am anderen Ende der Welt leben und denen er sonst nur zum Geburtstag gratuliert.
Bei drei, vier Umzügen packte Thomas Schwarz mit an, holte Autos ab und fuhr sie zu Bekannten in weit entfernte Städte. Später am Tag des Gesprächs wird er den Computer von jemandem reparieren. Schwarz trifft Menschen, er hilft anderen. Das hilft ihm. Zumindest war das so, bis die sozialen Kontakte wieder eingeschränkt wurden.
Es gibt aber auch Tage, an denen er nur fernsieht. Dann fühlen 24 Stunden sich lang an, Gedanken werden ungefragt laut. „Man denkt in einem gewissem Alter schon darüber nach, was man gerne noch machen würde. Das war bei mir eine Weltreise. Geht aber auch nicht.“
Will ich in meinem Leben was Neues wagen? Bin ich zufrieden? Diese Fragen hatte Thomas Schwarz aufgeschoben wie Arztbesuche. Nun geht er zum Kardiologen, lässt seinen Körper durchchecken, der lange vernachlässigt wurde. Gab immer Wichtigeres zu tun.
Viele Menschen fühlen sich nicht gebraucht
Gerade in Deutschland nimmt der Beruf einen enorm hohen Stellenwert ein. Es ist oft das Erste, wonach ein Fremder beim Kennenlernen fragt. Ohne Arbeit fühlen sich viele Menschen nicht gebraucht. Zweifeln an sich. Auch Thomas Schwarz? „Nee, ich werde nie auf die dunkle Seite gezogen.“
Er ist kein grüblerischer Typ. Einmal hatte Thomas Schwarz einen Unfall, danach haderte er nicht: Wäre ich doch nach links abgebogen statt nach rechts! Hätte ich doch weniger getrödelt! Könnte der Tag doch noch einmal beginnen! Er belastet sich nicht mit Vergangenem. Was geschehen ist, ist geschehen.
Das ist auch eine professionelle Qualität: „Der Tod eines jeden guten Services ist die Panik“, sagt Schwarz. „Dann komme ich an meine Grenzen, denke nicht mehr klar.“ Diese Gelassenheit braucht er mehr denn je.
„Ich kenne beides bei der Kurzarbeit: sehr zufrieden sein und tief betrübt,“ sagt Schwarz. Für junge Eltern könne die erzwungene Auszeit auch ein Geschenk sein. Väter hätten die Chance, sich richtig zu kümmern, die ersten Schritte mitzuerleben. „Sie werden später nicht bereuen, zu wenig da gewesen zu sein.“ Anders erginge es einigen seiner älteren Kollegen, die alleine lebten. Die hätten ihre einzigen Gespräche am Tag während der Schicht im Hotel geführt. Deren Alltag sei jetzt eintönig. Wortlos einsam.
Zurück im Hotel. Nur zwei von acht Stockwerken sind im Moment für Gäste geöffnet. Im Flur des dritten Stocks brennt kein Licht. Nicht einmal, wenn Schwarz hindurch geht. Der Bewegungsmelder: ausgeschaltet. Die Teppiche: schon länger nicht gesaugt. Kein Vergleich zu früher. Da sah sich Thomas Schwarz als Seele dieses Fünf-Sterne-Hotels. Wie sieht er sich jetzt?
Als Arbeitslosen keineswegs. „Ich wüsste gar nicht, wie das geht, zum Amt gehen, Verwaltungsschreiben ausfüllen, Bewerbungen schreiben. Hab ich noch nie gemacht“, sagt er. Vorruhestand – so fühle sich sein Alltag gerade an.
Thomas Schwarz hat im Schichtdienst gearbeitet: 7 bis 15 oder 15 bis 23 Uhr, manchmal zehn Stunden lang, oft an Wochenenden. „Das erste Mal in meinem Leben habe ich sehr, sehr viel Zeit“, sagt er. „Ich stehe auf, wann ich will, gehe ins Bett wann ich will.“ Nicht mehr sein Job entscheidet, wann der Wecker klingelt, sondern er allein. Nichts drängt ihn.
In all den Jahren im Hotel galt für den Concierge eine Regel: Wenn ich morgens mal nicht aus dem Haus will, kündige ich. Dieser Morgen kam nie.
Eine rote Schleife um den Porsche? Kein Problem
Er liebte das Plaudern mit den Gästen, das Erfüllen von scheinbar Unmöglichem. Ihre staunenden Augen. Ihren Dank. Jemand möchte in ein ausgebuchtes Konzert: Thomas Schwarz regelt das. Sogar mit Autogramm und kurzem Treffen. „Ein Notfall, ich muss sofort nach Hause!“ – „Limousine oder Privatjet?“ Wie sehr ihm das fehlt.
Er weiß, was Reichtum, was Luxus bedeuten. Ein Gast wollte für seine Frau eine Prada-Kollektion aus New York haben. Dass der Strafzoll fast 20 000 Euro betrug, scherte ihn nicht. Zum Hochzeitsjubiläum ließ Schwarz eine rote Schleife um einen Porsche wickeln. Nun erlebt er das Gegenteil: Vor der erneuten Schließung aller Lokale ging er manchmal noch essen, aber nicht mehr in einem Restaurant am Kurfürstendamm. Die Currywurstbude an der Ecke musste reichen. Das Ersparte wird weniger.
In seinem Smartphone sind 2500 Nummern abgespeichert. Als die Pandemie ausbrach, riefen 40 Stammgäste an: Thomas, wie viel brauchst du? Mehr sagt er nicht, Diskretion, selbstverständlich.
Wut spürt er nicht, über das Virus, die Politik, aber Ohnmacht. Trotzdem nimmt Schwarz hin, was ist. Er, der sonst kein Nein kannte und kein Ausverkauft.
Die Bundesagentur für Arbeit wird 2020 die Rekordsumme von 62 Milliarden Euro ausgeben – eine bislang nie erreichte Größenordnung. Beim Kurzarbeitergeld geht die Agentur von zusätzlichen Ausgaben in Höhe von 19 Milliarden aus.
Seit September steht fest: Das aufgestockte Kurzarbeitergeld wird verlängert. Bis Ende nächsten Jahres bekommen Betroffene 70 statt 60 Prozent des ausgefallenen Lohns, wenn sie länger als drei Monate kurzarbeiten; nach sechs Monaten sind es sogar 80 Prozent. Das gilt inzwischen auch für Thomas Schwarz.
Der sieht die Verlängerung seiner Hilfsmaßnahme kritisch. „Das Kurzarbeitergeld nützt vor allem den Arbeitgebern, die sich an der Staatskasse bedienen und sparen, wo sie nur können“, meint er. Zumal manche Unternehmen die Gelder auch missbrauchen würden und Mitarbeiter in Wahrheit mehr arbeiteten, weil genug zu tun sei.
Andere Betriebe würden künstlich am Leben erhalten. Irgendwann, wenn die Hilfen wegfallen oder es zu lange zu wenig Gäste gibt, würden sie trotzdem Insolvenz anmelden und Angestellte entlassen. Vielleicht ihn.
Was er einmal werden wollte, wusste Schwarz schon mit 16 Jahren. Er wuchs in einer großen Gastronomie-Familie auf. Ein Stammgast war Concierge. Von dessen Erzählungen gefiel ihm eine am besten: „Jeder Mensch verkauft irgendwas, Thomas. Ein Concierge nicht. Er muss nichts anpreisen, nichts bewerben. Die anderen wollen etwas von ihm.“ Das wollte Thomas Schwarz auch: nie um was bitten.
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