Intensivpfleger Ricardo Lange trifft Wolfgang Kubicki: „Soll ich Flaschen sammeln?“ – „Auf dieser Ebene diskutiere ich nicht mit Ihnen“
Pfleger und Tagesspiegel-Kolumnist Ricardo Lange stellt vor der Bundestagswahl Politiker zur Rede. Zum Auftakt: FDP-Vizechef Kubicki. Beide trennen Welten.
In einem Konferenzraum mit Wänden aus Glas sitzt der Intensivpfleger Ricardo Lange, 40, mit einem Gäste-Ausweis des Bundestags in der Hand vor beeindruckender Kulisse: Hinter den Scheiben liegt sonnenbeschienen der Reichstag.
Lange ist vom Nachtdienst in einem Krankenhaus am Rand der Stadt nach Berlin-Mitte gekommen. „Wir hatten heute eine Reanimation“, sagt er knapp. Ein junger Mann, Krebs. „Er ist gestorben.“
Seit Beginn der Pandemie berichtet Lange im Tagesspiegel von seiner zehrenden Arbeit auf Corona-Intensivstationen. Er hatte sich davon erhofft, dass die Missstände, die er benennt, angegangen werden. Doch viel sei nicht passiert, findet er. Immerhin gehört Gesundheitspolitik zu den großen Themen der Bundestagswahl. Deshalb hat er die Spitzenkandidaten der Parteien angefragt, um mit ihnen über ihre Pläne zu diskutieren.
Christian Lindner war der erste, der abgesagt hat. Dass sich die FDP ausdrücklich als „Partei der Besserverdienenden“ verstand, ist zwar lange her. Doch eindeutig Schlechterverdienende wie Pflegekräfte zählen noch immer nicht zu ihrer Kernwählerschaft.
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FDP-Vize Wolfgang Kubicki hat Lange trotzdem ein Treffen angeboten. Kurz nach elf steht er mit himbeerfarbener Krawatte und zum Gruß geballter Faust in der Tür. Kubicki ist brauner, kleiner und freundlicher, als man ihn aus dem Fernsehen kennt. 69 Jahre, Anwalt aus Strande bei Kiel. Seit vier Jahren Vize-Präsident des Bundestags.
„Ich bin kein Pflegeexperte“, sagt er als Gesprächsauftakt. „Zur: Vorgeschichte. Ich habe als Strafverteidiger Einrichtungen gegen den Vorwurf des Sozialversicherungsbetruges verteidigt.“ Sie hatten Pflegekräfte freiberuflich beschäftigt. Sein Zugang zum Thema ist also wirtschaftsliberal. Es sei deren ausdrücklicher Wunsch gewesen, nicht festangestellt zu sein, sagt er. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist das aber verboten. „Das führt zu einem Riesenproblem, denn Stammpersonal zu finden ist zurzeit nicht immer möglich, und das ist nicht alleine eine Frage der Bezahlung ...“
„… was denken Sie, woran das liegt?“, unterbricht ihn Lange.
„In einem Heim dachte ich: Ich bin auf einem Kreuzfahrtschiff“
Kubicki: Je häufiger wir darüber diskutieren, wie schwer der Beruf ist, desto geringer sind die Chancen, dass sich junge Menschen dafür entscheiden. Pflegekräfte brauchen Anerkennung und kein Mitleid. Es gibt ja auch große Unterschiede zwischen den Einrichtungen. In meiner Nachbarschaft im Dänischen Wohld gibt es ein Pflegeheim. Die haben kein Personalproblem, weil schon die Auszubildenden dableiben wollen. Als ich das erste Mal reinkam, habe ich gedacht: Ich bin im Mittelbereich eines Kreuzfahrtschiffes. Da war alles vorhanden!
[Berliner Intensivpfleger an der Corona-Front - hier gibt es die aktuelle Folge von Ricardo Langes Tagesspiegel-Kolumne.]
Lange: Aber das sind optimale Bedingungen, von denen Sie da reden.
Kubicki: Ich finde, es wäre schön, solche positiven Beispiele einmal zu transportieren. Wenn die Faszination des Berufs vermittelt wird, wird es dazu beitragen, Menschen dazu bewegen, ihn zu ergreifen.
Lange: Aber in der großen Masse der Einrichtungen sieht die Realität anders aus. In der Pandemie ist das aufgefallen. Durch den Personalmangel erhalten Menschen keine würdevolle Pflege, oder sie sind sogar gefährdet.
Die FDP regt eine Werbekampagne für den Pflegerberuf an
Lange wirkt fast ein bisschen perplex über Kubickis Lösungsidee für sein Problem. Der lächelt halb ironisch, wie wenn er in einer Talkshow eine seiner oftmals provokanten Ansichten platziert.
Doch diesmal ist das, was er sagt, FDP-Mainstream. In einem „Positionspapier“ der Partei wird zur Bekämpfung des Pflegenotstands sogar eine Werbekampagne für den Beruf vorgeschlagen, was Lange nicht fassen kann. Sobald die neu rekrutierten Kräfte in die Kliniken kämen, fliege doch auf, meint er, wie der Alltag wirklich sei.
„Wir können nicht nur vor der Kamera rumjammern“
Kubicki: Herr Lange, Sie beschreiben den für Sie frustrierenden Ist-Zustand, den ich als genauso frustrierend empfinde. Die Frage ist: Wie bekommen wir mehr Personal? Das bekommen wir nicht, wenn Sie den Leuten sagen: Euer Leben wird frustrierend sein! Wenn sich mehr Menschen für den Beruf entscheiden, bessern sich die Arbeitsbedingungen automatisch.
Lange: Okay, wir können nicht nur vor der Kamera rumjammern. Aber man muss ja auch irgendwann mal anfangen, Dinge zu verändern. Ein Kollege von Ihnen, Sebastian Czaja aus Berlin, meinte mal zu mir, die FDP habe die Idee, eine 35-Stunden-Woche für Pflegekräfte einzuführen. Liegt er da richtig?
Kubicki: Pflege ist ja ein körperlich und vor allem ein psychisch anstrengender Beruf. In diesem Fall wäre es auch angemessen, die Arbeitszeit zu verkürzen. Das lässt sich aber nur realisieren, wenn wir das aktuelle Personalproblem gelöst haben.
Lange: Soll ich Ihnen meine Meinung sagen, wie sich der Pflegenotstand bessert? Also auf jeden Fall durch ein angemesseneres Gehalt für die Verantwortung, die man hat.
Kubicki: Da bin ich voll auf Ihrer Seite.
Lange: Welche Bezahlung finden Sie angemessen?
Kubicki: Ja also …
Lange: Na? Das müssen Sie mir sagen können. Ich muss Sie ja in einem halben Jahr dran erinnern können.
Kubicki: Als Einstiegsgehalt etwas zwischen 2800 und 3500, je nachdem.
Lange: Brutto, netto?
Kubicki: Brutto! Sie können sich gerne mal mit Menschen unterhalten, die mit 22 irgendwo anfangen: Für die ist das eine Menge Holz. Ich bin ja Anwalt. Angestellte Anwälte bekommen, wenn sie nicht in Großkanzleien gehen, zu Beginn 4500 Euro brutto.
Das ganze Gespräch, ungeschnitten, können Sie hier sehen:
Lange: Man verdient bereits so viel als Einstiegsgehalt auf Intensivstationen, wie Sie vorschlagen: 2200 netto. Reicht anscheinend nicht. Sonst würden ja mehr Leute sagen: Mann, mache ich jetzt immer! Ist ja wahnsinnig viel Geld für Nachtdienst, Spätdienst, die hohe Verantwortung, den Riesenstress. Jetzt wird sogar vorgeschlagen, dass bis 68 gearbeitet werden muss, auch als Pflegekraft oder Dachdecker oder sonst wer. Das ist doch nicht normal!
Kubicki: Einen Dachdecker mit 65 aufs Dach zu schicken, ist unverantwortlich. Aber ihn beispielsweise Nachwuchskräfte ausbilden zu lassen, ist möglich. Unsere Überlegung ist, dass jeder selbst entscheiden kann, wann er aufhören will zu arbeiten: zwischen 60 und 70. Das ist das schwedische Modell ...
Lange: … bei vollem Lohnausgleich?
Kubicki: Nein, nein, nein. Sie müssen dann schon Abschläge hinnehmen, können aber dazuverdienen.
Lange: Was heißt das für mich als Pflegekraft?
Kubicki: Ich würde raten, dass man seine individuelle Lebensplanung darauf ausrichtet ab 60 oder 55 aus seinem Beruf auszuscheiden, reduzierte Rentenleistungen in Anspruch zu nehmen und gleichzeitig die Möglichkeit zu nutzen, in anderen Bereichen, wenn man das will, noch was hinzuzuverdienen.
Lange: Also ich soll jetzt als Vollzeit-Mitarbeiter zusätzlich irgendwo etwas erlernen, was mir später ein zweites Standbein ermöglicht. Das ist Ihr Konzept für die Zukunft?
Kubicki: Sie sollen keinen zweiten Beruf lernen, sondern sich mit der Frage beschäftigen, was Sie noch machen können. Das kann ja sehr kreativ sein.
Lange: Ich hab’ mal gehört, es gibt Leute, die sammeln Flaschen. Meinen Sie so was?
Kubicki: Auf dieser Ebene macht’s für mich keinen Sinn, mit ihnen zu diskutieren. Ich meine, dass man sich möglicherweise um Kinder kümmert. Ich kenne eine Reihe von Menschen, die so etwas tun, weil es ihr Leben erfüllt. Ich kenne auch Menschen, die wollen mit 60 aus ihrem jetzigen Beruf Vollzeit raus, aber Teilzeit weiterarbeiten. Das ist eine Lebensentscheidung.
Lange: Und ich kenne genug Pflegekräfte, die noch keine 60 sind und große gesundheitliche Probleme haben. Die schleppen sich von Dienst zu Dienst. Ich glaube nicht, dass die so glücklich wären mit dem, was Sie sagen. Ich bin 40 und aufgrund der Pandemie schon völlig kaputt.
Kubicki: Dann werden Sie den Beruf auch keine 20 Jahre mehr ausüben.
Lange: Eben. Aber was ist die Alternative?
Kubicki: Was anderes zu machen. Die Alternative ist nicht, dass wir sie jetzt mit 40 in Rente schicken. Ich kenne Leute, die fangen an, Bücher zu schreiben...
Die FDP setzt auch in der Gesundheit auf Wettbewerb, Digitalisierung, Entbürokratisierung
Spätestens jetzt wird klar: Lange, der kämpferische Krankenpfleger, und Kubicki, der Spitzenpolitiker der „Freien Demokraten“, wie er die FDP immer nennt, trennen Welten. Zwei Gesundheitsminister hatte die FDP Anfang des Jahrhunderts. Doch mittlerweile profiliert sich die Partei auf anderen Feldern.
Ihr gesundheitspolitisches Programm liest sich wie die Anwendung der liberalen Grundthemen Wettbewerb, Digitalisierung, Entbürokratisierung, nur eben in Krankenhäusern und Krankenkassen. Kubicki verspricht sich vom Einsatz von Robotern, Pfleger zu entlasten. Lange findet das ein „Zukunftsgespinst“.
Langes Idee von Effizienzsteigerungen wiederum ist, Krankenkassen zusammenzulegen und Private abzuschaffen. Das lehnt Kubicki ab: Die Privaten würden mit ihren höheren Abrechnungssätzen die Leistungen von Kassenpatienten mitfinanzieren. Er erlaubt sich den kleinen Insider-Scherz und zitiert als Kronzeugen dafür, alles beim Alten zu lassen, den Direktor der Uni-Klinik Schleswig-Holstein Jens Scholz.
„Wolfgang“, habe der gesagt, „lass' bloß die Finger davon, denn die Privatpatienten garantieren uns einen Durchschnitt, den wir sonst nicht bekommen würden für die Leistungen, die wir anbieten müssen.“ Was er nicht sagt: Bei Jens Scholz handelt es sich um den Bruder des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, der eine Bürgerversicherung einführen will.
[Lesen Sie hier: Ricardo Lange trifft ... Olaf Scholz]
Trotz unüberbrückbarer Differenzen wird der Ton der Debatte mit der Zeit freundlicher. Lange berichtet, dass die Personaluntergrenzen auf Stationen, die Jens Spahn eingeführt hat, wenig geholfen haben. „Wenn sie knapp unterschritten werden, beispielsweise zehn statt zwölf Pflegekräfte da sind, werden die Patienten auf die zehn aufgeteilt.“
Kubicki hört interessiert zu, er überzieht fast eine halbe Stunde. Und am Ende sind sich Lange und er in einem Punkt sogar einig: Beide befürworten Leiharbeit in der Pflege, die die Berliner Gesundheitssenatorin Kalayci mit einer Bundesratsinitiative zu verbieten versuchte hat. Ricardo Lange arbeitet freiwillig bei einer Leasingfirma.
„Dass man Sie rausmobbt, ist eher unwahrscheinlich“
Lange: Momentan bieten Zeitarbeitsunternehmen zum größten Teil die Arbeitsbedingungen, die man sich wünscht: Ich kann Urlaub nehmen, wann ich will, meinen Dienstplan mitbestimmen, und das Gehalt ist besser. Und das Geld dafür muss ja da sein. Die Kliniken bezahlen es ja.
Kubicki: Weil sie keine Festangestellten kriegen! Ich bin nicht nur Jurist, sondern auch Ökonom. Deshalb sage ich Ihnen: Mit der Marktmacht, die man momentan als Pflegekraft hätte, wäre auch gegenüber Kliniken relativ viel durchzusetzen, wenn man sich organisiert.
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Lange: Man müsste nicht mal streiken, sondern nur Dienst nach Vorschrift machen: Nein, ich springe nicht ein.
Kubicki: Oder: Ich bin nicht bereit, mich dem Risiko auszusetzen, vom Staatsanwalt verfolgt zu werden, weil ich mehr Patienten betreuen muss, als ich eigentlich darf. Es ist ja auch eine Haftungsfrage. Dass man Sie dann rausmobben würde, wäre eher unwahrscheinlich, weil der Platz ja nicht anders besetzt werden könnte. Also ich will jetzt keine Handlungsanleitung geben …
In der nächsten Folge trifft Ricardo Lange Olaf Scholz
So endet das Gespräch fast kumpelhaft. „Bleiben Sie dabei, Ihre Stimme zu erheben“, sagt Kubicki lachend zu Lange. „Sie kennen das ja aus dem normalen Geschäft: Wer schweigt, hat schon verloren.“ Dann lästert er noch ein bisschen über Jens Spahn, der großspurig durch die Welt reiste, um Pflegekräfte anzuwerben, ohne Erfolg.
Und über Angela Merkel, die sich als die „beste Europäerin“ darstellen wollte und die Impfstoffbestellung der EU übertrug, die damit wartete, bis im November auch Bulgarien zustimmte. Warum weder er noch ein anderer FDP-Politiker frühzeitig auf das Versäumnis öffentlich hingewiesen hat, sagt er nicht.
[Das ganze Gespräch als Video finden Sie unter youtube.com/DerTagesspiegel. In der nächsten Folge trifft Ricardo Lange auf Olaf Scholz, Bundesfinanzminister und Spitzenkandidat der SPD für die Bundestagswahl am 26. September.]
Schließlich lädt er Lange ins Pflegeheim im Dänischen Wohld ein mit seinen „glücklichen Angestellten und glücklichen Patienten“, wie er verspricht. „Im August vielleicht.“ Lange revanchiert sich mit einer Gegeneinladung in seine unterbesetzte Intensivstation im Krankenhaus am Rand der Stadt.
„Herr Lange, hat mich gefreut!“, sagt Kubicki zackig, zieht sich seine Maske über die Nase und läuft los zum nächsten Termin. Ricardo Lange fährt im Aufzug nach unten. „Bei dem muss man manchmal richtig energisch werden, damit er einen ausreden lässt“, sagt er und lacht. Doch er rechnet Kubicki an, dass er die Auseinandersetzung mit ihm nicht scheute und dabei sogar empathisch wirkte, obwohl die Positionen seiner Partei es nicht sind. Doch jetzt braucht Lange endlich Schlaf. Um halb zehn beginnt die nächste Nachtschicht.