Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan: Ohne Waffen und möglichst nah an den Menschen
Unbewaffnet im Einsatz in Afghanistan. Zwei Väter sind die Gesichter der neuen Sicherheitspolitik à la Ursula von der Leyen. Der Alltag zwischen Anschlägen und Bürokratie hat sie zu einem besonderen Team gemacht.
Dieser Staub. Wenn nur der Staub nicht wäre. Als braune Last liegt er über der afghanischen Hauptstadt, kratzt in den Augen, senkt sich in die Lungen. Dem Dreck von Kabul entkommt niemand, jeder Windstoß bläst ihn zur Tür herein. Auch beim deutschen General Kay Brinkmann. Staub – das mag belanglos klingen angesichts der Sicherheitslage am Hindukusch. Aber der Dauer-Dreck zerrt an den ohnehin angespannten Nerven. Immerhin, diesen Gegner kann der General sehen, fühlen, schmecken. Vor allem: Er kann ihn bekämpfen. Der Besen steht immer bereit.
Die anderen potenziellen Gegner – radikale Taliban, Extremisten, Selbstmordattentäter, Kriminelle – bleiben in der Regel abstrakt, auch wenn sie in zahllosen Gesprächen und Berichten allgegenwärtig sind. Die Analyse der Sicherheitslage gehört zu Brinkmanns Job als oberster Militärberater der UN-Mission für den zivilen Aufbau Afghanistans, der größten politischen Mission der Weltgemeinschaft. Brinkmann ist der erste Deutsche im Generalsrang bei einer UN-Mission. Man kann ihn das erste Gesicht neuer deutscher Sicherheitspolitik à la Ministerin Ursula von der Leyen nennen. Die Mission Unama hat 1500 Mitarbeiter, 350 davon internationale. Brinkmann ist seit Juli vergangenen Jahres dort.
Gerade erst ist ein deutscher Entwicklungshelfer aus der Geiselhaft entkommen
Der deutsche Brigadegeneral sieht eine stetig wachsende Gefahr. Einzuschätzen, wo und wann sie zum Problem werden könnte, wird immer schwieriger. Die steigende Zahl ziviler Opfer macht ihm Sorgen. 2014 waren es erstmals mehr als 10.000 (zwei Drittel Verletzte, ein Drittel Tote), in den ersten Monaten dieses Jahres ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahr abermals gestiegen. Und seit die Taliban Ende April ihre Frühjahrsoffensive begonnen haben, hat die Lage nach Brinkmanns Analyse „für diese Saison eine neue Dimension gewonnen“. Gerade erst ist ein deutscher Entwicklungshelfer aus wochenlanger Geiselhaft freigekommen. Wer genau die Täter waren, blieb zunächst unklar.
Der Vorfall passt zu Brinkmanns Beobachtungen: Immer mehr Gruppen setzen sich von den Taliban ab. Für ihren Kampf gegen die Regierung brauchen sie Geld. Finanziers finden sie, wenn sie große öffentliche Aufmerksamkeit erreichen. Das heißt, mit möglichst spektakulären Aktionen. Deshalb bedienen sich Angreifer immer öfter der brutalen Methoden des sogenannten Islamischen Staats, auch wenn sie mit dem IS nichts zu tun haben. Brinkmann geht davon aus, dass diese Täter nicht mehr bestimmte Zielgruppen anvisieren, sondern überall dort angreifen, wo ihr Vorgehen Aufsehen verspricht. Dadurch „steigt das Bedrohungspotenzial“, stellt Brinkmann nüchtern fest. Auch für die UN-Kollegen. Der General und sein Adjutant sind selbst bereits zweimal nur um Minuten einem Anschlag entgangen.
Sich verteidigen könnten die beiden ohnehin nur mit den eigenen Fäusten. Denn kämpfen gehört nicht zu ihrem Job. Sie haben nicht mal eine Waffe. Ihre eigene Sicherheit liegt in den Händen anderer.
Die meisten deutschen Soldaten würden so einen Auftrag nicht übernehmen. Sie halten Brinkmann und seinen Adjutanten Karl-Rüdiger Tillmann für verrückt, schließlich sind die beiden meist nur zu zweit mit einheimischem Fahrer – wenn auch im gepanzerten UN-Wagen – unterwegs. Die meisten deutschen Soldaten sind Ende 2014 mit den internationalen Kampftruppen abgezogen. 850 Deutsche dienen heute in der Folgemission Resolute Support. Das Gros, 700, ist in Masar-i-Sharif stationiert. Bewaffnet.
Brinkmann und Tillmann sind mit einem weiteren Kollegen die einzigen deutschen Militärberater bei der Mission Unama, die die afghanische Regierung beim Aufbau staatlicher Strukturen, dem Kampf gegen Korruption und für die Achtung der Menschenrechte begleiten soll. Brinkmanns Team zählt 15 Mann aus zehn Nationen.
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hatte im vergangenen Jahr auf der Münchner Sicherheitskonferenz ihre Sicht auf die neue deutsche Verantwortung in der Welt umrissen. In der New Yorker UN-Zentrale versprach sie danach mehr militärisches Führungspersonal für UN-Missionen. Einsätze der Vereinten Nationen sind im Hause Bundeswehr allerdings trotz aller anderslautenden Bekundungen von Ursula von der Leyen nicht allzu beliebt. Also machen jetzt zwei Väter von Grundschulkindern den ungemütlichen Job, mit dem Berlin international punkten will. Spätestens seit dem Ukrainekonflikt ist Afghanistan bei führenden Militärs ziemlich weit aus dem Blick geraten, auch wenn es offiziell aus dem Ministerium tapfer heißt: „UN-Missionen bleiben jedoch im Fokus.“
Merkel lässt Afghanistan nicht aus den Augen
Doch selbst wenn man es bei der Truppe und in der Öffentlichkeit anders sieht: So schnell wird das Thema Afghanistan nicht erledigt sein. Die USA halbieren ihre Truppe von 9800 Soldaten doch noch nicht. Angesichts eines Atom-Abkommens mit Iran in Reichweite, den Chinesen als neuem Vermittler zu den Taliban und zunehmend brutalen Attacken könnte Afghanistan auch für die Vereinigten Staaten wieder interessanter werden. So oder so: Bundeskanzlerin Angela Merkel lässt Afghanistan nicht aus den Augen. Es handle sich um eine „Generationenaufgabe“. Und die werde Deutschland nicht nur finanziell mittragen, sagte sie auf dem Höhepunkt der Ukrainekrise.
Brinkmann und Tillmann sind also eine Art Brückenkopf. Seit dem Abzug der internationalen Kampftruppen gibt es ausländische Soldaten nur noch an zentralen Punkten in Afghanistan. Unama dagegen hat quer durchs Land Außenposten – die Mitarbeiter sind sozusagen die Augen und Ohren der Welt in die afghanischen Provinzen. Und UN-Mitarbeiter verlassen ihre, ebenfalls hoch gesicherten, Camps. Sie begegnen Afghanen.
Das Leben im UN-Camp ist anders als das rundum deutsch versorgter Soldaten in den Containern des Militärlagers Masar-i-Sharif. Brinkmann und Tillmann haben jeder eine kleine Wohnung im Camp Unoca am Kabuler Stadtrand. Es ist das Zuhause auf Zeit für ein paar hundert internationale Mitarbeiter verschiedener UN-Organisationen. Ihre Unterkünfte wirken wie Garagen mit Tonnendach. Brinkmann und Tillmann zahlen Miete und müssen selbst für ihre Bleibe sorgen. Da ist eins mal klar: Besucher ziehen ihre Boots an der Tür aus. Der Staub.
50 Quadratmeter: Wohnzimmer, Büro, Küche sind eins, nur Schlafzimmer und Bad sind abgeteilt. So wohnt der schlaksige General. Brinkmann stellt die Espressokanne auf seinen Herd. Oberstleutnant Tillmann packt unüberhörbar ein Tetra-Pack auf die Anrichte, um den Blick auf das teure Stück aus dem UN-Shop zu lenken. „Bei 4 Dollar 50 für den Liter Milch kostet der Schaum mehr als der Kaffee“, sagt Brinkmann grinsend. „Aber das ist unser kleiner Luxus nach manch langem Tag.“ Solche Kleinigkeiten bekommen in schwierigen Einsätzen weit weg von der vertrauten Umgebung besonderes Gewicht. Kümmerer Tillmann ist fürs Essen zuständig. Von seinen Käsenudeln lässt Brinkmann keine auf dem Teller. Nach all den Monaten vermissen sie auch Grau- und Vollkornbrot. Von jedem Heimatbesuch bringen sie welches mit und frieren Vorrat ein. Und Tillmann geht auf den Markt, obwohl sie das nicht sollen. Nur dort gibt es frisches Obst. „Aber ich wechsle immer die Stände und die Zeiten“, sagt er.
Die Bürokratie ist schwer zu ertragen
In Jeans, grünem Pulli und Schlappen befüllt der General die Becher. Für Brinkmann, dessen bisherige Karriere vor allem eine ministerielle mit Studium an Militärhochschulen in München und den USA war, ist die Situation in Kabul ungewohnt. Bis zum vergangenen Jahr war er Referatsleiter Militärpolitik und Einsatz Europa/Eurasien im Berliner Bendlerblock. Dort waren die Verhältnisse klar, die Hierarchien auch. Bei den UN hingegen fremdeln viele Zivilisten mit dem Mann in Uniform und seinem manchmal zackigen Stil. Von der lähmenden Bürokratie der Weltorganisation ganz zu schweigen. Für jeden Schritt, den sie tun (auch im sehr wörtlichen Sinn), müssen Mitarbeiter mindestens ein Formular ausfüllen. Fast alles und jedes muss mit absurd vielen Menschen abgestimmt werden. Das ist für jeden eine Herausforderung, für einen normalerweise in der Befehlskette oben stehenden General aber ist es wohl besonders schwer zu ertragen.
Eigentlich wollten Brinkmann und Tillmann jetzt langsam ans Packen denken, im Sommer wieder den Berliner Trubel und das Grün der Brandenburger Alleen genießen. Ein Jahr sollte ihr Einsatz dauern, inzwischen ist er bis Oktober verlängert. Mindestens. Es reißt sich niemand um die Nachfolge.
Für den neuen Posten in Kabul bekam Brinkmann einen Stern auf die Schulter. Es ist sein erster Job bei den Vereinten Nationen, deshalb hat er sich Tillmann als Adjutanten ausgesucht: „Kein anderer deutscher Offizier hat so umfangreiche Erfahrungen bei den UN“, sagt der Chef. Die beiden haben sich vor Jahren bei einer Runde zum Sudan kennen- und schätzen gelernt. Der kantige Westfale Tillmann mit dem kahl rasierten Schädel war seit den 90er Jahren in vielen Auslandseinsätzen mit Nato und UN, wurde in Georgien angeschossen, als Geisel genommen. Einige Monate verbrachte der frühere Profi-Judoka bei den Planern in der New Yorker UN-Zentrale, war ein halbes Jahr mit den Amerikanern in Afghanistan unterwegs. Bevor Tillmann nach Kabul befohlen wurde, war er im Einsatzführungskommando der Bundeswehr für die UN-Missionen zuständig. Nach der Rückkehr soll er seine Expertise im Ministerium einbringen.
Die "General-Brinkmann-Uhr" geht zehn Minuten vor
Brinkmann und Tillmann, die jetzt den aufgeschäumten Cappuccino schlürfen, ergänzen sich: beide Jahrgang 1961, beide stolze Väter von Töchtern. Dass die Chemie zwischen ihnen stimmt, erleichtert es enorm, die „nicht ganz unwichtige Brückenfunktion zwischen Zivilisten und Militär auszufüllen“, wie Brinkmann etwas hölzern seine Aufgabe umreißt. Die mangelnde Abstimmung ziviler und militärischer Verantwortlicher sieht er mit Sorge. Wenn zum Beispiel die afghanischen Sicherheitskräfte eine Region von den Taliban zurückerobern, vergessen sie meist vorher abzustimmen, dass anschließend zivile Stellen dort Ausbildungsplätze, Jobs, Infrastruktur aufbauen. Das Ergebnis, wie jüngst in Helmand: Die Bevölkerung ist verärgert, die Taliban rücken wieder nach.
Oberstleutnant Tillmann wohnt schräg gegenüber von Brinkmann. Über seinen Schreibtisch hat er „die General-Brinkmann-Uhr“ gehängt. Sie geht zehn Minuten vor, damit er den Chef rechtzeitig abholt: zu Terminen im Verteidigungsministerium, bei der afghanischen Armee oder zu einem Trip in eins der 13 Unama-Büros zwischen Kundus und Kandahar.
Ihre Kabuler Adresse flößt vielen Menschen Respekt ein. Die Jalalabad Road, eine breite Ausfallstraße nach Osten, gilt als eine der gefährlichsten der Welt. Tillmann guckt auf sein Handy. „Gerade ist hinter uns am Kreisverkehr eine Sprengfalle explodiert“, liest er vor. „Ist wirklich gerade passiert, aber es wurde wohl niemand verletzt.“ Am Kreisverkehr stauen sich oft die Autos, da können Attentäter schon mal unbemerkt einen Sprengsatz an ein Fahrzeug pappen, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen. „So manches Mal begleitet mich auch ein mulmiges Gefühl“, sagt Brinkmann. Auch der General fährt nicht entspannt durch Kabul.
In dieser Lage muss man sich aufeinander verlassen. Ihr Job hat die Männer zusammengeschweißt. Es klingt aus Brinkmanns Mund distanziert, aber es bedeutet viel: „Wir sind mehr als nur ein dienstliches Team.“ Dennoch: Nach all den Monaten mit einer Sieben-Tage-Woche Seite an Seite sind der „Herr General“ und sein Adjutant per Sie.
Dass sich ihr Job trotz der Hiobsbotschaften lohnt, haben sie nach der Präsidentenwahl gemerkt, als die Stimmen neu ausgezählt werden mussten. Da haben sie so viele begeisterte junge Afghanen kennengelernt, die trotz stickiger Luft mit Leidenschaft bei der Sache waren. Die Fairness, mit der sie diskutierten, beeindruckte Brinkmann. Und: „Da haben die UN eine bis dato einzigartige Rolle gespielt.“ Schließlich hatten viele befürchtet, es werde keine Einigung geben, das Land mindestens politisch gelähmt. Dass sie statt Burkas öfter junge Frauen sehen, die ihre Schals locker überm Haar tragen, sehen sie als gutes Zeichen.
Doch der General hat seine Ziele herunterschrauben müssen. Selbst bei den Projekten, auf die er sich konzentriert, wachsen seine Zweifel. An der Militäruni in Kabul wollte er die Gender-Ausbildung. Trotz aller Bekundungen afghanischer Generäle und UN-Kollegen geht es nicht voran. Er kämpft auch für ein forensisches Labor, damit die Polizei Sprengfallen analysieren kann. Die will er finden, bevor sie hochgehen.
"Der Schlafmangel ist unendlich"
Die Urlaubsregelung der UN beschert den beiden Deutschen alle acht Wochen zwei Wochen in der Heimat – aber die zwei Monate mit den immer gleichen Gesichtern im Kabuler Dreck sind hart. Die Ferne zur Familie „ist die größte Herausforderung“, sagt Brinkmann. Der General spricht nicht gern über Gefühle. Doch man merkt ihm an, dass es ihm fehlt zu sehen, wie die Tochter stolz in Berlin ihr neues Kleid vorführt, beim Mensch-ärgere-dich-nicht gewinnt. Sie telefonieren, skypen. Aber das ist eben doch etwas anderes. Am Bildschirm sitzt man nicht einfach vertraut schweigend beieinander. Noch dazu enden die Tage in Afghanistan wegen der Zeitverschiebung früher. Der Kabuler Rhythmus passt schwer mit dem daheim zusammen.
In der Freizeit versuchen die beiden, sich fit zu halten. Wenn es brenzlig wird, soll es sie nicht treffen, nur weil sie nicht schnell genug vom Fleck kommen. Zum Laufen bleibt nur das Band im Gym. Das Leben in Camp Unoca ist auf eine ganz besondere Art anstrengend. „Der Schlafmangel ist unendlich“, seufzt Karl Tillmann. Er will endlich keine Flugzeuge und Helis mehr hören, die Tag und Nacht über sie hinwegdonnern. Tillmann stellt „eine zunehmende Dünnhäutigkeit und Gereiztheit“ an sich fest. Und – das wurmt ihn: „körperlichen Zerfall“.
Brinkmann steckt noch rasch den Kopf zur Tür rein, über den Schultern ein Handtuch. Er kommt vom Training am Rudergerät, will die Frühstückszeit abstimmen. Um 6 Uhr 45 tischt Tillmann auf, dann besprechen sie ihren ersten Termin.
Hinter seiner Tür nimmt der General wohl auch an diesem Abend seinen Besen zur Hand. Im großen Chaos achtet er umso mehr auf die kleinen Dinge, die beherrschbaren. Brinkmann fegt zum Ende des Tages den Staub in die Nacht hinaus. Wenigstens für einen Moment soll Ordnung herrschen.
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