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Schwere Reise. Ein Bus bringt die Familienangehörigen der Opfer in das kleine Alpendörfchen Seyne-les-Alpes.
© Boris Horvat (AFP)

Absturz von Flug 4U9525: Vom Fliegen träumte Andreas L. schon als Jugendlicher

Mit seinem Pilotenschein hatte Andreas L. sich seinen Traum erfüllt. Ein netter, normaler junger Mann. So beschreiben sie ihn in seiner Heimatstadt, im Fliegerclub, bei der Lufthansa. Wer war der Co-Pilot, der offenbar sich und 149 Menschen in den Tod riss?

Klaus Radke dreht sich weg. Mit der Hand verdeckt er seine glasigen Augen, das Kinn zittert. Ein paar Sekunden ringt er um Fassung, dann versucht er wieder, über das für ihn Unvorstellbare zu sprechen: „Die ganze Welt sucht eine Antwort auf dieses Unglück, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Andreas die Germanwings-Maschine absichtlich zum Absturz gebracht hat.“ Als Vorsitzender des Luftsportclub Westerwald hat Radke Andreas L. gekannt. Er hat erlebt wie sich der Jugendliche aus Montabaur, der nur einen Kilometer Luftlinie vom Segelflugplatz entfernt wohnte, sich seinen Traum vom Fliegen erfüllt hat. „Ein ruhiger Typ, mehr kann ich nicht sagen“, beteuert Radke. Mit 14 Jahren trat er dem Verein bei, lernte Segelfliegen, erst begleitet von Fluglehrern. Noch vor seinem 18. Lebensjahr flog Andreas L. allein. „Darüber entscheidet der Fluglehrer", erklärt Radke, der im Vereinshangar vor den Flugzeugen des Clubs steht.
In der Traueranzeige, die der LSC Westerwald vor zwei Tagen in einer örtlichen Zeitung geschaltet hatte, habe der Verein bewusst auf den Nachnamen seines Mitglieds verzichtet. Dann nannte ihn der ermittelnde Staatsanwalt in Marseille bei einer Pressekonferenz. Seitdem wird die Erklärung für den Flugzeugabsturz mit 150 Todesopfern in Montabaur vermutet, bei Vereinsmitgliedern, Nachbarn oder der Familie von Andreas L.

Diese eine wichtige Frage: Warum?

Dessen Elternhaus liegt in einem guten Wohngebiet. Am späten Nachmittag wird es von Kriminalbeamten nach Indizien durchsucht, nach irgend etwas, das der 28-jährige L. dort vielleicht hinterlassen hat und das Aufschluss geben könnte über diese eine wichtige Frage: Warum? Polizisten bewachen das Grundstück schon seit dem Mittag. Ein Nachbar im Rentenalter sagt, er weigere sich zu glauben, dass der junge Mann das Unglück absichtlich herbeigeführt habe. Seitdem er vom Verdacht der französischen Ermittlungsbehörden gehört habe, könne er keinen klaren Gedanken mehr fassen. Andreas Vater sei häufig weg gewesen, sagt ein andere Nachbar. Aber auch L. habe von Zeit zu Zeit in einer Wohnung in Düsseldorf gelebt. Auch dort hat die Staatsanwaltschaft eine Durchsuchung angeordnet, die am Nachmittag beginnt.

Klaus Radke, Vorsitzender des Fliegerclub LSC Westerwald.
Klaus Radke, Vorsitzender des Fliegerclub LSC Westerwald.
© Patrik Stollarz/AFP

Klaus Radke sah L. zum letzten Mal im vergangenen Herbst. Da absolvierte er auf dem Segelflugplatz von Montabaur notwendige Tests und Flugstunden, um seine Lizenz zu erneuern. Mit Erfolg. „Andreas war ein ruhiger Typ, aber er muss glücklich gewesen sein“, sagt Radke. Wer sein Hobby – gar seinen Traum – zum Beruf gemacht habe, der finde mehr Erfüllung als andere. „Sollte Andreas mit Absicht gehandelt haben, würde das alle psychologischen Tests auf dem Weg zum Berufspiloten in Frage stellen“, sagt Radke und bittet, seinen Vereinskameraden nicht vorschnell zu verurteilen. Aber die medizinisch-psychologischen Tests, die Radke meint, sind allesamt Tests für Bewerber – in der Ausbildung selbst geht es dann um andere Inhalte. Dieses Detail könnte ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass die Lufthansa über die psychische Verfassung ihres Piloten wenig wusste.

So viele Spekulationen – und nur wenig Gewissheit

Schwere Reise. Ein Bus bringt die Familienangehörigen der Opfer in das kleine Alpendörfchen Seyne-les-Alpes.
Schwere Reise. Ein Bus bringt die Familienangehörigen der Opfer in das kleine Alpendörfchen Seyne-les-Alpes.
© Boris Horvat (AFP)

2008 hat Andreas L. seine Ausbildung zum Piloten bei der Lufthansa begonnen. Das erklärte der Vorstandschef der Germanwings, Carsten Spohr, am Donnerstag. In einem Nebensatz erwähnte Spohr zunächst, dass der Kopilot seine Ausbildung für längere Zeit unterbrochen habe. Aber Spohr sagte nicht warum und löste damit weitere Spekulationen aus. War der junge Mann womöglich krank? War er psychisch belastet, so dass er die Ausbildung unterbrechen musste, oder steckten finanzielle Gründe dahinter? Mehrere zehntausend Euro kostet die Ausbildung zum Piloten. Musste L. tatsächlich die medizinischen Eignungstests der Bewerberphase wiederholen oder hat er nur Ausbildungsinhalte wiederholt? Carsten Spohr konnte und wollte dazu nichts sagen. Denn auch nach dem Tod gelte die „medizinische Schweigepflicht“. Der gesundheitliche Zustand von Andreas L. ist nun ein Fall für die Staatsanwaltschaft. Nach der Ausbildung musste L. wie viele andere Kollegen eine elfmonatige Wartezeit überbrücken. Er arbeitete als Flugbegleiter, aber auch in der von der Lufthansa selbst betriebenen Luftverkehrsschule in Arizona (USA) und Bremen, wo sich am Donnerstag niemand äußern wollte. Ab 2013 bekam L. einen Job als Erster Offizier, also als Co-Pilot, und hatte bis zu seinem letzten Flug mehr als 600 Flugstunden hinter sich.

Reise zum Unglücksort

Die Eltern von Andreas L. sind unterdessen nach Frankreich geflogen. Genauso wie auch die Angehörigen des Flugkapitäns – und der Opfer. Sie alle sollen, wenn auch angeblich getrennt, vor Ort in Seyne-les-Alpes informiert werden. Psychologen sagen, es helfe bei der Bewältigung, dem Unglücksort nahe – wenn auch nicht direkt dort – zu sein. Auch Familie L. hat einen Sohn verloren. Als sie die Reise in die Alpen antraten, wussten sie allerdings noch nichts von diesem neuen, schrecklichen Verdacht.

Der Donnerstag ist ein sonniger Tag im Ort Seyne-les-Alpes. Die Rentnerin Josette steht mit ihrer Nachbarin und Freundin Janique in Sichtweite vom fertig eingerichteten Krisenzentrum in einer Sporthalle. Hier sollen die Angehörigen der Opfer informiert werden. Ihre vollen Namen wollen die beiden Damen lieber in keiner Zeitung lesen. Sie sprechen über die schleppend angelaufenen Bergungsarbeiten und – obwohl die Sonne scheint – über die Möglichkeit eines Wetterwechsels, die Gefahr von Regen, der alles noch verlangsamen, gar Wrackteile in Richtung des Dorfes spülen könnte. Janique hält die rechte Hand vor den Mund und schüttelt den Kopf. Sie ist den Tränen nahe. Es gibt so viele Spekulationen – und nur wenig Gewissheit.

Bei gutem Wetter ist der abgelegene Unglücksort nicht ganz so schwer zu erreichen, wie berichtet. Bis an den Fuß des kleinen Berges, an dem 4U9525 auf einer Höhe von circa 1500 Metern „pulverisiert wurde“, wie es Josette formuliert, könne man zu Fuß in etwa zwanzig Minuten gelangen, sagen die beiden Rentenrinnen. Vorausgesetzt, man bringt das richtige Schuhwerk mit. Es ist ein beliebtes Plätzchen für die Hirten von Seyne, für ihre Schafs- und Ziegenherden. Doch in diesen Tagen denkt keiner ans Wandern, die Schafe bleiben im Stall. Überhaupt wagt angesichts der vielen Opfer niemand, an sich zu denken. Verloren schauen die Seynois auf ihr Dorf und was plötzlich daraus geworden ist. Seyne-les-Alpes hat sich fest vorgenommen, ein guter Gastgeber zu sein. Und doch wird der Name für immer mit einer der schlimmsten Luftfahrtkatastrophen des Landes in Verbindung gebracht werden.

Alle würden sie ihre Wohnzimmer für die angekommenen Angehörigen öffnen

Schwere Reise. Ein Bus bringt die Familienangehörigen der Opfer in das kleine Alpendörfchen Seyne-les-Alpes.
Schwere Reise. Ein Bus bringt die Familienangehörigen der Opfer in das kleine Alpendörfchen Seyne-les-Alpes.
© Boris Horvat (AFP)

Die Gendarmerie hat mehrere der kleinen Straßen abgesperrt und versucht, Schaulustige aus der Masse der Journalisten und Anwohner zu filtern. Fünf Helikopter pendeln zwischen einer Wiese vor dem hiesigen Supermarkt und dem kleinen Berg. Kerosin-Lastwagen blockieren die schmalen Wege. Am Mittwoch standen plötzlich Präsident François Hollande, Bundeskanzlerin Angela Merkel und der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy auf dem Supermarktparkplatz. Hunderte Journalisten mit unzähligen Übertragungswagen und Kamerateams sind vor Ort. Doch die Dorfbewohner haben Verständnis und Geduld. Seyne-les-Alpes ist „la France profonde“, ganz tief in Frankreich, dort wo wenige Pariser an normalen Tagen hinschauen. Dabei sind die Seynois hilfsbereite, aufgeschlossene Menschen. Alle würden sie ihre Wohnzimmer für die heute angekommenen Familien und Freunde der Opfer öffnen, beteuern sie auf den Straßen im Zentrum. Die Leichen und Körperteile sollen, erst einmal geborgen, in Kühltransportern nach Marseille gebracht und dort identifiziert werden. Mit DNA-Tests wollen die Behörden eindeutig die Identität der Opfer bestimmen und mit der Passagierliste des Fluges abgleichen. Doch Lufthansa hat sich um alles gekümmert. Nach der Ankunft am Nachmittag werden die Angehörigen sofort abgeschirmt von der Öffentlichkeit zu einer Trauerfeier geleitet, die Seynois wirken geradezu hilflos mit ihren eigenen Hilfsangeboten. Der Bürgermeister etwa wollte sein Gästezimmer zur Verfügung stellen. Doch die Fluggesellschaft mietete das größte Hotel im Nachbarort Le Vernet. Das Haus, in dem die vielen Familien nun auf die Bergung der Opfer warten, trägt einen tragisch passenden Namen: „l’inattendu“, das Unerwartete. Niemand, auch in den kleinen Dörfern rund um den Unglücksort, hätte sich je so etwas ausmalen können. Pro Jahr gibt es hier drei oder vier tote Bergsteiger oder Amateurpiloten, aber eine Passagiermaschine mit 150 Opfern? „Nein, niemals!“, sagt Janique.

Den Tränen nahe

Immer wieder fahren Kolonnen von Feuerwehrwagen Richtung Marseille. Sie waren gekommen, um Leben zu retten. Doch die Feuerwehr, die aus der ganzen Region angerückt ist, kann in Seyne nichts mehr tun. Allein den Kindern von Seyne gefallen die Sirenen und Lichter. Sie stehen auf den Bürgersteigen und lächeln glücklich, die Münder weit offen und die Zeigfinger dann in den Himmel auf die Helikopter gerichtet. „Sie stellen aber auch Fragen, schwierige Fragen“, sagt Janique, die im Rathaus arbeitet, zeitweise aber auch im Ort als Kindergärtnerin eingesetzt wird. Ein Kind hätte gefragt, wer so etwas Schlimmes anrichten oder auch nur zulassen würde. Janique ist wieder den Tränen nahe.

Janique ist eine kräftige Französin, der die Locken ins Gesicht fallen, die an normalen Tagen bestimmt oft und inbrünstig lacht, mit den Kindern spielt, ihr ganz normales kleinbürgerliches Leben in den Bergen führt. „Was ist wenn es doch ein Terrorist war?“, fragt Janique. Was solle sie den Kindern dann erklären? „Vielleicht war der Co-Pilot ein Terrorist!“, sie haben Angst in Seyne, alles scheint möglich. Dann, am Mittag, spricht der Staatsanwalt von Marseille, Brice Robin. Und plötzlich steht da ein neuer schrecklicher Verdacht.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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