Tschetschenische "Moralwächter" in Berlin: "Sag nicht, du seist nicht gewarnt worden!"
Als Nacktfotos einer Berliner Tschetschenin ins Netz gelangen, will ihre Familie sie töten. Die 19-Jährige entkommt. Doch ihre Flucht beginnt erst.
Es ist ein später Novemberabend im vergangenen Jahr, als der wütende Onkel anruft, seine 19 Jahre alte Nichte „eine Hure“ nennt, die Eltern zu sprechen verlangt und ihnen Vorschläge unterbreitet, wie nun, nachdem diese Fotos von ihr im Umlauf sind, zu verfahren sei. Es sind Vorschläge der Art, dass sie am folgenden Tag Eingang in die Formularbögen eines Berliner Polizeireviers finden. An der Stelle, wo von den Beamten das „Delikt“ einzutragen ist, steht handschriftlich: „Bedrohung im Namen der Ehre“.
Die Nichte, so schildert sie es, sollte umgebracht werden. Aus Berlin habe sie von der Mutter verschleppt werden sollen, nach Tschetschenien, dorthin, woher die Familie stammt, um dann durch die Hand des ebenfalls aus dem Ausland angereisten Onkels zu sterben.
Sie sagt: „Wenn ich meinen Namen und mein Aussehen nicht ändere, dann finden sie mich.“ Sie sagt das in einer Stadt, in der sie mittlerweile lebt und die nicht Berlin ist, weit genug weg, um der Familie nicht mehr über den Weg zu laufen. Wenn man sie treffen will, dann unter der Bedingung, ihren Namen und manches andere mehr nicht preiszugeben. Auch einige Daten und Details wurden zu ihrem Schutz verändert. Doch reden will sie. Im russischsprachigen Online-Portal „Meduza“ wurde ihre Geschichte veröffentlicht. Die junge Frau, die also nur hier Madina heißt, ist entkommen. In Sicherheit ist sie nicht.
Als Madina ihr Elternhaus verließ, hörte ihr „Fall“ auf, eine Familienangelegenheit zu sein und wurde zu einem der tschetschenischen Gemeinschaft. Nun, so sagt Madina, sei es die Pflicht eines jeden tschetschenischen Mannes, sie zu finden und zu bestrafen. Eine Art Verhaltenskodex, sagt sie. Und Männer, die dieser Pflicht tatsächlich nachzukommen gedenken, gibt es auch in Berlin.
In Deutschland lebende Tschetschenen berichten übereinstimmend von einer Berliner Schlägergruppe. Sie vereine möglicherweise bis zu 100 Männer, die bewaffnet sein sollen und angeführt werden von Leuten mit Kriegserfahrungen.
In der tschetschenischen Community verbreitet sich seit Mai über Whatsapp ein Video, das der Gruppe zugeschrieben wird. Darin heißt es: „Hier in Europa tun einige tschetschenische Frauen – und Männer, die wie Frauen aussehen – unaussprechbare Dinge.“ Falls man die Gelegenheit dazu habe, „werden wir sie maßregeln“. Sie laufen durch die Straßen, sprechen tschetschenische Frauen an, im besten Fall gibt es nur eine Zurechtweisung. „Du siehst wie eine Schlampe aus“, ist dann zu hören. Madina sagt, sie habe das schon erlebt. Lippenstift reiche.
Unaussprechbares. Maßregeln. Wofür?
Als an jenem Novemberabend das Telefon in der Berliner Wohnung klingelt, in der Madina mit ihren Eltern lebt, der Onkel dran ist, sie „Hure“ nennt und befiehlt, die Eltern an den Apparat zu holen, sei sie sofort blass geworden, sagt Madina. Sie ahnt, was passieren würde. An diesem Abend war ihr Handy gestohlen worden. Auf dem Gerät waren Fotos gespeichert, Bilder von ihr in einem Club mit Bierflasche in der Hand. In einer Bar mit Zigarette. Bilder von ihr, nackt. Sie tauchten wenig später in Whatsapp-Chatgruppen auf, in denen Tschetschenen miteinander kommunizieren.
Der Onkel fällt Madinas Todesurteil, die Eltern stimmen zu, er instruiert die Mutter, am nächsten Tag mit der Tochter nach Moskau und von dort weiter nach Tschetschenien zu fliegen. Dort würden sie ihn treffen.
Ein bekanntes, aber seltenes Vorgehen, sagen Tschetschenien-Experten. Selten ist das Drastische des Falls, bekannt sind der Hang zur Gewalt und die Anlässe dafür. Probleme - auch solche, die keine sind - werden innerhalb der Familien geklärt. Vermeintliche Ehrbegriffe spielen eine große Rolle, die Prägung der Menschen durch Krieg, Terrorismus, Religion. Ältere Tschetschenen sind oft moderate Muslime, jüngere finden zunehmend den radikalen Islam attraktiv. Archaische Moralvorstellungen haben viele, es gibt Berichte über Gefängnisse, in denen Schwule gefoltert werden. Weil das so ist, hat Anfang Juni erstmals ein Homosexueller aus Tschetschenien in Deutschland das selten gewährte „humanitäre Asyl“ erhalten.
Die Mutter bewacht die Tochter, die Papiere schließt sie weg
Die tschetschenische Gesellschaft folge drei Gesetzen, sagt Ekkehard Maaß, der Vorsitzende der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft. Das erste - und unwichtigste - sei die russische Verfassung. Das zweite sei die Scharia. Und dann gibt es noch Adat, die tief in der Mentalität der Tschetschenen verwurzelten traditionellen Normen. Einige davon kollidieren mit dem deutschen Recht.
Ob Übersetzer im Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, ob Sozialarbeiter, Häftlinge, Polizisten oder Staatsanwälte - sie alle berichten, dass Tschetschenen in Berlin besonders oft auffällig sind. In den salafistischen Moscheen der Stadt geben oft Tschetschenen den Ton an. Auch in der Fussilet-Moschee in Moabit waren Tschetschenen aktiv. Dort hatte sich der tunesische Asylbewerber Anis Amri aufgehalten - kurz vor dem Massaker am Breitscheidplatz, wo Amri im Dezember zwölf Menschen tötete. In Heimen haben Tschetschenen christliche Asylbewerber angegriffen - in Marienfelde jagten 2014 fast 100 Tschetschenen 30 Syrer. Im Mai haben mutmaßlich Tschetschenen auf eine Rocker-Bar in Wedding geschossen. Aus den Haftanstalten ist zu hören, Tschetschenen setzen andere Gefangene unter Druck: „Die Tschetschenen haben straffe Hierarchien“, sagt ein Berliner Ex-Häftling arabischer Herkunft. „Und dauernd kommen die mit Gott.“
Ermittler berichten, dass Tschetschenen aus Berlin, aber auch Brüssel und Kopenhagen regelmäßig an der deutsch-polnischen Grenze angetroffen werden. Es reisten also nicht nur Männer vom Kaukasus nach Deutschland ein - sondern auch aus, um ein paar Wochen danach wiederzukommen. „Wir wissen nicht, warum“, sagt ein Berliner Polizist. Es könnte um Schmuggel aller Art gehen. „Vor deutschen Behörden haben die keine Angst, die sinds gewohnt, alles unter sich zu regeln.“
Der Onkel legt auf, bucht die Flüge. Madinas Mutter bewacht die Tochter, sucht ihre Papiere, schließt sie weg. Den Rest der Nacht herrscht Schweigen. Gegen 6 Uhr ruft der Onkel wieder an, er hat die Tickets nach Grosny.
Um 6 Uhr 31, die Mutter hat das Zimmer verlassen, um den Vater zu wecken, nimmt Madina deren Handy und ruft die Polizei. Sie sagt, sie sei Muslima, ihre Eltern hätten gerade herausgefunden, sie habe einen Freund - was nicht stimmt, aber diese Erklärung scheint ihr in der Kürze angemessener - und wollten sie nun umbringen. Sechs Minuten später stehen die Beamten an der Tür.
Man schneidet ihr die Haare ab, fährt sie zur Frauenärztin
Madina sagt, dass ihre Mutter begann, sie zu umarmen, als die Polizisten die Wohnung betraten. Im Schlafanzug und ohne ihre Papiere wird Madina in ein Haus für missbrauchte Frauen gebracht.
Nach einer Woche telefoniert sie mit den Eltern. Die sagen, es täte ihnen leid, ihre Tochter so geängstigt zu haben. Sie würden die Drohungen und die Schimpfwörter bereuen. Madina verlässt das Frauenhaus und kehrt zur Familie zurück.
Ein Fehler. Sobald sie in der Wohnung ist, schlägt die Mutter sie zusammen, schneidet ihr die Haare ab. Es folgt eine Fahrt zur Frauenärztin. Als die bestätigt, Madina sei Jungfrau, entspannt sich die Mutter. Mit dem Tod soll Madina nicht mehr bestraft werden.
Die Tochter bekommt stattdessen ein Kopftuch und Hausarrest: sie solle auf ihr Schicksal warten, was, wie sie vermutet, nichts anderes als eine Heirat mit einem älteren Tschetschenen bedeuten würde. Eine Woche darauf schafft sie es, zu entkommen. Sie ruft die Polizei. Die nimmt sie mit unter dem Vorwand, sie würde zum Diebstahl ihres Handys ermitteln.
Es folgt die Flucht aus Berlin. Madina ist keine Feministin und keine antiislamische Aktivistin, mehr als alles andere möchte sie ein Leben führen, welches für deutsche junge Erwachsene selbstverständlich ist. Sie liebt es zu feiern, trägt farbige Kontaktlinsen und eine auffällige Frisur, hat einen schwulen besten Freund und seit Kurzem einige Tattoos. Doch sie verbringt die meiste Zeit in ihrem Zimmer in Angst.
Nicht nur sie soll sich fürchten. In dem Video, das sich auf Whatsapp-Kanälen verbreitet, die von der Tschetschenen-Gemeinschaft in Deutschland benutzt werden, ist ein Mann mit Sturmhaube über dem Kopf zu sehen. Er zielt mit einer Pistole auf die Kamera, eine Männerstimme spricht: „As-salamu alaykum, muslimische Brüder und Schwestern, ihr wisst es, ich weiß es, jeder weiß es.“ Die unaussprechbaren Dinge.
Die Drohung der Gruppe ist der Berliner Polizei bekannt
„Diejenigen“, sagt die Stimme, „die unsere nationale Identität verloren haben, die mit Männern aus anderen ethnischen Gruppen flirten und sie heiraten, tschetschenische Frauen, die den falschen Weg eingeschlagen haben und diejenigen, die sich selbst tschetschenische Männer nennen - wir werden das regeln.“
Etwa 80 Gleichgesinnte seien sie, „weitere wollen beitreten“. Sie hätten auf den Koran geschworen, „wir gehen raus auf die Straßen. Sag nicht, du seist nicht gewarnt worden. Sag nicht, du hättest es nicht gewusst.“
Die Botschaft endet mit den Worten: „Möge Allah uns Frieden gewähren und unsere Füße auf den Weg zur Gerechtigkeit setzen.“ In den vergangenen Wochen soll die Gruppe mindestens zwei junge Frauen verprügelt haben.
Die Videobotschaft der Gruppe ist der Berliner Polizei bekannt. Inzwischen ermittelt der Staatsschutz wegen „Störung des Rechtsfriedens durch Androhung von Straftaten“ - gegen Unbekannt. Weitere Details wolle man wegen der laufenden Ermittlungen nicht nennen.
Fatima kennt die Details. Sie ist gerade noch davongekommen. Fatima ist nicht ihr richtiger Name. Auch mit ihr kann man sprechen, solange nicht allzu viele Details von dem, was sie zu berichten hat, an die Öffentlichkeit gelangen. Das Treffen findet in einem Café in der Berliner Innenstadt statt.
Eine attraktive junge Frau sitzt hier am Tisch, mit aufwendigem Make-up und einem knielangen Rock. Sie sieht aus wie jemand, der gleichzeitig auffallen und nicht auffallen möchte.
„Mit 14 hat mich mein zukünftiger Ehemann ,gestohlen“, sagt sie. Fatima habe damals in einer kleinen tschetschenischen Stadt gelebt, und ein 20-jähriger Mann und dessen Freunde habe sie gekidnappt. Der Mann wollte sie heiraten.
Sobald eine Frau eine Nacht außerhalb ihres Familienhauses verbringt, verliert sie „ihre Ehre“, sagt Fatima. Da bleibt für sie und ihre Familie nur ein Ausweg: den Entführer zu heiraten.
Dutzende tschetschenische Männer versammeln sich vor ihrem Haus
Das Paar bekam ein Kind und wanderte nach Deutschland aus, ihr Mann habe Probleme mit jemandem aus der tschetschenischen Regierung gehabt, sagt sie. In Deutschland „wurde er zum Tier“. Er verprügelte seine Frau regelmäßig, im Flüchtlingsheim bekam er Hausverbot. Fatima und ihr Kind erhielten vom Staat eine kleine Wohnung in einem Berliner Vorort bezahlt. Sie ging in einen Deutschkurs. Dennoch blieb sie in der tschetschenischen Community in Berlin - in einer Parallelgesellschaft, in der fast jeder jeden kennt und kaum ein Geheimnis unentdeckt zu bleiben scheint. Und sei es noch so banal.
Nicht einmal dieses zum Beispiel: Im November wurde Fatima nicht weit von ihrem Haus gefilmt, von einem Bekannten, wie sich herausstellte. Sie ging damals spazieren, neben einem Mann, der kein Tschetschene war, und sprach mit ihm.
Das reichte. Am Abend dieses Tages versammelten sich vor ihrem Haus mehrere Dutzend tschetschenische Männer, die sie zur Rede stellen wollten. Fatima floh zu einer Nachbarin. Der Mann, der sie beim Spazierengehen begleitete, wurde anderswo aufgespürt und zusammengeschlagen. Er verlor fast alle Zähne.
„Ich kenne diese Männer nicht und möchte sie nicht kennen“, sagt Fatima. „Ich möchte in Ruhe gelassen werden.“
Madina sagt: „Wenn du deinen Namen nicht änderst und dein Gesicht, dann werden sie dich jagen, dann werden sie dich töten.“ Sie denkt über plastische Chirurgie nach, und darüber, ihren Namen zu ändern. Dafür allerdings müsste sie bei einem tschetschenischen Meldeamt vorsprechen. Die Gefahr wäre groß, sich mit einem Behördengang jener Gesellschaft, aus der sie floh, gewissermaßen selbst auszuliefern.
Tschetschenen gelten als besonders geschlossene Nation. Nach den Tschetschenienkriegen, die die russische Armee nach der Wende gegen die abtrünnige Teilrepublik führte, radikalisierte sich die Jugend: Viele schlossen sich dem IS an. Die mehr als 1,5 Millionen Tschetschenen leben auch in den ebenfalls russischen Teilrepubliken Inguschetien und Dagestan sowie im Nachbarstaat Georgien und selbst in Kasachstan.
Gewalt gegen Frauen wird zum Akt des Patriotismus verklärt
Die Gesellschaft scheint im Herkunftsland liberaler zu sein als im Berliner Exil. Madina sagt, dass es zumindest die jungen Frauen in Tschetschenien leichter haben als hier. Dort könnten sogar Miniröcke getragen werden. Das hat auch mit der Konkurrenz zu tun zwischen regimetreuen Dortgebliebenen und den Asylsuchenden in Westeuropa, die den Präsidenten Ramsan Kadyrow und dessen Anhänger verabscheuen. Beide Seiten möchten einander beweisen, dass sie die besseren Tschetschenen sind. Es geht darum, alte Traditionen zu hüten, die dem kleinen Volk in harten Kämpfen mit Russland geholfen haben zu überleben. Gewalt und Drohungen gegenüber Frauen werden so zu einem Akt des Patriotismus verklärt.
Die Aufklärung in Berlin verzögert sich. Die Polizei sagt, bis heute seien „keine Sachverhalte zur Anzeige gebracht worden, die einen konkreten Bezug zu sogenannten Moralwächtern in tschetschenischen Communities herstellen lassen“.
Auch Madina will keine Anzeige erstatten. Sie hat Angst. Um ihre Mutter.
Mitarbeit: Hannes Heine
Dimitri Vachedin
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