Flüchtlingsteam bei Olympia: Von Damaskus bis nach Rio
Yusra Mardini wäre fast ertrunken – auf der Flucht von Syrien nach Berlin. Jetzt startet die 18-Jährige als Schwimmerin bei Olympia. Sie wird verlieren. Und gilt dennoch als große Hoffnung des IOC.
Im Training, wenn ihre Kräfte schwinden, die Arme brennen und die Lunge schmerzt, denkt Yusra Mardini jedes Mal das Gleiche. In dem Moment, in dem der Schmerz zu groß, zu mächtig zu werden scheint, sagt sie sich: „Wegen der harten Tage wirst du auch wieder gute Tage haben.“ Dann schwimmt sie weiter.
Im vergangenen Jahr hat dieser Satz der Syrerin das Leben gerettet.
Yusra Mardini, gerade 18 Jahre, hat ihre Eltern verlassen und ist aus ihrer Heimat geflohen. Sie ist mit ihrer drei Jahre älteren Schwester fast im Mittelmeer ertrunken, hat Menschen vor dem Tod gerettet und sich bis nach Berlin durchgeschlagen. Ihre Geschichte hat Mardini berühmt gemacht, sie hat Hilfe und neue Freunde gefunden.
Heute, wenn in Rio de Janeiro die Olympischen Spiele eröffnet werden, wird Mardini mit ins Stadion einlaufen. Als Sportlerin, als Flüchtling, als eines der Gesichter der Spiele von Rio.
Mardini wird keine Medaille gewinnen, sie hat auch die olympische Qualifikationsnorm nicht geschafft. Doch das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat sie aufgestellt, als Teil eines Flüchtlingsteams. Dem ersten in der Olympiageschichte. Der Weltsport steckt durch die Dopingskandale, nicht nur aus Russland, in seiner größten Krise seit Jahrzehnten. Dazu kommt das Zika-Virus, die Sicherheitslage in Rio, Brasiliens instabile Regierung – das IOC braucht dringend positive Nachrichten.
Keiner der mehr als 11.000 Sportler bringt eine so dramatische Geschichte mit wie Yusra Mardini.
Vergangenen Herbst wagt sie mit ihrer Schwester Sarah die Flucht über das Mittelmeer. Die Wohnung der Familie in Darayya bei Damaskus ist zerstört. Die Schwimmhalle, in der ihr Vater die Mädchen jahrelang zu Spitzensportlerinnen gemacht hat, ist eingestürzt. Zukunft gibt es für Yusra und Sarah in Syrien nicht, die Gegenwart ist lebensgefährlich.
Ein überfülltes Schlauchboot soll die beiden in ein neues Leben tragen. Wie tausende andere will Yusra Mardini mit ihrer Schwester nachts von der Türkei nach Lesbos, der griechischen Insel, übersetzen. Auf dem Weg fällt der Motor aus, Wasser schwappt ins Boot, Rettungswesten gibt es keine, von den 20 Männern, Frauen, Kindern kann kaum jemand schwimmen. Die Flüchtlinge versuchen, sich so wenig wie möglich zu bewegen, werfen alles Überflüssige in die schwarze, unruhige See.
„Natürlich habe ich übers Sterben nachgedacht“
„Wir mussten etwas tun“, erinnert sich Yusra Mardini vor ein paar Wochen. „Jemand musste ins Wasser.“ Mardini sitzt in einem Strandkorb vor der Vereinsgaststätte der Spandauer Wasserfreunde, nahe des Berliner Olympiastadions. Die Sonne scheint, doch Mardini ist ein bisschen kühl, Berlin ist nicht Damaskus.
Wenn sie über ihre Schicksalsnacht spricht, in knappem, flüssigem Englisch, wirkt sie seltsam distanziert. „Natürlich habe ich übers Sterben nachgedacht“, sagt Mardini. „Ich habe mein ganzes Leben noch einmal vor meinen Augen gesehen, meine Eltern.“ Die Schwestern springen damals ins Wasser, erst Sarah, dann Yusra: „Wir haben gedacht: Es wäre eine Schande, wenn wir nicht helfen. Wir sind doch Schwimmerinnen.“ Dreieinhalb Stunden lang zerren sie gemeinsam mit zwei Männern das Boot durch die Nacht. Obwohl ihre Kräfte schwinden und die Kälte in ihre Körper kriecht.
Die Insassen des Bootes überleben. Ihr wasserdicht verpacktes Handy und ihren Pass hat Yusra Mardini dabei. Mehr nicht. Vater und Mutter sind mit der dritten, noch kleinen Tochter nach Jordanien geflohen, am nächsten Tag erreicht sie den Vater am Telefon: „Wir sind in Griechenland.“ Geschafft.
Hier könnte die Geschichte von Yusra Mardini enden. Doch sie geht weiter – und trägt sie schließlich über den Atlantik bis nach Brasilien.
Ein Helfer schickt sie zu den Wasserfreunden Spandau 04
Über die Balkanroute schlagen sich die Schwestern nach Deutschland durch, verstecken sich in Kornfeldern, harren an Grenzen aus. In Berlin stehen sie vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, bekommen schließlich einen Platz in einem Flüchtlingsheim in Spandau. Schon bald fragen sie einen der Dolmetscher, ob es nicht irgendwo einen Verein gebe, bei dem sie trainieren könnten. Der Helfer schickt sie zu den Wasserfreunden Spandau 04, zu Jugendtrainer Sven Spannekrebs.
Spannekrebs, 36 Jahre, arbeitet als Schwimmcoach an der Berliner Eliteschule des Sports im Olympiapark. Für Yusra Mardini wird er nicht nur Trainer, sondern Pressesprecher, Manager, Seelsorger, großer Bruder. „Als sie ankam“, sagt er, „ging es nur ums Training und darum, ihr den Start ins Leben in Deutschland zu ermöglichen.“ Er erkennt sofort, dass Mardini „eine technisch exzellent ausgebildete Schwimmerin“ ist, allerdings fehlt Übung, ihre Ausdauer und Kraft sind verschwunden.
Im März 2016 gibt das IOC bekannt, dass in Rio ein Flüchtlingsteam starten wird
Spannekrebs nimmt sie trotzdem in seine Trainingsgruppe auf, gemeinsam formulieren sie ein Ziel: die Olympischen Spiele 2020 in Tokio. Yusra Mardini trainiert, so oft sie kann. Spannekrebs ist verblüfft, wie rasch sie schneller wird, stärker. „Sie steckt sich sehr hohe Ziele und opfert dann alles dafür.“ Der Trainer kümmert sich auch sonst um die beiden Schwestern, zieht mit ihnen von Amt zu Amt. Wenn sich Yusra Mardini in Berlin verläuft, ruft sie ihn an.
Im März 2016 gibt das IOC bekannt, dass in Rio ein Flüchtlingsteam unter der olympischen Flagge starten wird: die Refugee Olympic Athletes, kurz ROA. Als Coach Spannekrebs davon hört, denkt er sofort an Yusra Mardini. Das IOC lobt dazu auch Stipendien aus, Spannekrebs schreibt dem Komitee, man habe in Berlin ein Talent, dass dringend Unterstützung brauche.
Inzwischen ist Yusra Mardinis Geschichte erst in Berlin, dann über Deutschland hinaus bekannt geworden. Bei Sven Spannekrebs klingelt immer öfter das Telefon. Zu einer Pressekonferenz, die das IOC im März in Berlin mit Yusra Mardini veranstaltet, kommen Dutzende Kamerateams, Fotografen und Reporter: Es gebe 43 Kandidatinnen und Kandidaten für die zehn ROA-Startplätze. Yusra Mardini sitzt in Kapuzenpulli und Turnschuhen vor den Kameras und strahlt, ihre Geschichte sprudelt aus ihr heraus.
„Deswegen glaube ich: Sie meistert alles.“
Sie trainiert nun noch härter, doch so große Fortschritte wie in den ersten Monaten macht sie nicht mehr. Mardini vermisst ihre Heimat, ihre Familie, ihr Kinderzimmer, den Sommer in Damaskus. Sven Spannekrebs macht sich Sorgen um sie, aber er sieht auch, wie entschlossen sie ist. „Eine schlimmere Grenzerfahrung, als gegen den Tod anzuschwimmen und dabei auch noch die Verantwortung für andere zu tragen, kann man nicht haben“, sagt Spannekrebs. „Deswegen glaube ich: Sie meistert alles.“
Natürlich stehe sie unter enormem Druck, sagt Yusra Mardini in der Vereinsgaststätte. „Das ist einerseits cool, andererseits aber auch gefährlich. Ich will allen zeigen: Ich werde nicht aufhören.“
Als sie Anfang Juni in Berlin erfährt, dass sie tatsächlich für das Flüchtlingsteam nominiert ist, sei sie vor Glück schreiend durch die Charlottenburger Wohnung gesprungen, die sie sich mittlerweile mit ihrer Schwester teilt. Bezahlt wird die Wohnung schon durch ein IOC-Stipendium. „Hab’ ich dir doch gesagt“, sagt Sarah Mardini zu ihrer kleinen, berühmten Schwester. „Sie können das Team nicht ohne dich machen.“
Einer der letzten Vorbereitungswettkämpfe ist die Deutsche Jahrgangsmeisterschaft Mitte Juni in Berlin. In die Schwimmhalle an der Landsberger Allee kommen nur wenige Zuschauer, die einzigen Kameras sind die Camcorder von Trainern und Eltern der Sportler im Wasser. Der Hallensprecher leiert die Namen der jungen Schwimmer herunter. Vor dem Start im Vorlauf über 400 Meter Lagen nimmt Mardini ihre dicken Kopfhörer ab, rückt die Badekappe zurecht, schlägt sich mit den Handflächen seitlich auf die Oberschenkel, spritzt sich Wasser ins entschlossene Gesicht, es kann losgehen.
„War ein Scheißtag für sie"
Mardini setzt sich an die Spitze des Feldes. Am Beckenrand verrät Sven Spannekrebs ein kurzer Blick auf die Stoppuhr, dass seine Schwimmerin an diesem Tag viel zu viel will und es zu schnell angeht. Sie fällt bald zurück, Spannekrebs pfeift durch die Zähne, erst alle paar Sekunden, dann bei jedem Zug. Nach 5:26,76 Minuten, fünf Sekunden schlechter als ihre Bestzeit, schlägt Mardini als Vorletzte am Beckenrand an. Sie hängt über der Bahnbegrenzung und atmet schwer, dann steigt sie aus dem Wasser und zerrt sich die Badekappe vom Kopf. Ihre nassen Haare kleben ihr am Rücken.
Spannekrebs schenkt ihr ein schiefes Lächeln und klopft ihr auf die Schulter. „War ein Scheißtag für sie“, sagt der Trainer. „Erst ist sie 45 Minuten zu spät gekommen, weil die S-Bahn auf dem Ring gestört war. Dann ist ihr Schwimmanzug beim Warmmachen gerissen. Sie ist bedient. Aber sie darf sich eben nicht beeinflussen lassen von dem, was neben ihr passiert.“
Die vergangenen Monate, das neue Land und das Training haben Yusra Mardini verändert. Sie sieht ernster aus, erwachsener. Von vier Stunden Training pro Tag im Schwimmbecken unter freiem Himmel, insgesamt 50 Kilometer pro Woche, ist ihr Gesicht gebräunt. Nur dort, wo die Schwimmbrille sitzt, ist die Haut hell geblieben. Mardini kann immer noch ansteckend und ausgelassen lachen, dann blitzen ihre dunklen Augen.
Immer wieder muss sie die Geschichte ihrer Flucht erzählen
Bisweilen verlieren diese Augen ihren Glanz. Zum Beispiel, wenn sie wieder einmal von ihrer Flucht über das Meer berichten soll – jene Geschichte, die sie in unzählige Kameras und Diktiergeräte erzählt hat und inzwischen fast wortgleich abspulen kann. „Alle Reporter wissen doch, was passiert ist“, sagt Mardini. „Und dann muss ich es trotzdem noch mal erzählen.“
Fast alle Anfragen – von „Sports Illustrated“ bis zum „New Yorker“ – hat Spannekrebs abgelehnt. Doch die E-Mails werden nicht weniger: Verlage schlagen Buchprojekte vor, US-Sender möchten Dokus drehen, Hollywoodstudios wollen „die Geschichte kaufen“, ihr Leben verfilmen. Yusra, die Autobiografie. Yusra, die Serie. Yusra, der Film.
Yusra, das Mädchen, muss viele Entscheidungen treffen.
Und nicht nur für sich allein. Für ihre Familie, die in der syrischen Heimat alles verloren und 10000 US-Dollar für die Flucht der beiden Schwestern zusammen ausgegeben hat, bedeutet ihre Bekanntheit die Chance, sich ein neues Leben aufzubauen. Nicht nur das IOC setzt auf Yusra Mardini als Botschafterin, auch der Deutsche Olympische Sportbund und das UN-Flüchtlingshilfswerk werben mit der Jugendlichen. Man kann sich Yusra Mardini gut als Gesicht einer Kampagne vorstellen, Trainer Spannekrebs bekommt entsprechende Anfragen, „aber nicht für ein Autohaus Müller, sondern international“.
Nach Rio konnte niemand aus ihrer Familie mitkommen
Erst einmal wird Mardini in der Eliteschule des Sports im Olympiapark bleiben. Vielleicht, sagt sie, werde sie irgendwann mal Pilotin. Ihre Familie ist mittlerweile in Berlin wieder vereint, zumindest fast. Die Mutter und die kleine Schwester leben in Lichtenberg, der Vater in Spandau. „They’re still in the Heim“, sagt Yusra Mardini – sie sind noch im Heim. Nach Rio konnte niemand aus ihrer Familie mitkommen, dazu hätte der Aufenthaltsstatus endgültig geklärt sein müssen.
Dafür flog Sven Spannekrebs mit nach Brasilien, als offizieller Schwimmcoach von Team ROA. In Rio de Janeiro, nach der Eröffnungsfeier, will sich Yusra Mardini ganz auf den Wettkampf konzentrieren. Am Samstag startet sie über 100 Meter Schmetterling, am Mittwoch über 100 Meter Freistil. Bei beiden Strecken wird sie im Vorlauf ausscheiden, das steht wohl schon fest.
Stören wird das niemanden, schon gar nicht beim IOC. In einer Zeit, in der alle Sportler unter Dopingverdacht stehen, ist jemand, der mit vollem Einsatz tapfer hinterherschwimmt und ehrenvoll ausscheidet, nicht die schlechteste Werbung. Yusra Mardini weiß, dass sie es mit ihren sportlichen Leistungen allein nie nach Rio geschafft hätte. „Natürlich ist meine Geschichte ein Teil des Ganzen. Aber selbst in meiner Geschichte geht es ums Schwimmen, weil ich im Meer war“, sagt sie trotzig. „Deswegen ist meine Geschichte berühmt geworden. Es geht ums Schwimmen.“
Die Flagge? Ist ihr egal
In den vergangenen Monaten ist Yusra Mardini immer wieder gefragt worden, für welches Land sie am liebsten antreten würde. Für Syrien? Für das Flüchtlingsteam? Oder gar für Deutschland? „Mir ist nicht wichtig, unter welcher Flagge ich ins Stadion einlaufen werde“, sagt Yusra Mardini dann. „Ich bin sicher, es wird nur eine Sache geben, an die ich in dem Moment denke. Das Wasser.“
An die hohen Wellen, die es schlagen kann. Und die Orte, an die es einen spült, wenn man bereit ist, hineinzuspringen.