Prozess zur Loveparade-Katastrophe: Leise Hoffnung auf späte Gerechtigkeit
Bei der Loveparade 2010 in Duisburg sterben 21 Menschen in einer Massenpanik, 550 werden verletzt. Jetzt beginnt endlich der Prozess gegen Mitarbeiter der Stadt und des Veranstalters.
Die Hoffnung auf Gerechtigkeit kann grausam sein, gerade wenn sie so selbstverständlich erscheint und doch nicht erfüllt wird. Das erfahren gerade die Hinterbliebenen der NSU-Mordserie in ihrem Langzeitprozess in München. Und so wird es womöglich auch den Opfern und Hinterbliebenen gehen, die ihre Hoffnung auf Aufklärung und Gerechtigkeit in den wohl größten Prozess der jüngeren deutschen Geschichte legen. An diesem Freitag beginnt in Düsseldorf nach sieben Jahren die gerichtliche Aufarbeitung der Loveparade-Katastrophe vom 24. Juli 2010.
Damals starben während einer Massenpanik 21 Menschen, fast alle erstickten, mehr als 550 andere wurden verletzt oder auch schwer traumatisiert. Die Toten stammen aus Deutschland, Australien, den Niederlanden, Spanien, Italien und China. Sie waren zwischen 17 und 38 Jahren alt.
Die Staatsanwaltschaft hat sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg aus dem Bauamt und vier Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung angeklagt; aber keine hochrangigen anderen Verantwortlichen, weder den Lopavent-Chef Rainer Schaller, nicht den inzwischen abgewählten Oberbürgermeister Adolf Sauerland noch Vertreter der Polizei. 60 Nebenkläger werden in diesem Prozess von ihren 60 Anwälten vertreten. Und weil es in Duisburg für einen solchen Mammutprozess keinen Platz gibt, wurde im benachbarten Düsseldorf ein Saal im Congress Center auf dem Messegelände angemietet.
Einer, der nicht dabei sein wird, der aber ähnliche Gegebenheiten kennt, ist der Opferanwalt Jens Rabe. Er vertritt seit Jahren Semiya Simsek, die Tochter des ersten Mordopfers der NSU. Rabe kennt auch aus anderen Prozessen wie dem nach dem Amoklauf von Winnenden die großen Erwartungen der Hinterbliebenen. Hoffnungen können enttäuscht werden, ein Gerichtsverfahren kann für Hinterbliebene zu einer zweiten Traumatisierung führen. Rabe sagt, sein wichtigstes Ziel als Anwalt sei es, den Opfern eine Stimme zu geben. Aber er muss seine Mandanten auch vor sich selbst schützen. Es gebe Mandanten, die nicht akzeptieren könnten, dass es oft „keine befriedigende Aufklärung gibt“. Opfersein dürfe dann nicht Lebensinhalt bleiben, sagt Rabe.
Der Prozess findet im Congress Center Düsseldorf statt
Der Staatsanwaltschaft war es zunächst nicht gelungen, das Landgericht Duisburg davon zu überzeugen, den Prozess zu eröffnen. Der erste Gutachter, urteilte die 5. Strafkammer in Duisburg im April 2016, habe seine Pflicht zur „Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Objektivität verletzt“. Der Brite Keith Still, der in England die Wissenschaft von Menschenmengen und deren tödlicher Kraft lehrt, hatte sich während seiner gutachtlichen Arbeit zu öffentlichen Urteilen hinreißen lassen. Es sei zu „Planungsfehlern und Genehmigungsfehlern“ gekommen, die ursächlich für die Katastrophe waren. Womöglich stimmte das – aber das Gericht wollte sich aufgrund dieser Parteinahme und anderer Ungereimtheiten in Stills Arbeit, der nie als Gerichtsgutachter gearbeitet hatte, nicht auf ihn einlassen. Die Staatsanwaltschaft legte eine 750-seitige Beschwerde ein, Kommunalpolitiker sprachen von „Justizskandal“, die damalige Ministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen sagte, sie akzeptiere das Urteil als Ministerpräsidentin, „aber nicht als Mensch“.
Ein Jahr später, im April 2017, hob der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf das Urteil auf. Die Taten seien „mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachweisbar“, hieß es nun. Einer der Verteidiger der zehn Angeklagten im Prozess ist Björn Gercke, Strafrechtsprofessor aus Köln. Er hatte mit seinen Recherchen maßgeblich Anteil daran, dass die Staatsanwaltschaft mit dem Gutachter Still nicht durchkam. „Ich glaube nicht, dass man die strafrechtliche Schuldfrage in diesem Prozess klären kann. Dafür sitzen womöglich auch die falschen Angeklagten im Gericht“, sagte Gercke vor Prozessbeginn. Er findet, dass die Staatsanwaltschaft sich verrannt hat und dass womöglich am Tag des Unglücks selbst Fehler gemacht wurden, die aber nicht die Angeklagten zu verantworten haben.
Tatsächlich hat die Anklage der Staatsanwaltschaft das Geschehen am Tag selbst, beispielsweise mögliches Versagen der Polizei, bisher außer Acht gelassen. Man konzentriert sich darauf, Stadt und Veranstalter nachzuweisen, dass man zu viele Menschen zugelassen habe und durch bauliche Maßnahmen wie Zäune dafür verantwortlich sei, dass die Besucher nicht ausweichen konnten.
Vielleicht sind jetzt die Falschen angeklagt, meint ein Verteidiger
In den sieben Jahren haben die, die das Unglück überlebt haben, immer wieder öffentlich ihre Erlebnisse geschildert. Wie es plötzlich in dem 400 Meter langen, 18 Meter breiten Karl-Lehr-Tunnel, in den man von zwei entgegengesetzten Seiten hineinlaufen konnte, nicht mehr weiterging. Denn der einzige Ausgang zur sogenannten Rampe, die aufs Festgelände führte, war dicht mit Menschen. Panik macht sich langsam breit, Besucher werden ohnmächtig, trampeln über andere, die gestürzt sind, hinweg. „Wie im Horrorfilm“, „ein Albtraum“, erinnern sich einige, andere sagen, sie hätten irgendwann mit ihrem Leben abgeschlossen, „ich dachte, jetzt sterbe ich“, sie haben dann die Augen zugemacht, an ihre Familie gedacht, manche lagen am Boden, zwischen ihnen erstickten 21 Menschen. Noch heute plagen Retter wie Opfer Träume, Panikattacken, Schlafstörungen, Konzentrationsmängel. Die Bilder im Kopf gehen nicht fort.
Die Hauptakte der Anklage umfasst mehr als 40.000 Seiten. Es werden noch weitere hinzukommen, denn es wurde ein zweiter Gutachter bestellt, der einen ersten Teil seiner Arbeit bereits abgeschlossen hat – 2.000 Seiten. Laut „Spiegel“ kommt dieser Gutachter zu dem Schluss, dass schon bei der Planung des Loveparade-Zuges und dessen Genehmigung Entscheidungen getroffen worden seien, die in die Katastrophe geführt hätten.
Björn Gercke wiederum, der seinen Mandanten zu verteidigen hat, sagt: „Ohne das Leid und die Schicksale der Opfer und ihrer Hinterbliebenen relativieren zu wollen, kann ich sagen, dass diese sieben Jahre auch meinen Mandanten in allen Belangen an seine Grenzen gebracht haben. Er lebt unter einem unerträglichen Vorwurf, der aus unserer Sicht völlig falsch ist, das ist eine enorme fortdauernde psychische Belastung.“
Armin Lehmann
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