Intensivpfleger Ricardo Lange trifft ... Janine Wissler: „Mit Mistgabeln vorm Roten Rathaus – ich wär’ dabei!“
500 Euro mehr, früher in Rente – Ricardo Lange gefällt, was ihm Janine Wissler von der Linken verspricht. Wenn sie nur nicht seine Art der Arbeit verbieten wollte.
Ricardo Lange parkt sein Auto am Rand des Rosa-Luxemburg-Platzes in Berlin-Mitte. Für einen Pandemie-Veteranen wie Lange ist das ein symbolischer Ort. Während er im Frühjahr 2020 die ersten schweren Corona-Kranken versorgte, traf sich hier das deutschlandweit erste kleine Grüppchen, das bezweifelte, dass es die Krankheit gibt.
[Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie kommentiert Ricardo Lange die Entwicklungen im Tagesspiegel. Hier geht es zu seiner wöchentlichen Kolumne.]
Die Keimzelle der Querdenker-Bewegung, die sich noch Hygiene-Demonstranten nannten. „Habe ich damals nicht ernst genommen“, sagt Lange. „Ich dachte: Die wissen es nicht besser.“
Heute, drei Wellen später, ist er hier mit Janine Wissler verabredet, die ebenfalls wenig Verständnis für Corona-Leugner hat, aber neuerdings im Karl-Liebknecht-Haus an der Südseite des Platzes ihr Büro. Lange musste sie erstmal googeln, damit er sie auch erkennt.
Wissler, Janine. Seit knapp fünf Monaten Parteichefin der „Linken“, zusammen mit Susanne Hennig-Wellsow, und seit einem Monat zudem Spitzenkandidatin, zusammen mit Dietmar Bartsch. Dass sie trotz der Doppelfunktion wenig bekannt ist, ist ein Problem für die Linke, aber nicht Wisslers Schuld.
Straßenwahlkampf gibt es noch immer so gut wie nicht, die Plätze in den Talkshows sind für das Personal der Pandemie reserviert, und Wissler ist nur Fraktionschefin in Hessen. Sie wiederum kennt Lange aus dem Fernsehen. „Sagen wir du oder Sie?“, fragt sie ihn freundlich zur Begrüßung – „Du ist für mich okay“, antwortet der.
„Der letzte Corona-Patient ist weg - am Pflegenotstand ändert das nichts“
Das kurze Vorgespräch, das normalerweise als vertrauensbildende Maßnahme gedacht ist, gerät bereits sehr vertraulich. Lange erkundigt sich nach Sahra Wagenknecht. „Die steht ja momentan bei euch ganz schön in der Kritik, ne?“
Wissler wiederum fragt nach der Situation auf den Intensivstationen. „Der letzte Corona-Patient ist weg. Aber das ändert an dem Pflegenotstand ja nichts“, antwortet Lange. „Das habe ich in meiner Landtagsrede gesagt!“, pflichtet ihm Wissler bei. „Die FDP meinte umgekehrt: Wir könnten ein bisschen lockern, wir hätten ja noch Kapazitäten. Wo ich denke: Seid ihr bescheuert! Als ob die Intensivpflegekräfte nichts zu tun hätten!“
[„Soll ich Flaschen sammeln?“ – „Auf dieser Ebene diskutiere ich nicht mit Ihnen“ - hier gibt es das Tagesspiegel-Gespräch von Intensivpfleger Ricardo Lange mit FDP-Vizechef Wolfgang Kubicki]
Rasch wird noch ein Handy aus dem Bildausschnitt der Kamera gerückt und ein klappernder Fensterflügel verschlossen. Dann kann das Gespräch losgehen.
Lange: Ich hab ’ne Frage, bevor wir mit dem eigentlichen Thema anfangen. Sie waren bis vor kurzem Mitglied bei den Gruppen „Marx21“ und „Sozialistische Linke“, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Warum sind Sie, seitdem Sie Spitzenkandidatin und Kanzlerkandidatin sind, dort ausgetreten? Vertreten Sie die Werte nicht mehr, oder ist es einfach ein bisschen doof für Ihre Position jetzt?
Wissler: Die Linke ist ja eine sehr pluralistische Partei, die sich aus verschiedenen Richtungen innerhalb der Linken gegründet hat. Als ich für den Parteivorsitz kandidiert habe und auch gewählt wurde, habe ich gesagt, die Parteivorsitzende muss für die gesamte Partei sprechen. In der Position ist es üblich, dass man kein Mitglied irgendwelcher Strömungen ist. Deshalb gibt man natürlich seine Position nicht komplett auf.
[Ricardo Lange hat nun auch einen eigenen Podcast: "Aufwachraum" - mit prominenten Gästen. Zu allen Folgen geht es hier entlang]
Lange: Welche Werte fanden Sie bei den beiden Organisationen?
Wissler: Die Sozialistische Linke hält es für notwendig, dass die Linke stark in den Gewerkschaften verankert ist und sich auf betriebliche Kämpfe bezieht. Und, ja, ich finde auch, dass es notwendig ist, dass heute noch marxistische Ideen eine Aktualität haben.
Lange: Die Sozialistische Linke bezeichnet sich als radikal. Was heißt radikal? Beim Wort radikal gehen bei mir sofort die Alarmglocken an ...
Wissler: Ja?
Lange: Ja. Da muss ich mal nachfragen.
Wissler: Für mich heißt radikal, im Wortsinn an die Wurzeln von Problemen zu gehen und nicht nur die Symptome zu bekämpfen.
Lange: Dann hoffe ich, dass Sie, aufs Gesundheitssystem gemünzt, auch das Wort radikal benutzen.
Ihr Versprechen: 100.000 neue Pflegekräfte und mehr Geld
Lange siezt Wissler instinktiv, seit die Kamera läuft. Trotzdem ist der Ton des Gesprächs weiter persönlich. Vielleicht liegt es daran, dass beide gleich alt sind: Jahrgang 1981. Nur stammt Lange aus Berlin-Hellersdorf, Wissler aus Hessen, allerdings aus einem für Westdeutschland ungewöhnlichen Milieu: Ihre Mutter, die in einer Autoversicherung arbeitete, engagierte sich für die DKP.
Seit mehr als zehn Jahren arbeiten Lange und Wissler in ihren Berufen, die sie hier zusammengeführt haben: Lange auf Berlins Intensivstation, Wissler im hessischen Landtag. Dort habe sie im Austausch mit Pflegekräften gestanden, bevor Gesundheitspolitik zum Modethema wurde, betont sie. Von denen habe sie gelernt, dass gute Pflege Zeit brauche. „Worte des Zuspruchs sind ja oftmals genauso wichtig eine Spritze. Aber man kann sie nicht abrechnen“, sagt sie.
Das Finanzierungssystem von Kliniken müsste deshalb verändert werden: weg von der Gewinnmaximierung hin zu den Interessen der Patienten und der Beschäftigten. Konkret verspricht sie zusätzlich 100.000 Pflegekräfte und für jede Pflegekraft zusätzlich 500 Euro Gehalt.
[„Bisschen was haben wir hingekriegt“ – „Bekommt man nicht so mit!“: Hier gibt es das Tagesspiegel-Gespräch von Ricardo Lange mit SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz.]
So viel anderes fordern Grüne und SPD auch nicht in diesem Jahr der Pandemie, die die Schwachstellen im Gesundheitssystem offenbart hat. Der Unterschied: Die Linkspartei schrecken die hohen Kosten nicht. Die Reichen sollen sie bezahlen. Umverteilung ist ihr Markenkern.
Janine Wissler stellt Lange sogar in Aussicht, das Renteneintrittsalter zu senken, ein Thema, das ihn umtreibt, weil er jetzt schon gesundheitliche Probleme hat. „Wir wollen erstmal für alle zurück zur Rente ab 65“, erklärt sie. „Aber eben auch frühere Eintrittsalter ermöglichen.“
Das Argument, dass die Demografie das Gegenteil notwendig mache, lässt sie nicht gelten: „Diese Gesellschaft wird immer reicher. Durch Corona gibt es eine kleine Delle, aber die Produktivität steigt. Natürlich ist es möglich, dass Menschen nicht immer länger arbeiten müssen.“
Lange: Sie erzählen viele positive Dinge. Woran liegt es denn, dass trotzdem nicht so viele Menschen die Linke wählen, wie Sie sich das sicher wünschen?
Wissler: Zum einen glaube ich, dass die Menschen sagen: Ihr benennt die richtigen Sachen, aber ob sich wirklich was ändern lässt? Zum anderen hat es sicher auch damit zu tun, dass unsere Performance in den letzten Jahren nicht immer ideal war.
Mitregieren? Nur wenn die Inhalte stimmen
Wenn man bei Google die Wörter „Die Linke“ und „Grabenkämpfe“ eingibt, kommen 31.500 Treffer. Abgesehen von persönlichen Abneigungen, dreht sich der Streit um Grundfragen: Hat sich die Partei zu sehr dem linken Großstadtmilieu anverwandelt und dabei ihre Kernwählerschaft der sozial Schwachen und Arbeitslosen vergessen? Und: Soll sie Regierungsbeteiligungen anstreben um den Preis von Kompromissen, die dafür nötig sind, oder unverwässerte, linke Positionen in der Opposition vertreten?
Die neue Doppelspitze repräsentiert beide Richtungen: Susanne Hennig-Wellsow wirbt für Regierungsbeteiligungen, Janine Wissler gilt als regierungsskeptisch.
Lange: Sie würden nach der Wahl lieber in der Opposition bleiben, richtig?
Wissler: Nee. Es geht immer um die Inhalte. Bevor man falsche Politik fortsetzt, bin ich der Meinung, sollte man in der Opposition bleiben und gemeinsam mit Gewerkschaften und außerparlamentarischen Bewegungen Druck machen für Veränderungen.
Lange: Also: Eine Frau mit Prinzipien, die nur regieren will, wenn sie ihre Dinge auch durchsetzen kann. Radikal, ohne Kompromisse.
Wissler (lacht): Es kommt auf das Wesen des Kompromisses an. Man kann sie dann machen, wenn sie eine Verbesserung für die Menschen bedeuten. Ich möchte nicht, dass die Leute denken: Die Linke regiert, und mir geht es schlechter ...
Lange: Sie haben eben die Privatisierung von Krankenhäusern kritisiert. Sehe ich genauso. Finde ich unmöglich, dass dort Gelder in Hosentaschen von Aktionären flattern, die eigentlich für Patienten gedacht sind. Ich habe gelesen, dass Sie für eine Enteignung von Klinikkonzernen sind. Wie würde so eine Enteignung aussehen? Nehmen wir als Beispiel mal den Konzern Helios: Würden Sie Helios die Kliniken wegnehmen, die Hand schütteln und sagen: Tschüss? Oder gibt’s da Entschädigungszahlungen?
Wissler: Wir haben gerade als hessische Landtagsfraktion in einem Gutachten geschaut, wie ein juristischer Weg aussehen kann. Das Entscheidende zur Frage der Rekommunalisierung von Kliniken ist, dass man die Rahmenbedingungen verändert.
Lange: Enteignung heißt für mich wegnehmen.
Wissler: Na ja, wer enteignet denn hier wen? Eigentlich sind doch uns die Krankenhäuser weggenommen worden. Die sind ja alle mal mit Steuergeld aufgebaut worden.
Lange: Ist es überhaupt realistisch, dass man die Privatisierungen rückgängig machen kann?
Wissler: Ja. Es lohnt sich, darum zu kämpfen, aber ich glaube schon, dass es dafür sehr, sehr viel Druck braucht. Wenn man sich die Geschichte anschaut, sieht man, was Menschen sich alles erkämpft haben. Die Forderung eines Frauenwahlrechts galt auch mal als unrealistisches Ziel.
Lange: Würden Sie eigentlich gern nicht nur das Gesundheitssystem, sondern das ganze Gesellschaftssystem umkrempeln? Ich weiß, dass Sie zum Beispiel gegen den Kapitalismus sind?
Wissler: Ich glaube, dass wir sehr weite Teile von Gesellschaft verändern müssen. Wie das Bildungssystem. Wir wollen nicht, dass der Bildungsweg eines Kindes davon abhängig ist, in welche Familie es reingeboren wurde. Vom Gesundheitssystem haben wir ja schon gesprochen. Wenn wir den Klimawandel bekämpfen wollen, darf es kein Weiter-So geben.
„Sie wollen meine Beschäftigung verbieten!“
Nötig sei eine „Energierevolution“, sagt sie. Die Marxistin Janine Wissler fasst in ihrer neuen Rolle der Parteichefin das Wort Revolution sehr weit. Für sie fällt die Französische Revolution genauso darunter wie die Digitale Revolution, die zwar das Leben der Menschen umwälzte, aber nicht die Besitzverhältnisse. „Ich stelle mir jetzt nicht vor: Alle stehen mit Mistgabeln vorm Roten Rathaus“, sagt sie. „So ist nicht mein Revolutionsbegriff.“
Lange: Wenn wir uns in einem halben Jahr wiedertreffen, was können Sie mir versprechen, dass Sie bis dahin umgesetzt haben?
Wissler: Ich finde es ein bisschen schwierig, etwas stellvertretend für euch zu verändern, denn ich bin der Überzeugung, dass es dazu immer auch gesellschaftlichen Druck braucht.
Lange: Ich setze mich ja schon für bessere Arbeitsbedingungen ein. Ich fahre jetzt zum Beispiel in meinem Urlaub überall auf eigene Kosten hin und rede mit jedem. Aber es muss auch was von der Politik kommen!
Wissler: Ich will mal ein Beispiel geben. Wir waren in Hessen die erste Partei, die kostenfreie Kitas in den Landtag einbrachte. Es hieß immer, das sei nicht finanzierbar. Mittlerweile gibt es sie. Deswegen glaube ich, dass man aus der Opposition heraus eine Menge erreichen kann. Und wenn wir die Möglichkeit haben, im Herbst an einer Regierung oder Regierungsbildung mitzuwirken, sind die Punkte, um die es uns geht: Umverteilung von Reichtum, gute Bildung, gute Arbeit. Das heißt, die Abschaffung von sachgrundlosen Befristungen und die Eindämmung, besser das Verbot von Leiharbeit …
Lange (lacht): Sie wollen meine Beschäftigung verbieten! Ich bin ja Leiharbeiter …
Wissler: Wir sind der Meinung, dass die Leiharbeit ein problematisches Instrument ist, weil die Belegschaften gespalten werden: Man hat die Stammbelegschaft, die Werkverträgler und die Leiharbeiter. Für viele Menschen bedeutet Leiharbeit eine enorme Belastung, weil das Leben überhaupt nicht planbar ist. Für Leute, die kleine Kinder haben, die Flexibilität eine Zumutung. Ein Zweijähriger ist nun mal nicht flexibel.
[Das ganze Gespräch als Video finden Sie unter youtube.com/DerTagesspiegel.]
Eine Stunde ist vorbei. Janine Wissler muss zum Zug nach Frankfurt am Main, wo sie wohnt. „Sie haben eben von Druck gesprochen“, sagt Lange, als beide bereits stehen. „Zurzeit ist die Leiharbeit das einzige, was Druck auf die Kliniken ausübt, weil viele Mitarbeiter dorthin gehen, weil die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung dort besser sind.“ – „In paar wenigen Bereichen kann das ja so sein“, antwortet Wissler.
Dann läuft sie in schnellen Schritten den Flur hinunter, dreht sich noch mal um und reckt einen Arm in die Luft: „Ricardo, tschüss. Mach’s gut. Hat mich sehr gefreut!“
Lange steigt in den Aufzug. Er sieht es nicht ein, dass sein Job verboten werden sollte, den er mag, weil er so viel rumkommt, so viel lernt. „Es müssen Regelungen her, die verhindern, dass Menschen in anderen Branchen durch die Leiharbeit ausgebeutet werden.“
Sonst war ihm Janine Wissler sympathisch. Dafür, dass sie auf Weltanschauungsfragen ausweichend reagierte, hat er Verständnis. Für die Linke, die sich in Umfragen immer mehr der Fünf-Prozent-Hürde nähert, geht es bei der Wahl um jede Stimme. „Mit Mistgabeln vorm Roten Rathaus“, sagt er lachend, während er auf den Rosa-Luxemburg-Platz heraustritt. „Ich wär’ ja dabei!“