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Waffenschwester. Auf einer Feier in Wedding schwenkt eine Kurdin die Fahne der Volksverteidigungseinheiten „YPG“, die in Syrien gegen Islamisten kämpfen.
© Georg Moritz

Berliner Kurden vor der Wahl in der Türkei: Das Volksbegehren

Jahrzehntelang galten Kurden als Gewalttäter. Bis sie gegen den „Islamischen Staat“ kämpften. Plötzlich sind sie die Guten und wollen es bleiben. Vor der Wahl in der Türkei zeigt sich: Das ist schwerer als gedacht.

Mehtap Erol mag sich an diesem Sonntag nicht beklagen. Einige Passanten haben Flugblätter zerknüllt und demonstrativ fallen gelassen, eine Frau beschimpfte ihre Gruppe als „Bande von Babymördern“. Verglichen mit den Anfeindungen, die Unterstützer der kurdenfreundlichen HDP sonst so erleben, verläuft der Nachmittag geradezu harmonisch. Vielleicht liegt es am Nieselregen.

Eine Woche zuvor hat es hier, wo die Kreuzberger Adalbertstraße in den Kreisverkehr des Kottbusser Tors mündet, ebenfalls geregnet, allerdings Steine und Flaschen. Die Angreifer waren türkische Nationalisten, Mitglieder der berüchtigten „Grauen Wölfe“. Die ersten schmissen aus vorbeifahrenden Autos, die nächsten, deutlich jünger, kamen zu Fuß. Die Türken skandierten: „Wir wollen kurdische Köpfe abschlagen!“

Die 43-jährige Mehtap Erol musste dann selbst brüllen, und zwar in Richtung ihrer eigenen Leute. Damit die ruhig bleiben und sich auf den Bürgersteig setzen. Als Zeichen, dass von Seiten der HDP, der „Demokratischen Partei der Völker“, keine Gewalt ausgehe. Am Abend entschieden sie, die nächsten Tage ganz auf ihren Infostand zu verzichten. Die Lage müsse sich erst beruhigen, sagt Mehtap Erol.

Krawallszenen sollen unter allen Umständen vermieden werden. Denn sonst heißt es wieder, die Kurden und die Türken seien aufeinander losgegangen, selbst wenn in Wahrheit bloß eine Seite angegriffen wurde.

Noch fünf Wochen bis zur Neuwahl in der Türkei. Für Mehtap Erol geht es in diesen Tagen nicht nur darum, möglichst viele abstimmungsberechtigte Berliner Türken von ihrer linken HDP zu überzeugen, die es bei der vergangenen Wahl auf 13 Prozent schaffte und damit Präsident Recep Erdogan die absolute Mehrheit vermasselte. Es geht auch, und zwar mindestens genauso stark, um das Bild der Kurden in Deutschland, das sich doch gerade erst zum Positiven gewandelt hatte. Jetzt wollen sie alles dafür tun, es nicht wieder zu ruinieren.

Ihren Image-Wechsel verdanken die Kurden der Rolle, die sie im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ einnehmen. Spätestens seit der Befreiung von Kobane, die den syrischen, türkischen und irakischen Kurden Anfang des Jahres gemeinsam gelang, werden sie in der deutschen Öffentlichkeit als Bollwerk gegen den IS wahrgenommen. Es waren Kurden, die im Sommer 2014 zehntausenden Jesiden im Sindschar-Gebirge das Leben retteten. Es sind ihre Selbstverwaltungszonen, die Flüchtlingen aller Glaubensrichtungen Schutz bieten, egal, ob diese vor den IS-Barbaren oder vor Assads Fassbomben fliehen.

Jahrzehntelang galten Kurden in der Bundesrepublik als Unruhestifter. Als Gewalttäter und Schutzgelderpresser. Es fällt auf, wie drastisch sich dieses Bild geändert hat, sagt Mehtap Erol. Sie ist Pflegerin in einem Altenheim, und dort sagen Bewohner mittlerweile Sätze wie „Mensch, Frau Erol, du bist so stark.“ Oder auch: „Was deine Leute alles durchmachen müssen!“ Die neue Anteilnahme freut Erol. Und macht sie gleichzeitig wütend. Denn wo war die in den vergangenen Jahrzehnten, die Anteilnahme? „Wir hätten sie so viel früher gebraucht.“

Das Bild des kurdischen Krawallmachers ist eng mit dem der Arbeiterpartei PKK verknüpft, die seit 1993 in Deutschland verboten ist und deren Anführer Abdullah Öcalan seit 1999 in türkischer Haft sitzt. Auch die Berliner HDP wird von ihren Gegnern bezichtigt, eine Tarnorganisation der PKK zu sein. Das ist Unsinn und in etwa so, als unterstelle man den Grünen, sie seien der parlamentarische Arm der autonomen Mai-Randalierer. Was aber stimmt: Unter den HDP-Aktivisten befinden sich zahlreiche PKK-Sympathisanten.

Mehtap Erol sagt, sie wolle Hände reichen

Waffenschwester. Auf einer Feier in Wedding schwenkt eine Kurdin die Fahne der Volksverteidigungseinheiten „YPG“, die in Syrien gegen Islamisten kämpfen.
Waffenschwester. Auf einer Feier in Wedding schwenkt eine Kurdin die Fahne der Volksverteidigungseinheiten „YPG“, die in Syrien gegen Islamisten kämpfen.
© Georg Moritz

Diesen Freitag kommt HDP-Chef Selahattin Demirtas nach Berlin. Am Abend wird er im Huxleys vor seine Anhänger treten. Er wird seine Lesart des aktuellen türkisch-kurdischen Konflikts vertreten: dass Erdogan den Friedensprozess aufgekündigt und seine Landsleute gegen Minderheiten aufgehetzt hat, um die HPD bei der Neuwahl unter die Zehn-Prozent- Hürde zu drücken und so seine absolute Mehrheit wiederzugewinnen. Erdogans AKP behauptet dagegen, die Hardliner unter den Kurden seien schuld an der aktuellen Gewalt.

„Wir wollen nicht zurück in die Neunziger“, sagt Mehtap Erol, „wir wollen endlich Hände reichen.“ Das gelte sogar für diejenigen, die Familienmitglieder verloren haben. Damit meint Mehtap Erol auch sich selbst. Drei Verwandte kamen bisher ums Leben. Zuletzt ihre Cousine Sakine, eine Mitbegründerin der PKK. Sie wurde 2013 in ihrem Pariser Büro mit einem Kopfschuss hingerichtet. Der mutmaßliche Täter ist türkischer Ultranationalist.

Geschätzte 80 000 Kurden leben in Berlin, genau weiß das keiner. Es gibt türkische, syrische, irakische und iranische Kurden. Es gibt linke und rechte. Es gibt sunnitische, alevitische, christliche und jüdische. Was - historisch gesehen - alle Kurden eint, ist die Tatsache, dass ihnen nach dem Ende des Osmanischen Reichs ein eigener Staat vorenthalten wurde und sie in den Ländern, in denen sie lebten, benachteiligt und unterdrückt wurden.

Neuerdings gibt es jedoch vermehrt kurdische Erfolgsgeschichten. Eine davon ist die Selbstverwaltung im Norden Syriens, genannt Rojava, das „j“ spricht man wie das „G“ in Gelatine aus. Dieser Quasi-Staat wurde möglich, weil sich Assads Truppen aus der Region zurückzogen, um strategisch wichtigere Ziele im Süden zu verteidigen. In Rojava liegt auch Kobane, und dass die Region bis jetzt alle Angriffswellen des IS zurückschlagen konnte, wurde Sonntagabend in Wedding gefeiert.

Der Festsaal liegt im dritten Stock einer ehemaligen Fabrik. Auf den Luftballons der herumtobenden Kinder: Hello Kitty und Spiderman. Auf den Postern, die von der Decke hängen: Abdullah Öcalan, der PKK-Chef. Er lächelt, sein Haar ist noch schwarz, die Aufnahme entstand 1997, zwei Jahre, bevor der türkische Geheimdienst ihn fasste. Vorn auf der Bühne hält jetzt Khalil Khamgin das Mikrofon in der Hand, wenn es einen Superstar in der kurdischen Popmusik gibt, dann ist er das, und die Gäste klatschen, sofern sie nicht gerade mit ihren Smartphones filmen. Die Stimmung ist feierlich, auch wenn die Lampen im Saal so kalt und grell leuchten wie in einem Großraumbüro. Rund 1000 Gäste sind gekommen, offizieller Anlass ist die Gründung der heute in Rojava regierenden „Partei der Demokratischen Union“, kurz PYD, vor zwölf Jahren. Doch im Grunde ist das hier ein Freudenfest, sagt Sherwan Abdulmajid, der Parteisprecher. Sie feiern, dass die Schulen in Rojava jetzt dreisprachig lehren: Kurdisch, Arabisch und Aramäisch. Dass die Verwaltung eine Frauenquote von 40 Prozent hat. Dass ihr Projekt internationale Unterstützung erfahre. Auch von Deutschland? Sherwan Abdulmajid überlegt, grinst schelmisch. Und sagt dann: „Auf der Rangliste der Staaten, die uns helfen, könnte Deutschland schon weiter oben stehen.“

Es bleibe viel Arbeit, der Aufbau der Polizei etwa. Fingerabdruckscanner seien gerade erst angeschafft worden. Aber Detektoren zum Aufspüren von Sprengstoff, wäre das nichts, was Deutschland leisten könnte?

Die "Grauen Wölfe" setzen auf Eskalation

Waffenschwester. Auf einer Feier in Wedding schwenkt eine Kurdin die Fahne der Volksverteidigungseinheiten „YPG“, die in Syrien gegen Islamisten kämpfen.
Waffenschwester. Auf einer Feier in Wedding schwenkt eine Kurdin die Fahne der Volksverteidigungseinheiten „YPG“, die in Syrien gegen Islamisten kämpfen.
© Georg Moritz

Im vorigen Winter, als Kobane vor dem Fall stand, hat Sherwan Abdulmajid ein Dutzend Demonstrationen angemeldet. Sie führten über den Kurfürstendamm, zogen vors Brandenburger Tor, Hauptsache: nicht durch Kreuzberg. Da störten die „Grauen Wölfe“, sagt Abdulmajid.

An der hinteren Wand des Festsaals hängt ein Plakat mit dem Gesicht einer jungen Frau. Es ist das von Arin Mirkan, die sich vor fast genau einem Jahr am Stadtrand Kobanes in die Luft sprengte und so Dutzende IS-Angreifer mit in den Tod riss. Sie wird nun als Märtyrerin verehrt, in Rojava und in Wedding.

Im Kampf gegen den IS hat Deutschland zwar irakische Kurden mit Waffen versorgt, aber nur unter der Bedingung, dass diese nicht an syrische Kurden weitergeleitet werden. Denn die sind eng mit den türkischen Kurden verbandelt - ergo der PKK, dem Feind des Nato-Partners Türkei.

Es ist ein Dilemma. Die stärkste, effizienteste Kraft im Kampf gegen die Islamisten ist ausgerechnet eine Organisation, die in Deutschland als „kriminelle Vereinigung“ verboten ist.

Mittwochabend im SO 36. Podiumsdiskussion zum Thema: „Rojava - was sollen wir tun?“ Schon eine Stunde vor Beginn stehen fünf Einsatzwagen der Polizei auf der Oranienstraße. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es hier eskalieren kann - die „Grauen Wölfe“ haben ganz in der Nähe ein Büro und eine Moschee. Im Publikum sitzt Kreuzberger Milieu, auf dem Podium sind Entwicklungshelfer und Gregor Gysi. Der wird an diesem Abend den meisten Jubel ernten. Für seine Forderung, endlich die PKK zu legalisieren. „Sie war in ihrer Geschichte nicht fehlerfrei“, sagt er, aber wer sei das denn? Die Deutschen ja wohl schon mal nicht.

Die Fehler der PKK, das geben Berliner Kurden aller Coleur heute mehr oder weniger offen zu, waren gewaltig und verheerend. In den Neunzigern gab es Anschläge auf türkische Einrichtungen, interne Hinrichtungen, öffentliche Selbstverbrennungen.

Vermutlich hätten die Deutschen ihnen das irgendwann verziehen. Was wohl schlimmer wog, waren die Angriffe auf eine erzdeutsche Institution: die Autobahn. 1994 stürmten tausende Kurden wiederholt Fahrbahnen, Reisende saßen stundenlang fest. Die Blockaden sollten anprangern, dass in der Osttürkei deutsche Waffen gegen kurdische Zivilisten eingesetzt wurden. Deutsche Medien schrieben damals von einer „Terrorwelle“ und meinten die Autobahnaktionen.

Der Verfassungsschutz schätzt, dass es in Berlin derzeit 1050 PKK-Mitglieder gibt. Die Polizei sagt, von diesen seien noch im vergangenen Jahr bei mehreren Veranstaltungen politisch motivierte Straftaten ausgegangen: hauptsächlich durch das „Zeigen verbotener PKK-Symbole“. Es wurde aber auch ein Iraker geschlagen, der auf der Straße eine IS-Flagge schwang.

Es ist nicht schwer, mit einem PPK-Mitglied ein Interview zu arrangieren. Man muss sich dafür auch nicht die Augen verbinden und an einen geheimen Ort bringen lassen. Man muss bloß zusichern, den echten Namen nicht in der Zeitung zu schreiben. Also Baran. Als Treffpunkt hat Baran ein Café im Wrangelkiez vorgeschlagen, es ist Samstagnachmittag, der Mann wartet draußen auf einer Holzbank. Er spricht Hochdeutsch und redet ganz offen, auch wenn die Gäste am Nebentisch jedes Wort mithören. Sehr viele wie er seien aktiv, sagt er, in NGOs, Kulturvereinen oder anderen Parteien. Überall dort, wo es legal ist.

Vieles von dem, was in Deutschland zum Verbot der Partei führte, hätte nie passieren dürfen, sagt er. Verzweiflung habe sie dazu getrieben. „Außerdem geht es nicht um Türken gegen Kurden“, sagt er. Linke, liberale und viele konservative Türken wollten Minderheiten doch ebenso schützen wie er selbst. Wie nahe sich Kurden und Türken seien, könne man auch in Berlin sehen. Es gebe eben keine No-Go-Areas für die einen oder die anderen, sondern eine ziemliche Vermischung in den Kiezen, türkisch-kurdische Freundschaften, Beziehungen, Ehen. Er selbst sei mit Parteigängern von Erdogan befreundet. Und die wüssten sehr genau, wofür er stehe.

Vielleicht, nein: hoffentlich, werde der türkische Präsident den Friedensprozess nach der Wahl wieder aufnehmen: „Die Chance ist da.“ Dass sich das Kurdenbild der Deutschen geändert habe, sieht er auch. Doch wenn er sich etwas wünschen könnte, dann wäre das: weniger Mitleid und dafür etwas mehr Unterstützung.

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