Ein Jahr "Wir schaffen das": Merkels Machtwort, Merkels Mysterium
"Wir schaffen das", sagte die Kanzlerin. Das? Was ist das? Ihre Antwort liegt im stoischen Handeln. Nach diesen Worten gibt es kein Zurück. Das weiß die Kanzlerin.
Wie ist sie wirklich, wer weiß das schon? Beate Baumann, ja, ihre Büroleiterin, die sie näher als jeder andere in der Politik erlebt, Eva Christiansen, die ihre Kommunikation koordiniert und auch schon lange Jahre bei ihr ist. Vielleicht noch Steffen Seibert, der Regierungssprecher, als einziger Mann, der sich in erster Linie als ihr persönlicher Sprecher ansieht. Sie alle sind täglich mit ihr zusammen, um sie herum, begleiten sie, mehr oder weniger sichtbar. Und, natürlich, ihr Mann Joachim.
Aber sagen sie etwas über sie, sagen im Sinne von verraten? Nein. Würden sie etwas sagen? Nie. Denn wer sagt, wie sie ist in den wirklich schwierigen, heiklen Situationen, der würde bald nichts mehr von ihr hören. Angela Merkel, das Mysterium. Alle denken, dass sie sie kennen – und kaum einer tut es wirklich.
Es war ein langer Weg von der Pressesprecherin im „Demokratischen Aufbruch“ in der DDR mit dem unseligen Wolfgang Schnur an der Spitze, der so lange für die Stasi spitzelte, bis heute. Heute sind es elf Jahre, die sie Deutschland regiert, die neue deutsche demokratische Republik, ein Land, das sich mählich nach ihrem Bild formt, wie von selbst. Pragmatismus, man ist versucht zu sagen: gnadenloser Pragmatismus, ist die neue Ideologie.
Aber womöglich ist es diese eine Begegnung gewesen, dieser eine Tag, der sie mehr als alle Kollegen, als alle Präsidenten in ihrer Politik verändert hat. Und ohne den der zentrale Satz ihrer Kanzlerschaft nicht denkbar gewesen wäre: Wir schaffen das.
Es ist der 15. Juli 2015, als die Bundeskanzlerin in Rostock mit Schülern diskutiert. Die 15-jährige Palästinenserin Reem erzählt, dass sie nicht weiß, ob sie bleiben kann, und dass sie Angst hat, abgeschoben zu werden. Angela Merkel reagiert kühl, ja geschäftsmäßig. Es könnten nicht alle in Deutschland bleiben, manche müssten zurückgehen, sagt sie. Das Mädchen bricht in Tränen aus. Merkel versucht, es zu trösten. Sie wirkt überrascht und auch getroffen von der Wirkung ihrer Worte.
Politik ist ein hartes Geschäft. Wer in der Politik bleibt, erfolgreich ist, wird hart. Manchen macht dieses Geschäft hart bis ans Herz. Die Bundeskanzlerin augenscheinlich nicht. Sie, die das kühle Kalkül wie keine Zweite beherrscht, musste sich beherrschen, um nicht aus der Fassung zu geraten, das zeigen die Bilder. Und ihre Politik seither zeigt es auch.
Die Flüchtlingspolitik verändert Deutschland, manche sagen: grundlegend. Und es ist Merkels Flüchtlingspolitik. Schöpferische Gestaltung sieht vielleicht anders aus, aber fast alles, was geschehen ist und noch geschieht, ist ihre Schöpfung – durch das, was sie durch ihre Worte schafft. Sie, die nicht die größte Rednerin ist, ist doch nur scheinbar unbegabt zum Pathos, es mag ihre seltsam flache Modulation sein, diese freundlich-unaufdringliche, nicht zum Zuhören drängende Monotonie, die überhören lässt, was sie sagt und was ihre Worte auslösen können: tiefe gesellschaftliche Eruptionen.
Merkel reagiert intuitiv: "...dann ist das nicht mehr mein Land"
Beben kündigen sich ja auch oft genug leise an. Am 15. September kommt der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann nach Berlin, noch steht seine Regierung an Merkels Seite. „Ich bin dankbar, dass du bei dieser Entscheidung nicht zögerlich warst“, lobt der Sozialdemokrat die deutsche Kollegin. In der Pressekonferenz wird die Kanzlerin gefragt, ob sie es war, die den Ansturm mit ihrer Entscheidung ausgelöst habe. Merkel zeigt sich emotional, zeigt, für viele ungewohnt, ihre intuitive, situative Seite: „Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
Ihr Land, ein Jahr später: Mehr als eine Million Menschen sind über die deutsche Grenze gekommen. Und so, wie die Kanzlerin weltweit ein neues Bild von den Deutschen hervorgebracht hat, positiv zugewandt, offen, gefühlvoll, so hat sie zugleich in den Tagen, Wochen und Monaten danach den Menschen dieses Ungewohnte nicht näherbringen können. Merkel ist ihnen in dieser ungewohnten Art fremd geblieben, fremd im eigenen Land. Und bei den Kollegen in Europa, den harten Politikern, sowieso.
Das Fremde an ihr, das Fremde in uns, das ist alles die Folge. Denn das Fremde kam unaufhaltsam, nicht wie noch im Mai von Thomas de Maizière vorhergesagt in Gestalt von 450.000 Menschen, sondern rasch immer mehr. Über die Ägäis flüchten täglich Tausende mithilfe von Schleppern nach Griechenland, über Mazedonien, Serbien, über die Balkan-Route nach Ungarn. Ein Strom, der sich staut. Monate vorher hatten die Nachrichtendienste darauf aufmerksam gemacht – jetzt muss gehandelt werden. Jetzt muss Deutschland handeln, damit der Strom abfließen kann, in Europa nicht alle politischen Dämme brechen. Deutschland darf sich doch Europa nicht verweigern, muss Europa und der ganzen Welt seine Solidarität zeigen.
Dann kommt dieser zweite Moment, der alles überwölbt: Westbalkankonferenz mit Merkel in Wien, die Sitzung wird unterbrochen. Auf der Autobahn findet die Polizei einen Lastwagen, in dem 71 Flüchtlinge erstickt sind. Die Kanzlerin nimmt dieses Bild mit. Wenig später, am 31. August, sagt sie, Deutschland sei für viele Menschen auf der Welt ein Sehnsuchtsort. So erklärt sich, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 4. September an die sogenannten Dublin-Regeln außen vor lässt, so dass Flüchtlinge vorerst nicht mehr dorthin zurückgeschickt werden, wo sie erstmals europäischen Boden betreten haben.
Aber mehr noch. Merkel stellt die Flüchtlingsfrage in eine historische Dimension, auf eine Ebene mit der Wiedervereinigung und der Finanzkrise. „Wir schaffen das, und wo uns etwas im Weg steht, muss es überwunden werden“, sagt sie. Es klingt entschlossen. Merkel hat beschlossen, dass ihr Land das schaffen kann, schaffen muss. Das ist der Satz ihrer Kanzlerschaft, ihr politisches Credo. Und das ist Merkels Plan, ist er immer: Sie, die aus der DDR kam, will vor allem eine gute Europäerin sein. Es gibt wohl nichts, das sie stärker leitet.
Sie wiederholt den Satz, um Mut zu machen
„Das“ schaffen wir, sagt sie – das? Was ist das? Ihre Antwort liegt im stoischen Handeln. Vorwärts immer, rückwärts nimmer, denn nach diesen Worten gibt es kein Zurück, das weiß die Kanzlerin. Sie hat sie als Person, als Mensch, und qua Amt gesprochen. Aber was hätte sie auch anderes sagen sollen? Ein anderer vormaliger DDR-Bürger, der ebenso ein guter Europäer sein will, Bundespräsident Joachim Gauck, mag sich gar nicht vorstellen, was gewesen wäre, hätte Angela Merkel gesagt: Wir schaffen das nicht.
Wir schaffen das – Merkel glaubt es, und sie glaubt daran. Sie wiederholt es Mal um Mal, gewiss um Mut zu machen. Manchmal scheint es, als müsse auch sie sich Mut zusprechen. Was hat sie sich nicht alles anhören müssen, zum Beispiel im sächsischen Heidenau, als die Demonstranten gegen ein Flüchtlingsheim „Volksverräterin“ und „Hure“ rufen. Da reicht ein Vermerk des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, und sofort merkt die extreme Rechte auf, muckt sie auf. Und doch ist der Satz in genau dem Moment wahr geworden, in dem Merkel ihn ausgesprochen hat. Der Satz gibt alles vor, und wo staatliche Stellen versagen, hat er Menschen hierzulande motiviert, dort einzuspringen, wo es ohne sie nicht zu schaffen gewesen wäre.
Sie hat sich "für die Vision eines anderen Deutschland" entschieden
Sieht so ein Scheitern aus? Ist es ein Scheitern, wenn man entscheidet, Grenzen offen zu halten, um Panik zu begegnen, weil man nicht bereit ist, Abertausende Flüchtlinge mit Gewalt zu stoppen? Merkel war dazu nicht bereit. Sie hat, wie die Regierung verlautbart, „eine absolute Notlage bereinigt“. Gescheitert, endgültig, ist sie nur bei Horst Seehofer, dem Vorsitzenden der bayerischen Schwesterpartei, den sie für ihre Entscheidung zu gewinnen versucht hat. Er hält es für einen Fehler und sagt später, dass Merkel darauf geantwortet habe: „Da bin ich jetzt aber zutiefst betrübt, dass du das so siehst.“ Seehofer hat in einem recht: Die Kanzlerin hat sich „für die Vision eines anderen Deutschland“ entschieden. Nur nicht im Alleingang, sondern dem Gang der Dinge folgend.
Jetzt ist sie bereit, notfalls auch im Alleingang dem Satz immer wieder Geltung zu verschaffen. Notfalls. Doch weil alle wissen, alle staatlichen Stellen, dass es kein Zurück gibt, arbeiten sie auch alle daran, die Bürgermeister, Landräte, Ministerpräsidenten, die Initiativen und Verbände. Es waren viele, die gekommen sind – es werden immer weniger, die nachkommen. Und sie kommen unter, weil es alle gemeinsam schaffen, sie unterzubringen. Noch nicht alle endgültig, aber bis auf Weiteres. Immerhin: So viel ist geschafft. Manche Wirtschaftsexperten sagen außerdem voraus, dass die Lösung der Flüchtlingsfrage wie ein großes Investitionsprogramm wirken wird, zumindest was die Infrastruktur betrifft. Es werde, heißt es, den ohnehin nötigen Bau von zusätzlichen Wohnungen und Straßen beschleunigen.
„Deutschland wird Deutschland bleiben, mit allem, was uns lieb und teuer ist“, sagt die Kanzlerin zum Jahrestag. Sie sagt es der „Süddeutschen Zeitung“, die in Seehofers Bayern erscheint. Damit meint sie Deutschlands Werte und Grundsätze. Aber das Land verändert sein Gesicht im Gefolge der Menschen, die kommen. Merkels Entschlossenheit, ihre Unbeirrbarkeit, trägt zur Veränderung bei. Lange, fast ein Jahrzehnt lang, konnte beinahe jeder in ihr das entdecken, was er oder sie entdecken wollte.
Die Kanzlerin war die Projektionsfläche, die es einer großen Mehrheit ermöglichte, sich mit ihr zufrieden zu erklären oder auch nur zu geben. Heute hat diese Fläche Risse – aber immer noch schaut fast die Hälfte der Deutschen auf sie und erkennt seine Vorstellungen von einem guten Leben wieder. Denn was gutes Leben in Deutschland sei, hat Merkel längst auch bei den Menschen abfragen lassen. Mag sie ihrem Credo folgen, ganz ohne wissenschaftliche Zuarbeit wird sie ihre Politik dann doch nie wagen.
Hat sie Gerhard Schröder vor Augen?
Eine solche Politik, entschlossen und unbeirrt von allen Rufen und Zwischenwahlergebnissen, bleibt dennoch immer ein Wagnis. In jeder Kanzlerschaft kommt das Ende aller Prinzipienfreiheit, so ist es auch in ihrer. Vielleicht, wahrscheinlich hat sie manches Mal Gerhard Schröder vor Augen, den SPD-Vorgänger, der als prinzipienlos galt – und dann alle Wahlen und die Macht verlor für das Prinzip einer Veränderungsagenda, die Deutschland aus seiner Sicht nötig brauchte. Unverändert aber wirkt sie und wird selbst von seinen Gegnern als in Teilen hilfreich eingestuft. Daran kann sich Merkel orientieren.
Wieder ein Moment: das Foto des dreijährigen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi, wie er tot an einem türkischen Strand liegt. Die Welt sah es – und sollte dem tatenlos zuschauen? Wer kann das schaffen? Und doch muss die Kanzlerin gewahr werden, dass ihr Satz seinen Zauber verliert. Die Stimmung kann kippen. Immerhin gibt es „Pack“, von dem Vizekanzler und Koalitionspartner Sigmar Gabriel vor Monaten sprach, einen Mob, den man nicht einfach wegsperren kann. Es kann kippen, weil es die Neue Rechte gibt, Pegida und die AfD, die keine andere Alternative bieten als auf die Ängste der Menschen zu bauen, auf ihre Verunsicherung, ihr Nichtwissen. Da reicht ein Credo, das zum Mantra wird, nicht aus, da müssen Fakten helfen. Die Merkel kennt. Und Erklärungen, die sie immer noch zu wenig gibt.
Fakten sind, dass kein Deutscher für einen Ausländer auf einen Arbeitsplatz verzichten muss, oder dass von denen, die tatsächlich in Deutschland wohnen, sechs Prozent Ausländer sind. Dass im Land der Wohlstand wächst. Dass Asylgewährung so strikt wie noch nie reglementiert ist. Dass demnächst die Zuwanderung geregelt wird, eine, die Deutschland braucht, bald jährlich 500.000, damit es bleibt, wie es ist. Doch eine Million Flüchtlinge von 82 Millionen Einwohnern – das erklärt sich nicht von selbst. Und so wie ihr Land verstehen muss, dass es sich in jedem Fall in den kommenden Jahren verändern wird, muss Merkel verstehen, dass auch sie sich verändern muss, damit die Menschen sie verstehen.
Wie die Europäer, ganz besonders die, die mit ihr als Regierungschefin zusammenarbeiten. Denn sonst werden sich ihre Rolle und ihr Einfluss in Europa verändern. War sie bisher stets mehr die Moderatorin oder Mediatorin, besonders in Richtung Osten, wird sie jetzt als dominant angesehen. Ihr Ansehen sinkt, weil ihr mehr denn je unterstellt wird, Deutschlands Gewicht ausnutzen zu wollen. Dabei ist die Wirklichkeit eine andere. Als die Flüchtlinge zu Tausenden kamen, im vergangenen September, diskutierten die Diplomaten der EU über eine faire Verteilung. Die Osteuropäer blockierten. Das ist bis heute so.
Auch das muss die Kanzlerin noch schaffen.