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Das Friseurhandwerk zählt zu den Branchen, in denen am schlechtesten bezahlt wird.
© dpa

Jeder fünfte Beschäftigte betroffen: „Die Corona-Krise verstärkt die Probleme des Niedriglohnsektors"

Der Niedriglohnsektor ist in Deutschland enorm gewachsen. Eine Studie zeigt: Wer betroffen ist, scheint momentan ungerechter denn je.

Die Corona-Krise weist wie eine Lupe auf etliche soziale Missstände in Deutschland hin. Einer ist der große Niedriglohnsektor. So machen Beschäftigte in Branchen, deren Systemrelevanz seit Ausbruch der Pandemie erkannt wurde, einen Großteil der Betroffenen aus: Mehr als die Hälfte der Schlechtbezahlten waren 2018 im Groß- und Einzelhandel, in der Transport- und Nahrungsmittelindustrie sowie in den Bereichen Bildung, Gesundheits- und Sozialwesen tätig. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie des DIW Econ, einer Tochter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.

„Die Corona-Krise verstärkt die Probleme des Niedriglohnsektors – vor allem für Minijobberinnen und Minijobber“, sagt Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Stiftung. Die Lage von Beschäftigten, bei denen der Minijob den Haupterwerb darstellt, sei nämlich besonders prekär. Rund drei Viertel von ihnen verdienten 2018 weniger als 11,40 Euro pro Stunde. Sie haben keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld und der drastische Beschäftigungsrückgang bei dieser Gruppe von 4,6 Prozent allein im vergangenen März zeige: Insbesondere für Haushalte im untersten Bereich der Einkommensverteilung bricht derzeit ein erheblicher Teil ihres verfügbaren Geldes weg.

Branchen bauen auf den niedrigen Löhnen auf

Insgesamt verdienten 2018 rund 7,7 Millionen und damit mehr als ein Fünftel aller abhängig Beschäftigten weniger als 11,40 Euro brutto pro Stunde und arbeiteten im Niedriglohnsektor. Ein großer Teil erhielt sogar weniger als den gesetzlichen Mindestlohn. Seit den 1990er Jahren ist Deutschlands Niedriglohnsektor um gut 60 Prozent gewachsen – in keinem anderen europäischen Land mit vergleichbarer Wirtschaftsleistung ist ein ähnliches Ausmaß erkennbar.

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Sollte der Niedriglohnsektor einst helfen, Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte in Arbeit zu bringen, verfestigt er sich zunehmend. Auch deswegen, weil einige Branchen ihr Geschäftsmodell auf niedrigen Löhnen aufgebaut haben. Mit der Folge, dass auch immer mehr qualifizierte Tätigkeiten unterhalb der Niedriglohnschwelle vergütet werden. So ist die Anzahl Niedriglohnbeschäftigter, die Tätigkeiten mit mittleren und hohen Qualifikationsanforderungen ausüben, seit Mitte der 1990er Jahre um knapp eine Million Beschäftigte auf über drei Millionen angewachsen.

Frauen sind wesentlich häufiger betroffen

Die Studie zeigt außerdem, dass sich die Hoffnung auf besser bezahlte Tätigkeiten mit der Zeit für die Hälfte der Niedriglohnbeschäftigten nicht erfüllt hat: Jeder Zweite verharrte auch vier Jahre später noch im untersten Lohnbereich. Zehn Prozent wurden arbeitslos oder waren nicht mehr am Arbeitsmarkt aktiv. Nur einem Viertel gelang der Aufstieg.

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Frauen werden zudem wesentlich häufiger als Männer sehr schlecht bezahlt. Während 2018 rund 28 Prozent der erwerbstätigen Frauen zu Niedriglöhnen arbeiteten, taten dies 16 Prozent der Männer. Im Altersvergleich sind eher Jüngere als Ältere betroffen. „Der Niedriglohnsektor hat die Arbeitslosigkeit reduzieren können“, sagt Jörg Dräger. „Allerdings zu einem hohen Preis: Niedrige Löhne dienen nicht mehr dem bloßen Einstieg in den Arbeitsmarkt, sondern sind häufig ein Dauerzustand. Sie sind dann kein Sprungbrett, sondern eine Sackgasse.“

Um den Niedriglohnsektor einzudämmen, plädieren die Studienautoren für eine Reform der Minijob-Regelung, die den Übergang in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse fördert. Eine Option sei, die Schwelle für Minijobs von 450 Euro abzusenken, sodass Beschäftigte bereits ab einer geringeren Höhe von beispielsweise 250 Euro Sozialversicherungsbeiträge abführen und so auch in Krisenzeiten besser abgesichert sind. Zusätzlich könnten Reformen im Steuer-, Abgaben- und Transfersystem dazu beitragen, Belastungen am unteren Ende der Einkommensverteilung zu reduzieren und Arbeitsanreize zu stärken. Denn: Viele Menschen, die extrem wenig verdienen, verdienen nicht mehr als jene, die von Sozialleistungen leben.

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