Neuer Senat in Berlin: Michael Müller, zum Erfolg verdammt
Küsschen links, Küsschen rechts: Michael Müller hat seine erste eigene Regierung. Die alte war ja vom Vorgänger geerbt. Doch viel Spielraum hat er nicht.
Wird in Berlin ein neuer Regierender Bürgermeister gewählt, kommen die Schornsteinfeger gern zur Begrüßung vorbei. Michael Müller hat das selbst schon erlebt, fast genau zwei Jahre ist das her, und deshalb nahm er routiniert die Parade auf der Rathaustreppe ab: Das Protokoll schreibt vor, dass die noch nicht final ernannten Senatoren außen herum mit dem Fahrstuhl zum Wappensaal, aufsteigen, während der Chef, schon amtlich gewählt, zu Fuß über den roten Teppich hinauf steigt.
Die 17 Männer und Frauen in ihrer schwarzen Berufskleidung hatten auch Reisigbesen zum Zwecke der Spalierbildung mitgebracht, – einen roten und einen grünen, versteht sich, aber seltsamerweise auch einen gelben, einen blauen sowie mehrere naturfarbene, mit denen sie möglicherweise dazu aufrufen wollen, das Wohl der gesamten Wählerschaft glückhaft im Blick zu bewahren. Aber ach, sagte Müller im Hinblick auf die Kommandos der Fotografen: „Ihnen geht’s wie mir, Sie werden hier auch von anderen dirigiert.“
Der alte und neue Regierende war locker und heiter, für seine Verhältnisse schon recht nah am Triumphieren, aber bitte, er hatte es allen gezeigt und das rot-rot-grüne Rumpelmobil endgültig aufgegleist. Da waren die vier am Ende fehlenden Stimmen nur eine Art selbstverständlicher Reibungsverlust: 88 Ja-Stimmen von 92 Koalitionären macht immer noch gut 95 Prozent, das hat kürzlich nicht mal die Kanzlerin geschafft. Für verbissene Fahndung nach den Abweichlern und ihren Motiven gibt es keinen Grund – und der Tag insgesamt war ja auch so schon nicht ohne.
An der Kleidung der Koalitionspartner erkennt man die Unterschiede
Um 9 Uhr hatte die Prozedur im Festsaal des Abgeordnetenhauses begonnen, mit der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags, der verhindern soll, dass es nachher keiner gewesen sein will. Neun Plätze waren an der Tafel vorbereitet, es war ein bisschen wie beim letzten Abendmahl, aber ohne Nahrungsaufnahme. Michael Müller in der Mitte, neben ihm die designierten Bürgermeister Ramona Pop und Klaus Lederer, alle ausgestattet mit feinen Kugelschreibern, die die Aufschrift „R2G Berlin“ trugen.
„Berlin gemeinsam gestalten – solidarisch, nachhaltig, weltoffen“ steht auf dem Einband des Vertrags, dessen Seitenzahl sich, drucktechnisch bedingt, mal wieder geändert hatte – sehr, sehr dick ist er aber immer noch, dicker als jeder andere jemals in Berlin gefertigte Koalitionsvertrag. Jeweils neun Signaturen in je einem Exemplar für jede Partei erheben ihn zum Fahrplan für die Senatspolitik der kommenden Jahre, einem Fahrplan, in dem verblüffend viele Details festgeschrieben wurden bis hin zur Verbannung der Pferdekutschen aus der Innenstadt. Im Grunde, so scheint es, muss dieser Katalog nur noch Punkt für Punkt verwaltungstechnisch umgesetzt und buchhalterisch abgearbeitet werden. Müller betonte schon mal, freute sich schon mal darüber, dass dies der Beginn seiner ersten eigenen Legislaturperiode sei, die er nun selbst gestalten könne – die alte hatte er bekanntlich 2014 von Klaus Wowereit geerbt. „Darauf“, sagte Müller, „freue ich mich auch.“
CDUler begrüßen AfD-Mann Pazderski mit Handschlag
Wer genau auf die neuen Senatsmitglieder sah, der erkannte aber die austarierten optischen Unterschiede zwischen den Parteienvertretern, die nicht festgeschrieben, aber unveränderlich sind: Müller und SPD-Fraktionschef Raed Saleh kamen staatstragend in dunklem Anzug und Krawatte, die Linken Udo Wolf und Klaus Lederer trugen die Kragen zum lockeren Sakko solidarisch offen, und Werner Graf von den Grünen hatte ein Sweatshirt an; die beteiligten Damen, Carola Bluhm von der Linken, die Grünen Ramona Pop, Antje Kapek und Nina Stahr entzogen sich naturgemäß solcherlei Kategorisierung. Den stärksten Effekt erzielte allerdings der neue Justizsenator Dirk Behrendt von den Grünen mit symbolhaltiger Fußbekleidung: grüne Socken, knallrote Schuhe.
Um 10 Uhr eröffnete Ralf Wieland, derPräsident, die Sitzung des Abgeordnetenhauses mit ein paar Formalien. Unterhalb seines Podiums war die Atmosphäre entspannt und geschäftig, keiner rechnete mit Überraschungen, man netzwerkte nach Kräften, und neben der Regierung formierte sich auch die Opposition ein wenig: Georg Pazderski von der AfD jedenfalls wurde von den Christdemokraten Florian Graf und Frank Henkel freundlich per Handschlag begrüßt.
Dann ließ der Präsident die Wahlkabinen hereintragen, die Prozedur lief reibungslos, um 10.40 Uhr war die Stimmenauszählung beendet. Die Eingeweihten kehrten aus dem Hinterzimmer zurück ins Plenum und signalisierten entspannt: Alles in Ordnung soweit.
Wie ein Schuldirektor mit den besten Abiturienten des Jahres
Müller konnte alsbald seinen Eid ablegen und tat das mit Gottesbezug, ein im R2G-Raum rares Phänomen – später würde es ihm Ramona Pop als einziges neues Senatsmitglied nachtun, während alle anderen es bei einem schlichten „Ich schwöre es“ beließen. Die Christdemokraten, die sicher mit Berufung auf Gottes Hilfe ans Werk gegangen wären, müssen ihre Oppositionsarbeit natürlich unvereidigt leisten.
Das war es fürs Erste mit der Sitzung, denn wegen des hübschen Rahmens war der Wappensaal im Roten Rathaus für die Übergabe der Ernennungsurkunden ausgewählt worden. Erstmals zeigte sich der R2G-Senat in voller Schönheit, und Michael Müller agierte wie ein enthusiasmierter Schuldirektor, der die besten Abiturienten des Jahres vorstellen darf. Den besten Draht in der Koalition hat er offenbar zu Klaus Lederer, dem „lieben Klaus“, dem er zum Amt des Kultursenators praktisch ironiefrei den Hinweis mitgab, damit könne man durchaus sehr viel Spaß haben.
Die Senatorinnen, alle wohlbekannt, schickte er mit Küsschen links und rechts in die Reihe zurück, ausgenommen die parteilose neue Umweltsenatorin Regine Günther, die sich mit einem Händedruck bescheiden musste – man kennt sich eben noch längst nicht so gut wie der Rest der Truppe, die sich ja schon durch die epischen Koalitionsverhandlungen ans Herz gewachsen ist. Ein paar freundliche Worte über die Wichtigkeit seiner Aufgabe bekam jeder mit auf den Weg, ausgenommen der Wissenschaftssenator, der ausgespart blieb, weil Müller sich den Job selbst zugesprochen hat.
Erste Debatte des neuen Parlaments: die Höhe der Diäten
Sodann machte sich die Fahrgemeinschaft in schwarzen Limousinen auf den Rückweg zum Abgeordnetenhaus, wo die Senatoren abschließend vereidigt werden mussten, einer nach dem anderen mit erhobener rechter Hand und der Eidesformel. Nächster Tagesordnungspunkt: Zweite Lesung des 23. Gesetzes zur Änderung des Landesabgeordnetengesetzes mit dem schlichten Zusatz: „Die Angabe ,3369 Euro’ wird durch die Angabe ,3742 Euro’ ersetzt“ – die Diätenerhöhung zum 1. 1., die die AfD ablehnt.
Die Senatoren hatten es sich gerade auf den für sie vorgesehen Plätzen gemütlich gemacht, da mussten sie schon wieder aufstehen: Erneut wurden Wahlkabinen vor die Senatsbänke geschoben, um die Berliner Vertreter in der Bundesversammlung zu bestimmen, die im kommenden Jahr den Bundespräsidenten wählt – der Plan einer parteiübergreifenden Regelung war kurz zuvor gescheitert.
Ende der Sitzung, Zeit für kurze Reden und Interviews. Erster Eindruck: Ramona Pop, nicht nur bekennende Christin, sondern auch Bürgermeisterin und Wirtschaftssenatorin, scheint neben Kultursenator Lederer und natürlich dem Chef fürs Erste am meisten gefragt zu sein. Müller selbst setzte sich routiniert in Szene, gab zu Protokoll, dass ihm die Abweichler bei seiner Wahl keine Kopfschmerzen bereiten, „man weiß ja nie, wo die Stimmen herkommen“. Aber er regiere nun mit einer „guten und klaren Mehrheit“, das sei entscheidend.
Es sieht nach Arbeit aus im neuen Senat
Und von Weihnachtspause sei erst einmal gar keine Rede, sagte er, und nannte als dringendstes Problem die Frage der Flüchtlingsunterbringung: „Wir wollen die Weihnachtszeit nicht vertrödeln, sondern sie dafür nutzen, endlich die Turnhallen zu räumen.“ Außerdem wolle man gemeinsam, die in der Koalition vereinbarten Investitionsprogramme auf den Weg bringen, speziell, was die maroden Schulen angehe, „da ist keine Zeit zu verlieren“.
Dann war er auch schon wieder verschwunden; die erste Sitzung des neuen Senats war für 18 Uhr angesetzt. Klaus Lederer schlug da noch mit kräftigen Worten Pflöcke ein und äußerte die Auffassung, der Koalitionsvertrag trage eine eindeutig linke Handschrift. Er wolle mehr Wohnungen für Geringverdiener, aber auch die Schuldenbremse einhalten.
Gelungene Regierungsbildungen sind nie die Stunde der Opposition. Die Parteien auf der rechten Seite des Hauses äußerten sich deshalb nur Pflichtschuldig: Der neue Regierende habe offenbar nicht die volle Rückendeckung der Koalitionsparteien, sagte Florian Graf von der CDU, FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja nahm den „kleinteiligen“ Koalitionsvertrag als Beleg dafür, dass sich die drei beteiligten Parteien von vornherein misstrauten. Und AfD-Mann Pazderski rezensierte vorab die ganze Legislaturperiode. Er glaube nicht, dass sich etwas zum Positiven wende unter der neuen Regierung. So oder so: Es sieht nach Arbeit aus im neuen Berliner Abgeordnetenhaus. Rot-Rot-Grün kann Energie abstrahlen in die Bundespolitik – oder in zäher Kleinteiligkeit ersticken. An den Schornsteinfegern liegt es dann jedenfalls nicht.