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„Wie eine Bambusstange, die gleich bricht.“ Schmerzpatienten klagen am häufigsten über Rückenleiden. Auch Kopfschmerzen sind weit verbreitet.
© imago/Science Photo Library

Warum Schmerzpatienten so lange nach Hilfe suchen: Leidenswege

„Schonen Sie sich“, rät ein Arzt. Da kann sie sich nicht mehr bewegen. „Sie haben nichts“, sagt ein Experte. Da schluckt er schon drei Tabletten am Tag. Schmerzpatienten suchen oft jahrelang nach Hilfe. Warum ist das so?

Die Schmerzen kommen im Jahr 1980. Ein Stechen im Rücken. Beate Hinze ist 13 und kann sich nicht mehr drehen. „Mama, ich muss zum Arzt“, sagt das blonde Mädchen. „Ach, was soll sein ...?“, antwortet die Mutter. Doch die Schmerzen bleiben.

Andreas Schwabbauer-Thon ist 34, als die Schmerzen kommen. Es ist das Jahr 2000. Er hat bei der Arbeit zu viel gehoben, glaubt der ehemalige Leistungssportler. Das geht weg. „Was soll schon sein?“, beruhigt er sich.

Sein Leidensweg beginnt mit einer Spritze. Ein Orthopäde verabreicht sie ihm. Doch sie hilft nicht. „Es fühlt sich an, als sei der Rücken eine Bambusstange, die bis zu dem Punkt gebogen wird, an dem sich gleich bricht“, beschreibt Schwabbauer-Thon sein Leiden. Zur Arbeit schleppt er sich trotzdem. Typ: „Indianer kennen keinen Schmerz“.

Als es nach Wochen nicht besser wird, verordnet der Hausarzt Akupunktur. Linderung verschafft sie nicht. Im Gegenteil. Die Beine schlafen ihm ein, werden taub. Wieder ein paar Wochen später wird er zum Neurologen geschickt. „Sie müssen sich entspannen“, rät der Arzt. Die Schmerzen bleiben.

„Schonen Sie sich“, sind auch die Worte, die Beate Hinze mit auf ihren Weg gegeben werden. „Sie sind so verspannt.“ Die Teenagerin bekommt eine Halskrause und ein Jahr Krankengymnastik verschrieben. Die Schmerzen bleiben.

Zwei Schicksale, zwei von Millionen

So beginnen zwei Odysseen durch das deutsche Gesundheitssystem. Zwei Schicksale. Zwei von unzähligen. Jan-Peter Jansen, Leiter des Schmerzzentrums Berlin, vermutet rund zwei Millionen chronische Schmerzpatienten in Deutschland. Andere Schätzungen gehen von mitunter zehnmal so vielen aus. Jansen hält das für übertrieben, aber er sagt auch: Die Zahlen nehmen zu. Hier in Prenzlauer Berg behandeln sie 9000 Menschen im Quartal. Jansen sitzt in einem kleinen Büro mit Blick auf die enge Schwedter Straße. Ein alter Sekretär steht gegenüber von einer Behandlungsliege, eine Kuckucksuhr hängt an der Wand. Jansen trägt weiße Hose, rotes T-Shirt und die grauen Haare im Bürstenschnitt. Mehr als die Hälfte ihrer Patienten klagen über Rückenschmerzen, sagt er und dass es typisch sei, dass sie oft jahrelang von Arzt zu Arzt, von Praxis zu Praxis geschickt würden, ohne dass ihnen geholfen werden könnte. Eine Ursache zu finden, sei häufig sehr schwer.

Beate Hinze lernt mit ihrem schmerzenden Rücken als Erstes, sich einzuschränken. Fahrrad fahren kann sie zunächst noch, aber vom Sportunterricht wird sie befreit. Der Schmerz ist ein Zerren und Stechen. „Als wäre da eine offene Wunde und jemand spielte mit dem Finger darin herum“, sagt sie. Immer wieder ist sie in Behandlung. Aber die Schmerzen bleiben. Sie beginnt schlecht zu schlafen, weil sie keine Position findet, in der sie liegen kann. Dazu kommen die Panikattacken, die ihr von jetzt auf gleich die Luft abschnüren. Räume werden ihr plötzlich zu eng, die Nähe von Menschen unerträglich. Einen Zusammenhang sieht keiner. Auch sie nicht.

Die Ergebnisse können nicht stimmen, sagen die Ärzte

Schwabbauer-Thon landet nach Monaten in einer sogenannten Muskelsprechstunde. Nadeln werden in seine Leiste und seinen Oberschenkel gesteckt. Von den Zehen aus wird Strom durch sein Bein geschickt, um die Leitgeschwindigkeit der Nerven zu messen. Die Ergebnisse können nicht stimmen, sagen die Ärzte und tun, was in einem solchen Fall notwendig ist – sie erhöhen die Leistung. „Ein höllisches Gefühl“, sagt Schwabbauer-Thon. Die Ärzte sagen: „Sie haben nichts.“ Drei 600er Ibuprofen schluckt er da bereits – am Tag. Bei normalen Kopfschmerzen reicht den meisten Menschen eine 200er.

Die Internationale Schmerzgesellschaft mit Sitz in Washington D.C. definiert Schmerzen als „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird“. Das bedeutet: Das Erleben von Schmerzen ist nicht zwingend an tatsächliche Verletzungen oder Schädigungen gebunden. Das macht die Diagnose mitunter extrem schwierig. Bis heute gibt es keine Möglichkeit, Schmerz objektiv zu messen. Ärzte arbeiten mit einem Fragebogen, auf dem die Patienten die Stärke der Schmerzen auf einer Skala von 0 bis 10 angeben sollen. Aber nicht jeder leidet gleich. Was für den einen kaum auszuhalten ist, empfindet ein anderer vielleicht nur als unangenehm.

Versuch und Irrtum: Warum die Medizin häufig ratlos ist

„Wie eine Bambusstange, die gleich bricht.“ Schmerzpatienten klagen am häufigsten über Rückenleiden. Auch Kopfschmerzen sind weit verbreitet.
„Wie eine Bambusstange, die gleich bricht.“ Schmerzpatienten klagen am häufigsten über Rückenleiden. Auch Kopfschmerzen sind weit verbreitet.
© imago/Science Photo Library

Beate Hinze kreuzt regelmäßig die Zahlen im oberen Drittel an. Als sie 20 ist, bekommt sie ihren ersten Sohn, mit 21 die erste Tochter. Es sind schwierige Zeiten. Ihr Mann fängt an zu trinken, misshandelt sie, aber sie sagt sich: „Zähne zusammenbeißen und durch. Für die Kinder.“ Familie, die ihr helfen könnte, gibt es nicht. Zu ihrem Vater hat sie ein, wie sie es formuliert, „schwieriges Verhältnis“. Sie denkt in Tagen. Einen nach dem anderen.

Schwabbauer-Thons Sohn kommt 2002 zu Welt, als seine Tochter sechs Jahre alt ist. Zur Arbeit kann er da schon seit langem nicht mehr, und auch der Alltag zu Hause wird zunehmend zum Problem. Den Sohn bekommt er kaum aus dem Bettchen vor Schmerzen. Auch das Kochen, das er sich als Ausgleich zur fehlenden Arbeit beigebracht hat, wird zur Prüfung. Er kommt nicht mehr an die Töpfe heran. Auf Kinobesuche verzichtet er, weil er nach dem Film nicht mehr aus dem Sitz aufstehen kann. Also geht er wieder zum Arzt.

Erst seit 1965 gilt chronischer Schmerz überhaupt als Krankheit, erklärt Jansen. „Vorher hieß es immer: Die haben einen Knall.“ Das heißt es aber auch nachher noch gelegentlich. Eine Expertin, zu der Schwabbauer-Thon geschickt wird, fragt ihn, ob es nicht vielleicht doch psychologische Ursachen gebe? Stress? Frust? Schwabbauer-Thon fühlt sich nicht ernst genommen.

Ein Chefarzt der Charité schließlich, bei dem er wieder ein paar Monate später vorstellig wird, findet beim Aufnahmegespräch die Empfehlung der Kollegin in seiner Krankenakte. Was er hier wolle?, herrscht er Schwabbauer-Thon an. Er habe doch schon eine Diagnose. Er solle zur Psychotherapie. Dann wirft er den Patienten kurzerhand aus dem Sprechzimmer. „Es war zum Verzweifeln“, sagt Schwabbauer-Thon. „Die Schmerzen waren so schlimm, die kann ich mir doch nicht einbilden. Man fühlt sich komplett hilflos, wenn niemand erklären kann, was man hat.“

Zumindest was Schmerzen sind, kann man erklären

Zumindest was Schmerzen sind und warum wir sie spüren, lässt sich relativ einfach erklären. Es handelt sind vereinfacht gesagt um elektrische Impulse, die vom Gehirn und dem Rückenmark als Warnsignal interpretiert werden. Das ist evolutionär durchaus sinnvoll. „Der Urmensch, der spürte, dass sein Arm beim Schlafen im Lagerfeuer landete, hatte am nächsten Morgen noch einen“, sagt Jansen. Was schiefläuft, wenn Schmerzen chronisch werden, ist allerdings tatsächlich häufig kaum erklärbar. Warum Menschen Fibromyalgie bekommen, chronischer Faser-Muskel-Schmerz, weiß die Medizin zum Beispiel nicht. Und auch bei der Therapie läuft vieles nach der Methode Versuch und Irrtum. „Im Prinzip hauen wir mit dem Hammer auf der Wand rum, bis wir einen Nagel treffen“, sagt Jansen.

Nach drei Jahren Leben mit dem Schmerz ist Schwabbauer-Thon bei täglich 2400 mg Ibuprofen angekommen. Sein Arbeitgeber hat ihm inzwischen gekündigt. Was ihm bleibt, ist die Hoffnung auf Heilung. Also: mehr Ärzte, mehr Untersuchungen. Einer tippt auf einen Bandscheibenvorfall. Aber das ist es auch nicht. „Irgendwann nervt es nur noch“, sagt Schwabbauer-Thon. Alles dreht sich im Kreis. Und die Schmerzen werden schlimmer.

Wie die von Beate Hinze. Immer wieder geht sie zu Ärzten, immer wieder bekommt sie Spritzen, Schmerzmittel und zu hören: „Wir wissen nicht, was Sie haben.“ Der Vorwurf, sie simuliere, steht irgendwann bei jedem Gespräch im Raum. Auch ihr schlägt ein Orthopäde eine Bandscheiben-OP vor. Sie will nicht. Nimmt stattdessen 800 mg Ibuprofen am Tag, bis ihr Magen rebelliert. Die Ärzte verschreiben Novaminsulfon, Tramadolor, Tavor – schwere Schmerz- und Beruhigungsmittel.

2004 wandern Schwabbauer-Thons Schmerzen den Rücken hinauf zum Kopf. Seine Rezeptzettel sind inzwischen nicht mehr rosa, sondern gelb: Er braucht Opiate, die normalen Schmerzmittel reichen nicht mehr. Parallel werden ihm Mittel zur Muskelentspannung verabreicht. Von manchen wird ihm schlecht, andere wirken bewusstseinsverändernd, wieder andere lösen Kopfschmerzen aus. „Nichts hilft“, sagt er. Bei wie vielen Ärzten er war, weiß er da schon kaum noch. Mit den Opiaten, deren Dosierung ständig erhöht wird, kommt er durch den Tag, aber dann wird das Schlafen zum Problem. Ruht er aus, fangen seine Glieder an zu zittern. „Meine Frau konnte nicht mehr mit mir in einem Bett liegen, so einen Zappelphilipp hatte ich“, sagt er.

Brüllend wird er ins Krankenhaus gebracht

2006 vergisst Schwabbauer-Thon vor dem Wochenende, seine Opiatvorräte aufzustocken. Als die betäubende Wirkung nachlässt, wird er brüllend vor Schmerzen ins Benjamin-Franklin-Klinikum gebracht. Seine Vergesslichkeit ist sein Glück. Ein anwesender Arzt hat kürzlich etwas gelesen und eine Idee. Er schickt ihn zu einem Pathologen, der eine Gewebeprobe nimmt. Wieder Hoffnung. Wieder warten.

Während Schwabbauer-Thon sich geduldet, geht die Suche für Beate Hinze weiter. Sie landet bei einem Neurochirurgen. Der vermutet wieder einen Bandscheibenvorfall und spritzt ihr ein paarmal Betäubungsmittel und Kortison direkt an die Wirbelgelenke. Das lindert den Schmerz etwas. Die Schulung zur Pflegerin, die sie angefangen hat, nachdem sie sich von ihrem Mann getrennt hat, muss sie trotzdem häufig im Stehen absolvieren. Sitzen ist zu schmerzhaft. Sie schafft den Abschluss, aber kann nicht arbeiten. Inzwischen schläft sie mit einer Beißschiene, weil sie sich im Schlaf einen Zahn ausgebissen hat. „Ich war wie gefangen im eigenen Körper, und die Ärzte wissen nicht, was sie mit mir machen sollen“, sagt sie. Es zermürbt sie, immer wieder von vorne zu erzählen und dann zu zweifeln. „Bin ich so unglaubwürdig? Denken die, ich spinne?“ Dazu die Panikattacken. Es macht sie fertig, dass es keine Antwort gibt.

Nach fünf Jahren kommt endlich die Diagnose - und der Schock

„Wie eine Bambusstange, die gleich bricht.“ Schmerzpatienten klagen am häufigsten über Rückenleiden. Auch Kopfschmerzen sind weit verbreitet.
„Wie eine Bambusstange, die gleich bricht.“ Schmerzpatienten klagen am häufigsten über Rückenleiden. Auch Kopfschmerzen sind weit verbreitet.
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Schwabbauer-Thon bekommt seine nach mehr als fünf Jahren des Leidens. Die Biopsie ergibt: mitochondrische Myopathie mit Mutation des mitochondrialen Polymerase-Gamma-Gens. Ein Gendefekt – und ein extrem seltener Befund. Die Zuckerverbrennung in den Mitochondrien, so etwas wie die Kraftwerke der Muskeln, funktioniert nicht. Die Folge ist etwas, dass man sich als eine extreme Art von Muskelkater vorstellen muss. Damals haben das in Deutschland nicht einmal zehn Patienten.

Doch der Erleichterung, endlich zu wissen, dass er sich seine Schmerzen nicht einbildet, dass seine Krankheit einen Namen hat, folgt ein neuer Schock. Der Defekt ist nicht heilbar. Die Schmerzen werden bleiben. Für immer.

Auch Beate Hinze hat irgendwann Glück. 2012, nach mehr als 30 Jahren der Qual, bekommt sie im Schmerzzentrum des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe zum ersten Mal nicht nur Schmerzmittel, sondern auch Verhaltenstherapie. Eine Offenbarung. Wenn auch eine schreckliche.

Als sie im Winter 2014 beim Spaziergang durch den Spandauer Park davon erzählt, bricht sie immer wieder in Tränen aus. „Ich hab so viel verdrängt und weggepackt“, sagt die inzwischen 47-Jährige durch den dicken Schal, der ihr halbes Gesicht verdeckt. Dann stockt sie wieder. Was genau in ihrer Kindheit vorgefallen ist, will sie nicht sagen, die Scham ist so groß, dass sie nicht mal ihren wirklichen Namen in der Zeitung lesen will. Aber aus den Bruchstücken kann man sich auch so zusammenreimen, dass ihre Jugend ähnlich schlimm wie ihre spätere Ehe gewesen sein muss.

Plötzlich ergibt alles Sinn - der Schmerz, die Panik

„Es war das erste Mal, dass ich zugelassen habe, darüber nachzudenken, was passiert ist“, sagt sie über die Therapie. Alles ergibt plötzlich Sinn. Ihre Panikattacken. Und auch ihre Schmerzen. Sie lernt zu beobachten, wie sie permanent ihre Schultern hochzieht, wie sie ständig die Fäuste ballt. Wie sie versucht, ihren Körper zum Panzer zu formen. Wie sie sich immer weiter verkrampft, bis die Muskeln sich entzünden. Nach Jahren der erfolglosen Suche bekommt auch sie endlich eine Diagnose: kein Bandscheibenvorfall, überhaupt nichts Organisches, sondern posttraumatische Belastungsstörung.

Das Problem, die richtige Diagnose zu stellen, glaubt Jansen, ist vor allem der Spezialisierung und der fehlenden Vernetzung der Ärzte geschuldet. „Die medizinischen Schulen rivalisieren miteinander, und jeder weiß es am besten“, sagt er. „Der Orthopäde sucht organische Ursachen, der Psychologe seelische, der Chirurg will operieren ...“ Nur selten komme es zu einer fächerübergreifenden Kooperation. Als er in den 80er Jahren studierte, war Schmerztherapie noch nicht mal Prüfungsfach. Das sei heute anders. Und trotzdem seien Schmerzpatienten immer noch bei vielen Ärzten unbeliebt, weil die Diagnose und Behandlung so schwierig und Rückschläge an der Tagesordnung seien. Gerade junge Kollegen interpretierten es häufig als eigenes persönliches Versagen, wenn sich die Schmerzen nicht abstellen ließen.

Auch Beate Hinze leidet immer noch. Aber sie weiß inzwischen, wie sie dagegen arbeiten kann. Nicht mit Operationen, sondern mit Entspannungsübungen und gezielter Bewegungstherapie. Sie hat Hoffnung, dass sie irgendwann ohne Schmerztabletten leben kann.

Hoffnung hat er nicht mehr

Schwabbauer-Thon hat die nicht mehr. Im Winter der Jahres 2014 sitzt er im Wohnzimmer seiner Wohnung in Alt-Mariendorf. Eine Katze springt durch den Raum. Der inzwischen 48-Jährige folgt ihr mit müdem Blick, der so gar nicht zu seinem Körper passen will, der immer noch dem eines Bodybuilders ähnelt.

Seit mehr als 14 Jahren lebt er inzwischen mit den Schmerzen, seit fast acht mit seiner Diagnose. 2010 musste er ein neues Opiat verschrieben bekommen, weil das alte nicht mehr höher dosiert werden konnte. Damit geht es, sagt er. „Es fühlt sich jetzt in etwa an wie der wummernde Schmerz, der bleibt, nachdem man sich mit dem Hammer auf den Finger geschlagen hat.“

Den Alltag kann er nur noch im Zeitlupentempo bewältigen. Wenn er seinen Sohn zur Schule gefahren hat, muss er erst mal drei Stunden ausruhen. Sonst überanstrengt er die Muskeln. „Der Verzicht ist am schlimmsten“, sagt er. Es kratzt am Selbstbewusstsein. „Mit meiner Tochter konnte ich noch Sachen machen, die ich mit meinem Sohn nicht mehr teilen kann.“ Urlaub, wandern ... geht alles nicht mehr. Und was geht, wird jeden Tag weniger. „Irgendwann sitze ich im Rollstuhl“, sagt er. Es sei denn, die Krankheit erreicht vorher den Herzmuskel. Das könnte tödlich sein. Wie viele Jahre er hat, weiß er nicht. Nur, dass sie schmerzhaft werden. Das Kochen und die Kinder bewahren ihn vor der Verzweiflung, sagt er.

Sein Sohn und seine Tochter kommen aus der Schule. Er begrüßt sie. Setzt sich wieder an den Tisch. Vorsichtig.

Manchmal, sagt er, wünsche er sich, er hätte doch was am Kopf gehabt.

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

Moritz Honert

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