SPD vor dem Bundesparteitag: Schulz und die fiese Fahrstuhlfrage
Er hat ein sympathisches Buch geschrieben, er wirkt wie ein ehrlicher Mann. Martin Schulz kämpft – und trotzdem glauben sie in der SPD nicht mehr so recht an seinen Sieg.
Die Frage mit dem Fahrstuhl kommt etwas unvermittelt. Martin Schulz blickt erst mal eine Weile ins Dunkel der Bühnenverkleidung. Man sieht, in seinem Kopf rattert es. Am Sonntagmorgen sitzt der Hoffnungsträger der SPD im Berliner Ensemble an der Rampe. Auf einem niedrigen Tischchen ist sein neues Buch aufgebaut; „Was mir wichtig ist“ heißt es. Folgerichtig präsentiert er es gleich selbst, liest auch ein paar Passagen, dazwischen ist die Moderatorin Amelie Fried mit ihren Fragen dran. Und jetzt also die Fahrstuhl-Prüfung: Stellen Sie sich vor, Sie sind in einer Firma beschäftigt, in der Sie nicht so gut vorwärts kommen, wie Sie gerne würden – und dann stehen Sie auf einmal mit Ihrem Chef ganz allein im Aufzug und wissen: Ich habe jetzt zwei Minuten, um ihn von mir zu überzeugen. Schulz zieht die Augenbrauen hoch. Doch Fried kennt keine Gnade. „Zwei Minuten“, sie zückt ihr Smartphone. „Ich stoppe. Los!“
Man macht schon was mit als Kanzlerkandidat
Man macht schon was mit als Kanzlerkandidat. Aber bei Licht betrachtet schwebt genau diese Frage ja seit dem Moment im Januar über ihm, als Sigmar Gabriel dem gerade ausgeschiedenen Präsidenten des Europaparlaments die Kanzlerkandidatur zu Füßen legte und den SPD-Vorsitz gleich mit dazu. Sie war eine Weile verdeckt in den Wochen, als sich dieser Martin Schulz aus Würselen urplötzlich als demoskopische Rakete erwies, an der Amtsträgerin einfach vorbeischoss, zur allgemeinen Überraschung, erst recht seiner eigenen. Als ihn die SPD im jubelnden Überschwang mit 100 Prozent zum Parteivorsitzenden wählte, schlug er kopfschüttelnd, fassungslos die Hände vors Gesicht.
Doch seit die Umfragen wieder in die Richtung jenes Tiefpunkts sinken, an dem Gabriel kapitulierte, ist die Fahrstuhlfrage zu ihm zurückgekehrt: Warum, Martin Schulz, sollen die Leute Sie eigentlich besser finden als die Bundeskanzlerin Angela Merkel?
Zwei Stunden vor geneigtem Publikum auf Theaterstühlen sind keine schlechte Gelegenheit für eine Antwort. Oder doch zumindest dafür, sich an eine Antwort ranzuarbeiten. An diesem Sonntag wartet der nächste SPD-Parteitag darauf, ein sehr ernüchterter diesmal, um es freundlich zu sagen. Solche, die sich in der Partei auskennen, beschreiben die Stimmung schon mal mit Worten wie „depressiv“ oder „katastrophal“. Dabei steht die Sozialdemokratie in den Umfragen gar nicht so übel da. Zu Jahresbeginn hätten Werte um 25 Prozent für Seufzer der Erleichterung gesorgt. Aber so funktioniert politische Psychologie nicht. Wer sich auf dem Weg zum Sieg wähnte, kommt mit dem Rückfall auf Platz zwei nicht mehr so gut klar.
Schulz hat eine seltene Begabung zur Selbstironie
Man kann das am Kandidaten Schulz übrigens gut studieren. Eigentlich ist er ein jovialer Mensch mit der seltenen Begabung zur Selbstironie. Wenn er auf der Bühne beschreibt, wie sich seine „Nerdwerdung“ vollzogen hat, als er jetzt sein altes Nokia-Handy – „Ladezeit von 36 Stunden“ – gegen so ein neumodisches I-Phone tauschen musste, „unter Zwang“, dann lacht das Publikum verständnisvoll; sogar die Jungen im Saal: Schau an, wie bei unseren Alten!
Oder diese Geschichte von seiner Mutter, die ausgerechnet den CDU-Ortsverein mitgegründet hat. Das war aber eine rheinisch-katholisch-soziale CDU, versichert Schulz: „Tief im Herzen war die links.“ „Bisschen so wie Merkel?“, stichelt die Moderatorin. Schulz stichelt wie aus der Pistole zurück: „Bis jetzt war es ein angenehmes Gespräch!“
Es gibt auch einen anderen Schulz
Doch es gibt auch einen anderen Schulz. Einen unlustigen, einen gereizten. Am vorigen Freitag steht der Kandidat vor dem Wirtschaftsforum der SPD. Der Saal im vierten Stock der Berliner Humboldt- Box hat etwas vom Innenraumcharme eines Bundeswehr- Mannschaftstransporters. Aber auch hier sitzt geneigtes Publikum. Präsident Michael Frenzel kann sogar vermelden, dass der erst zwei Jahre alte Unternehmerverein jetzt 300 Mitglieder hat, davon 100 neu in den letzten Monaten – Wirtschaft geht halt mit der Konjunktur. Industriepräsident Dieter Kempf hält eine freundliche Gastrede, verbunden mit der Mahnung, programmatisch eine Unternehmensteuerreform nicht zu vergessen.
Dann: „Bühne frei für Martin Schulz“. Der besteigt das Podium. Man habe ihm ja eine schöne Rede aufgeschrieben, sagt er, die wolle er aber nicht halten: „Ich bin das jetzt satt.“ Erstaunte Blicke; er merkt selber, das war zu schroff, murmelt eine Entschuldigung an die Redenschreiber, die sich ja viel Mühe gegeben hätten. Aber es bleibt beim Stegreif-Vortrag. Darin kommt die Unternehmensteuer nicht vor, dafür „der Juncker“ und „der Orbán“, die Gebührenfreiheit für Kitas und Schulen sowie die Bedeutung, die der Zusammenhalt Europas in der Zange zwischen „Trumpismus“ und chinesischem „Staatsmonopolsozialismus“ hat, Letzteres zwei Mal, was aber nur das Publikum merkt.
Als Halbwüchsiger wollte er Fußballprofi werden
Schulz wollte als Halbwüchsiger Fußballprofi werden. Fußballer wissen, wie wichtig Chancenverwertung ist: Du kannst den Gegner dominieren und auf sein Tor ballern so viel du willst – am Ende zählt nur, wenn er reingeht. Und du kriegst nicht so sehr viele Chancen in der Saison. Der Applaus in der Humboldt- Box bleibt knapp höflich.
Dabei stammt die Idee, mehr in freier Rede aufzutreten und weniger Texte abzulesen, ja wahrscheinlich sogar aus der Werkzeugkiste der SPD-Reparaturwerkstatt für leicht verbeulte Kandidaturen. Schließlich kann er das: geradeheraus, anekdotisch, mit Witz. „Man kann verschwurbelte Sätze sagen oder man kann die Dinge beim Namen nennen“ – gut, das ist jetzt ein schlechtes Beispiel. Merkel direkt anzugreifen, haben sie in der SPD beschlossen, bringt nichts. Da bleibt also nur ein bisschen Herumgestichele. Aber zurück zum Gewitzten: Ob er sich schon mal gewünscht hat, dass er doch besser Fußballer geworden wäre? „Am Abend vor Wahlniederlagen.“ Der Theatersaal kichert, wenn auch diesmal etwas verhalten. Es gab in den letzten Wochen etwas zu viele solcher Abende.
Sie haben ihn politisch getroffen. Bei der Buchvorstellung räumt er ein, dass es ein Fehler war, auf die Landeskandidaten zu hören, Hannelore Kraft in NRW vorweg, und sich aus diesen Wahlkämpfen rauszuhalten. Man kann den Fehler in den Kurven der Umfrageforscher gut nachvollziehen. Auf dem Höhepunkt des Schulz-Hypes schossen die Zustimmungswerte zur SPD sogar auf Gebieten hoch, die normalerweise gegen Alltagsnervosität immun sind. Selbst Arbeitsplätze zu schaffen trauten den Sozialdemokraten plötzlich mehr Wähler zu als der traditionell als Wirtschaftspartei favorisierten Union.
Er hat sich jeden Vorwurf gemerkt. Sie rumoren in ihm
Aber Schulz verschwand von den Bildschirmen, und seine Landesfürsten scheiterten an sich selbst. Schlechte Chancenverwertung eben.
Das Scheitern hat seine Seele aufgeraut. Diese ganzen hämischen Kommentare über den jäh gebremsten Lokomotivführer, über den Messias, der doch nicht über die Wasser von Saar und Ruhr und Förde laufen kann. Die Häme trifft ihn. Er ist nicht der Typ, das zu verbergen. „Ich hab’ ja im Moment oft auch harte Tage, wenn ich die Zeitung aufschlage“, sagt er. Klar, das gehöre dazu: „Wenn man diesen Anspruch erhebt, dass man eine Frau wie Angela Merkel ablösen wird, wird man getestet.“
„Nee!!!“, sagt Schulz, drei Ausrufezeichen
Und nein, eine Medienkampagne gebe es nicht, wie sie sein Vorgänger Kurt Beck neulich in bester Absicht attestiert hat. „Nee!!!“, sagt Schulz, drei Ausrufezeichen. Bloß nicht mit Beck in einen Topf geraten, der als Ministerpräsident in Mainz ein Riese war und an Berlin scheiterte, weil er „Berlin“ verachtete.
Aber er hat sich jeden Vorwurf gemerkt, der je über ihn aufgeschrieben wurde, die albernen wie die ernsthaften. Kein Abitur, dieser Bart, sieht aus wie ein Sparkassenangestellter oder wie ein Straßenbahnschaffner; und dann diese „ganz klugen Leute in Berlin“, die behaupten, er habe keine Ahnung von Innenpolitik. „Ja herzlichen Glückwunsch!“ Als ob nicht 70 Prozent aller Gesetze im Bundestag letztlich aus Brüssel kämen, aus seinem Europa! Und außerdem: „Sparkassenangestellter und Straßenbahnschaffner sind ehrliche Menschen!“
Ein guter Vorleser, mit dosiertem Pathos
Martin Schulz ist auch ein ehrlicher Mensch. „Hand aufs Herz, haben Sie das Buch selbst geschrieben?“, fragt Moderatorin Fried. Schulz spielt mit und legt die Hand aufs Herz, ja, hat er. Es ist ein etwas altmodisches Buch geworden, was vielleicht daran liegt, dass der Autor auf sein Tagebuch zurückgegriffen hat, das er führt, seit sie ihm das in der Alkohol-Entziehungskur vor 37 Jahren geraten haben. Es handelt von seiner Familie, von Europa, von der deutschen Einheit, von Verdun – Schulz liest die Passage über den Gang über das furchtbarste Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs vor, ein guter Vorleser mit gut dosiertem Pathos. Dass in dem Buch hier und da die Fiktion gepflegt wird, das „Gerechtigkeits“-Programm des Kandidaten sei quasi dadurch entstanden, dass Harun al Schulz sich wochenlang auf den Straßen und Plätzen beim Volk umgehört hat – geschenkt.
Kohl hätte an dem Buch seine Freude gehabt
Nein, ein sympathisches Buch; Helmut Kohl zum Beispiel hätte seine Freude daran gehabt, wie hier einer, der sein Sohn gewesen sein könnte, im Bewusstsein der Brüche des letzten Jahrhunderts für das vereinte Europa brennt.
Fragt sich nur, ob das reicht gegen Helmut Kohls gelehrige Ziehtochter. In der eigenen Parteiführung fürchten sie: nein. „Wenn kein Wunder geschieht, ist das Ding gelaufen“, sagt ein langjähriger SPD-Fahrensmann. Viele stellen sich auf einen Durchhaltewahlkampf ein, bei dem es nicht mehr um den Sieg gehe, sondern um einen anständigen Platz. 24 Prozent, bestenfalls 27 wären ein Erfolg. „Es gibt keinerlei Wechselstimmung, den Leuten geht es gut“, stellt ein wahlkampferfahrener Sozialdemokrat fest. „Warum sollten sie da eine erfolgreiche Kanzlerin abwählen – und das in derart stürmischen Zeiten?“
Da ist sie wieder: die Fahrstuhlfrage
Da ist sie wieder, die Fahrstuhlfrage. Schulz besinnt sich kurz, dann versucht er’s. „Ich bin sehr nah bei den Menschen“, sagt er, dass er das Geschäft an der Basis gelernt habe als Bürgermeister von Würselen, auf dessen Tisch am Ende jedes Problem gelandet ist, und dass er international „mit meiner Energie und Weitsicht, nicht in Trippelschritten“ agieren werde. So sehr nimmt ihn das Spiel jetzt mit, dass er Fried als Chefin anspricht, als Merkel: „Sie haben das gut gemacht, aber Ihre Partei hat Sie ständig attackiert. Jetzt wird’s Zeit, dass wir übernehmen!“ Die Moderatorin guckt auf die Uhr. 1:57 Minuten. Den Test hat er also jedenfalls bestanden.
Mitarbeit: Stephan Haselberger