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Jede Zeile verbirgt eine andere Zeile. Jürgen Becker.
© Isolde Ohlbaum/laif

Büchner-Preis an Jürgen Becker: Wo der Blick sich fängt

Chronist der Augenblicke: Der Dichter und Erzähler Jürgen Becker erhält im Oktober den Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

Ob das ein und derselbe Autor sein könne, der in einem halben Jahrhundert so viele verschiedene Schreibweisen angesammelt habe, fragt sich Jürgen Becker im Nachwort zu „Wie es weiterging“, einem „Durchgang“ durch sein Prosawerk. Vielleicht muss man tatsächlich kurz innehalten, um die jeden narrativen Zusammenhang verweigernden Textagglomerationen seiner frühen Jahre – stark topografisch geprägte Bücher wie „Felder“, „Ränder“ und „Umgebungen“ – mit einem sehr viel stoffsatteren, Ost-West-Vergangenheiten mit geschichtlicher Tiefenschärfe aufnehmendem Roman wie „Aus der Geschichte der Trennungen“ zusammenzubringen. Doch die Frage nach der Identität dieses 1932 in Köln geborenen und in Erfurt aufgewachsenen Jürgen Becker stellt das, womit sich seine Literatur auseinandersetzt, gewissermaßen auf den Kopf. Denn alles, was sich seine Bücher an Ich-Gewissheit inzwischen manchmal schenken, setzen sie im Namen eines multiplen Ichs bald wieder aufs Spiel. Verfestigung und Verflüssigung wechseln sich ab. Sie erkunden aufs immer Neue, wie dieses flüchtige Ich erst von seinen Erfahrungen organisiert wird, bevor es wiederum sie in einer vorläufigen Form organisiert.

Jürgen Becker treibt bis heute Grundlagenforschung zur Entstehung von erzählerischen Zusammenhängen – und das mit einer wachen poetischen Sensibilität, deren elegischer Grundton einen süchtig machen kann. Wenn er sich dabei anfangs, in den 60er Jahren, als Instanz so unsichtbar wie möglich machte, lag das auch an der Zeit. Sie war aus auf eine psychologieabstinente, objektivierende, das Ich komplett aussparende Literatur, wie sie im Nouveau Roman entstand. In konzentrischen Kreisen erweiterte sich sein Blick um Autobiografisches und schließlich Historisches – nach dem Mauerfall bis tief hinein in den deutschen Osten.

Der rein phänomenologische Ausgangspunkt kam ihm dabei nie abhanden. Mit nüchterner Präzision hält er die kontinuierlich fließende Diskontinuität von Wahrnehmungsmomenten fest. Becker hat als Grundzug seines Schreibens denn auch eine „Chronik der Augenblicke“ ausgemacht. Darin stecken Dauer und Vergänglichkeit zugleich. Chronos und Kairos beleben einander, wie die sich unerbittlich füllenden Archive der Zeit immer wieder glückhafte Konstellationen hervorbringen. Aus dieser Spannung bezieht Becker seine anhaltende Neugier, die nach jedem Buch einen weiteren „Abschied“ erfordert. Denn es „hinterlässt keine Methode, die ein Weitermachen garantiert“, höchstens den Wunsch danach: „Ich weiß heute nicht, wie es morgen mit dem Schreiben weitergeht, und im Nachhinein wundert es mich, dass dieser Zustand des Nichtwissens, des Wartens, fünf Jahrzehnte angedauert hat.“

Wahrnehmung und Schreiben verschmelzen

Darauf hat sich auch der Lyriker Becker eingestellt, dessen Bewusstseinslandschaften von der blitzhaften Notiz bis zur groß angelegten archäologischen Spurensicherung im offenen Gelände ähnliche Ausdehnungsprozesse mitgemacht haben. Nirgends kann man sein Verfahren besser studieren. Das fast episch zu nennende, fünfsätzige „Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ aus dem Jahr 1988 setzt im zweiten Teil etwa folgendermaßen ein: „es regnet draußen. Wir bleiben im Haus // und die Tischebene ist noch ruhig. Sie bleibt ruhig, / im trüben Licht des Vormittags, bis wir anfangen, / die Stille zu vernichten. Es geht langsam, und / man hört, wie immer wieder der Stift aufs Papier // fällt. So entsteht (die kurzen Atemzüge heut früh / lassen mehr nicht zu) der Anfang einer Fortsetzung, / die zu warten gelernt hat, bis jetzt. Ein Radio dröhnt / plötzlich auf. Aber es ist nichts ohne Logik / geschehen, obwohl aus den verschiedensten Bereichen / Gewitter gemeldet werden und keine Zusammenhänge / entstehen, die durch ein einziges Echo verschwinden // und damit widerlegt sind. Jede Zeile verbirgt / einen anderen Text, der in den Schichten unter / den Wörtern zu suchen ist. Und dennoch, wir / fangen nicht an hinterm Rücken der Dinge; / der Blick schweift ja hierhin und dorthin, // bis er sich fängt, jetzt, im Wintergeäst. Es regnete / eben; es fängt jetzt erst an.“

Auffällig ist nicht nur, wie hier Wahrnehmung und Schreiben verschmelzen. Es ist auch jene eigentümliche Mischung aus Details eines konkreten Orts zu einer bestimmten Zeit, der dennoch nie ganz aus seiner Gesichtslosigkeit erwacht. Das Haus, das Land, die nahen Wälder: Bei Jürgen Becker weiß man oft genau, wo man sich befindet, in Köln oder Odenthal im Bergischen Land. Und doch sind sogar die restlos lokalisierbaren Schauplätze nicht allzu weit von dem entfernt, was der französische Soziologe Marc Augé „NichtOrte“ genannt hat – wenn auch in anderer Absicht.

Augé meinte transitorische Räume wie Flughäfen, angesiedelt außerhalb einer fixen geschichtlichen Verankerung. Auch Beckers Landschaften geben allenfalls Relikte preis, helfen allerdings Erinnerung und Imagination umso mehr auf die Sprünge. Deshalb nimmt Becker Landschaften auch gerne als reine Bilderfolge wahr: in Gedichten, die als „Reisefilm“ angelegt sind, vom Zugfenster aus gesehen, aber auch nicht unbedingt die Wirklichkeit brauchen.Becker hat immer wieder Texte zu Bildern seiner Frau, der Malerin Rango Bohne verfasst.

Gerade unter jüngeren Dichtern genießt er für seine Kunst höchste Anerkennung. Nico Bleutge verdankt ihm etwas von der Genauigkeit seiner Wahrnehmungsexerzitien, Lutz Seiler durchkämmt die Abraumhalden der DDR von östlicher Seite aus nach Spuren im Gelände. Norbert Hummelt hat seine rheinische Heimat bei ihm wieder entdeckt – und Marcel Beyer die Problematisierung eines auch ihm fragwürdig gewordenen Ichs.

Eine überzeugende Wahl

Nun verleiht ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt am 25. Oktober den mit 50000 Euro dotierten Georg-Büchner-Preis. Becker habe, so die Jury, „die Gattungsgrenzen von Lyrik und Prosa beharrlich neu vermessen und verändert. Seine Gedichte leben aus einer sensiblen, sinnlichen, neugierigen Weltzugewandtheit und einer vollendeten, dabei ganz unaufdringlichen Sprachkunst. Bei aller bildlichen Brillanz und aller Lust am leuchtenden Detail der umgebenden Natur erkunden sie stets eine von den Spuren der Geschichte und ihren Katastrophen gezeichnete Landschaft.“

In einer gefährlich hildesheimerisierten und leipzigerisierten Gegenwartsliteratur ist dies ein wohltuende Ermunterung, sich mit einem singulären Werk zu beschäftigen, das einem noch einmal die Augen öffnen kann, was zeitgenössische Dichtung mag. Die Wahl von Jürgen Becker ist deshalb eine überzeugende Wahl. Trotzdem kommt sie zum jetzigen Zeitpunkt viel zu spät.

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, der man weder ästhetischen Mut noch ausgeprägten Gegenwartssinn nachsagen kann, hat von neuem bewiesen, das sie das Darmstädter Staatstheater offenbar vor allem als letzte Lorbeerabwurfstelle ansieht, bevor man dem Dichter andere Kränze flechten muss.

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