In Bochum rollte der letzte Opel vom Band: Ohne Arbeit ganz grau
Zehn Jahre lang haben sie gekämpft. Verhindern konnten sie es nicht: Nach 52 Jahren rollt an diesem Freitag in Bochum der letzte Opel vom Band. Und für die Stadt endet viel mehr als nur die Serienproduktion.
Es ist einer der spektakulärsten Arbeitsplätze: der Ort, an dem Karosserie und Motor zusammenkommen. Von der Hallendecke schwebt das frisch lackierte Metallgestell heran, getragen von Maschinenarmen. Unten schiebt ein Fließband den Motorblock in Position. Dann wird beides fest miteinander verschweißt. „Hochzeit“, so nennen sie das bei Opel. Vermählt wurden hier im Kunstlicht des Bochumer Werks I schon Modelle wie der Kadett, Opel GT, Ascona oder Manta. Die beiden Arbeiter, die an diesem Abend in ihrem grauen Dress die Zeremonie bei der Produktion eines dunkelblauen Opels Zafira beobachten, folgen dem Prozedere still und ausdruckslos.
Am heutigen Freitag rollt der letzte Zafira in Bochum vom Band, dann stellt Opel den Autobau im Ruhrgebiet ein, nach 52 Jahren. Für die Stadt endet an diesem Tag viel mehr als eine Serienproduktion. Ein halbes Jahrhundert lang war Opel das Herz Bochums, der Stolz der Menschen. Und mit 97 000 Autos pro Jahr war das Werk bis zuletzt produktiver als andere europäische Opel-Standorte.
„Man hat uns bis heute nicht ins Gesicht gesagt, warum Bochum geschlossen wird“, sagt Rainer Einenkel verärgert. Ein Berufsleben lang schon arbeitet der 60-Jährige für den Autobauer, angefangen mit einer Lehre zum Starkstromelektriker. Seit zehn Jahren ist er Betriebsratsvorsitzender in Bochum – und genauso lange haben er und seine 3300 Kollegen gegen die Pläne zur Werksschließung gekämpft. Ihr Erfolg ist, dass der Kampf überhaupt so lange gedauert hat.
"Wir sind im Arsch" steht jetzt auf den Plakaten
Nun könnte der Verwaltungsbau mit dem großen Opel-Blitz auf dem Dach das Einzige sein, was vom Bochumer Werk I stehen bleibt. In dem denkmalgeschützten Gebäude hat Betriebsrat Rainer Einenkel sein mittlerweile fast leer geräumtes Büro. Vor der Tür hängen an einer Wand gelbe Plakate nebeneinander, auf denen in den Opel-Farben Schwarz und Gelb steht: „Wir bleiben Bochum“. Die Plakate wurden gedruckt, als noch Hoffnung bestand. Inzwischen hat jemand den Slogan mit Kugelschreiber aktualisiert: „Wir sind im Arsch“.
Vom Fenster seines Büro sieht Einenkel auf den riesigen Mitarbeiterparkplatz und die Wut seiner Kollegen. „Das ist mein letzter Opel. Der ist noch aus Bochum“, haben sich einige als Schriftzug in die Heckscheibe geklebt. „Viele von uns haben für immer mit der Marke Opel gebrochen“, sagt Einenkel.
Seit Jahren droht Opel die Insolvenz. Immer wieder hieß es, der Standort Bochum sei in Gefahr. „Die Ungewissheit hat die Leute hier kaputtgemacht“, sagt Einenkel. Gewissheit gab es erst vor zwei Jahren: Auf Anordnung des amerikanischen Mutterkonzerns General Motors verkündete der damalige Opel-Chef Thomas Sedran im Bochumer Werk vor 1700 Mitarbeitern das endgültige Aus. Der Manager kam mit einem Tross an Bodyguards, verlas die Entscheidung ohne weitere Erklärungen und verschwand nach nur fünf Minuten. Rückfragen waren nicht zugelassen. Das Unternehmen mag sich zu alldem inzwischen nicht mehr äußern. Bochums Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz (SPD) sagt, die Kommune habe keinerlei Einfluss auf die Entscheidung nehmen können. Die Wut darüber, wie das Urteil über sie gesprochen wurde, hat sich bei den Opelanern bis heute nicht gelegt.
Großer Verlust: Was der Weggang für die Stadt bedeutet
Am kommenden Montag werden ein paar wenige von ihnen noch einmal vor dem Bochumer Rathaus demonstrieren. Auch die Mitarbeiter der anderen deutschen Opel-Werke in Rüsselsheim, Kaiserslautern und Eisenach sollen zum Generalstreik aufgerufen werden. Zuletzt gab es unter den Mitarbeitern der einzelnen Opel-Standorte keine Solidarität mehr. Denn alle wussten: Um Opel zu sanieren, muss die Produktion gedrosselt werden. Ein Werk muss schließen, an diese Bedingung knüpfte General Motors einen für das Unternehmen überlebenswichtigen Kredit von 3,4 Milliarden Euro. Aber wen es trifft, welches Werk, das wusste lange niemand. Die Angst davor, selbst die Arbeit zu verlieren, trieb Deutschlands Opelaner auseinander.
Nokia ging, Outokumpu ging, jetzt geht Opel
Für den Industriestandort Bochum ist das Ende bei Opel ein neuer schwerer Schlag. Vor sechs Jahren schloss der Handy-Hersteller Nokia sein Werk in der Stadt und 2000 Menschen wurden arbeitslos. Nun ist es gut möglich, dass die Werksschließung von Opel auch Probleme für benachbarte Zulieferer bringt. Im kommenden Jahr will auch der finnische Outokumpu-Konzern sein hiesiges Edelstahlwerk mit 450 Beschäftigten dichtmachen. Und die Europa-Zentrale des Ölkonzerns BP baut gerade einen Großteil der Verwaltungsjobs ab.
Viele wünschten, die Stadt wäre noch so, wie einer der berühmtesten Bochumer, Herbert Grönemeyer, sie besingt: „vor Arbeit ganz grau“. Doch die Arbeitslosenquote in Bochum liegt heute bei mehr als zehn Prozent. In den vergangenen zehn Jahren ist die Einwohnerzahl um 16 000 Menschen auf 365 000 gesunken. Die Opel-Beschäftigten werden zwar zunächst in einer Transfergesellschaft aufgefangen, über die ihnen das Unternehmen noch bis zu zwei Jahre einen Teil ihres Gehalts zahlt. Doch der Altersschnitt im Bochumer Werk liegt bei 50 Jahren. Die Chancen auf eine Neuanstellung sind gering. Zudem sind viele der Mitarbeiter durch die jahrzehntelange spezialisierte Arbeit in der Autoproduktion nur schwer woanders einsetzbar.
Gewerbe statt Brache: Was Bochum jetzt vorhat
Einer, der trotz allem nicht jammern will, ist Rolf Heyer. „Der Ruhrgebietsmensch neigt zum Realismus“, behauptet er. Als solcher schaut er nach vorne. Heyer ist Geschäftsführer der Entwicklungsgesellschaft Ruhr-Bochum (EGR), ein kräftiger Mann mit Vollbart. Als Honorarprofessor gibt er Seminare über moderne Stadtentwicklung und Strukturwandel der Wirtschaft. Er weiß, dass Bochum seine Zukunft nicht allein mit dem Deutschen Bergbaumuseum, den Kneipen des legendären Bermudadreiecks, dem Musical Starlight Express, Dönninghaus-Currywurst oder Fiege-Pils wird bestreiten können. „Bochum hat sich schon einmal erfolgreich neu erfunden“, sagt Heyer. Als in der Kohlekrise tausende Bergleute ihre Arbeit verloren, eröffnete Opel 1962 sein Werk und bot vielen der ehemaligen Kumpel Beschäftigung. Im Jahr 1980, Hochzeit der Produktion, arbeiteten in Bochum mehr als 20 000 Menschen für Opel.
Rolf Heyer soll nun dafür sorgen, dass das knapp 70 Hektar große Werksgelände nicht zur Industriebrache verkommt. Bis zum Sommer werde Opel seine Produktionsanlagen abbauen, heißt es, danach werde das Gelände an die Gesellschaft „Bochum Perspektive 2022“ übergeben, hinter der sich zu 51 Prozent die Stadt Bochum und zu 49 Prozent Opel verbergen. Heyer ist auch hier der Chef. „Die Hallen des Opel-Werks werden anschließend komplett abgerissen, damit wir an dieser Stelle ein Gewerbegebiet aufbauen können“, erklärt er. Dort soll Bochum eine neue Identität verpasst bekommen. Statt Kohle und Autos sollen hier bald IT-Produkte und Medizintechnik produziert werden. Fördergelder gibt es vom Bund und vom Land, Opel beteiligt sich mit rund zehn Millionen Euro.
DHL will bauen, 600 Jobs könnten entstehen
Heyer berichtet von ersten Erfolgsaussichten: Das Logistikunternehmen DHL würde gerne ab 2016 ein 15 Hektar großes Paketverteilzentrum auf dem ehemaligen Opel-Gelände bauen. Die Gespräche laufen. Bis zu 600 Arbeitsplätze könnten entstehen und für manch ehemaligen Opel-Mitarbeiter vielleicht zur Brücke in die Rente werden.
Am 12. Dezember wird der letzte Bochumer Opel voraussichtlich ausgeliefert. Dann werden auch die meisten Beschäftigten ihre Werksausweise abgeben. Einige werden noch bis Mitte 2015 helfen, die Zafira-Produktionslinie abzubauen, die ins Stammwerk nach Rüsselsheim verlagert wird. Andere wechseln zur Opel-Tochter Neovia, die in Bochum das zentrale Ersatzteillager noch ausbauen wird. Seinen Posten im Opel-Aufsichtsrat wird Rainer Einenkel verlieren, denn auch er landet in der Transfergesellschaft. Jetzt aber will er erst einmal das Kapitel Opel würdig zu Ende bringen. Vielleicht bekommt er dabei sogar prominente Hilfe. „Vorhin hat mich Herbert Grönemeyer angerufen“, sagt Einenkel. Grönemeyer habe ihm gesagt, dass er es schlimm fände, wie Opel mit den Bochumern umgegangen sei. Und dass er etwas tun wolle. Wahrscheinlich wird er bald vorbeikommen und für die Mitarbeiter singen, glaubt Einenkel. Davon, dass es tief im Westen viel besser ist, als man glaubt. Ein schwacher Trost.
Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.