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Rückenschmerzen gehören zu den häufigsten Beschwerden überhaupt.
© IMAGO

Medizin: Kreuzschmerz oft falsch behandelt

Forscher beklagen, dass Rückenbeschwerden nicht selten zu übertriebener Therapie führen – und empfehlen, sich stattdessen viel zu bewegen.

Rückenschmerzen gehören zu den häufigsten Volksleiden. Im Laufe eines Jahres haben sie 70 Prozent der Erwachsenen in Deutschland, und jeder vierte Einwohner lässt sich deswegen behandeln. Rückenschmerzen gehören aber auch zu den am häufigsten falsch behandelten Leiden, wie ein neuer Report herausstellt. Geändert hat sich offenbar wenig. Bereits im Gutachten 2000/2001 bemängelte der Gesundheits-Sachverständigenrat Über-, Unter- und Fehlversorgung bei Rückenschmerzen.

Spezialisten warnen seit Jahrzehnten vor falschen Behandlungen. Vor allem davor, dass zu viel des Guten getan wird, also vor Überversorgung. Unvergessen ist der temperamentvolle Ausbruch des Berliner Neurologieprofessors Peter Marx während einer Ärztefortbildung: „Da kommt ein Kreuzschmerzpatient mit einem Packen Röntgenbilder zu mir und zitiert seinen Arzt: ‚Sehen Sie sich die vielen Zacken an, Ihre Wirbelsäule sieht ja furchtbar aus!’ – Der Arzt sollte sich mal seine eigene Wirbelsäule ansehen!“ Selbst knöcherne Veränderungen müssen rein gar nichts mit den Schmerzen zu tun haben, befand Marx.

Trotz "bedenklicher" Röntgenbilder kann das Befinden sich bessern

In der Tat: Nirgends so oft wie beim Rücken weichen der sichtbare Befund und das Befinden des Patienten total voneinander ab. Deshalb warnen kritische Experten davor, immer gleich zu röntgen. Am häufigsten schmerzt die Lendengegend: Kreuzschmerz.

Bei mindestens 90 Prozent der Betroffenen ist der Schmerz „unspezifisch“. Das heißt, er lässt sich nicht durch eine konkrete körperliche Veränderung erklären. Er ist trotz seiner Stärke harmlos und verschwindet bei richtigem Verhalten in kurzer Zeit wieder. Bildgebende Diagnostik und längere Schonung dagegen sind eher schädlich. Man fühlt sich dann gleich kränker und wird es auch. Denn Bewegungsmangel schwächt die – oft nur verspannten – Muskeln und macht schmerzanfälliger.

Dagegen soll man so bald wie möglich seine Alltagsaktivitäten fortführen, nötigenfalls unterstützt durch Entspannungsverfahren und Schmerzmittel, wobei Spritzen auch nicht besser helfen als Tabletten. Also Bewegung statt Schonung, sonst können die Kreuzschmerzen chronisch werden.

Das ist alles seit langem wissenschaftlich erwiesen und praktisch erprobt. Ärzten wie Laien wurde es wiederholt bekannt gemacht. Die Ärzte sind durch zahlreiche Fachvorträge und -publikationen sowie Behandlungsleitlinien informiert, und auch Laien können sich mit Hilfe von genügend Informationsquellen schlau machen. Zum Beispiel erschien schon 2004 das „Rückenbuch“ der Stiftung Warentest mit dem programmatischen Untertitel „Aktiv gegen Schmerzen“.

Aber alle Aufklärung hat nicht viel genützt. Die Erkenntnisse der Wissenschaft werden oft ignoriert, die Behandlung vieler Kreuzschmerzpatienten ist veraltet, wie Forscher im „Versorgungs-Report 2013/14“ anhand erschreckender Daten und Fakten feststellen: Die Zahl der bildgebenden Verfahren nimmt noch immer zu, die der Injektionsbehandlungen auch, selbst die Operationen. Aber die Kreuzschmerzen werden nicht weniger.

Befragen und Untersuchen des Patienten sind entscheidend

Selbst die wenigen Fälle ernst zu nehmender Kreuzschmerzen (zum Beispiel wegen Infektionen, Tumoren oder Nervenschädigungen) sind schon durch eine Befragung und eine gründliche körperliche Untersuchung erkennbar, also zunächst ohne Röntgen, Computertomografie oder Kernspin (MRT). Das entnimmt man der „Nationalen Versorgungs-Richtlinie Kreuzschmerz“.

Wie alle diese Leitlinien beruht sie auf dem Konsens der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften. „Grundlage sind die derzeit besten verfügbaren Belege aus Wissenschaft, Klinik und Praxis“, heißt es. Herausgegeben werden die Leitlinien vom „Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin“. Im Internet sind sie frei verfügbar. Von der Kreuzschmerz-Leitlinie gibt es auch eine Patientenfassung.

Warum aber werden die begründeten Warnungen vor potenziell schädlicher Überdiagnostik und Übertherapie (Spritzenabszesse, -infektionen, allergische Reaktionen und Chronifierzung) nicht beachtet? Zu den möglichen Erklärungen für die Zunahme diagnostischer und therapeutischer Leistungen gehört laut Versorgungs-Report „eine durch die Vergütungsstrukturen induzierte Nachfrage“. Soll heißen: Vieles wird gemacht, weil es bezahlt wird, ob hilfreich oder nicht.

Vielleicht ist der Arzt aber auch vom Nutzen überzeugt, oder nicht der Arzt, sondern der Patient, und der Arzt gibt gegen seine Überzeugung nach – wie bei der sinnlosen Verordnung von Antibiotika bei Virusinfektionen, die zu resistenten Keimen führen kann. Neben finanziellen Vorteilen werden juristische Motive diskutiert: Es gilt als riskanter, auf eine fragwürdige Maßnahme zu verzichten, als deren Unwirksamkeit und Komplikationsträchtigkeit in Kauf zu nehmen.

Fazit des Rücken-Kapitels im Versorgungs-Report 2013/14: Die Zunahme der Untersuchen und Behandlungen von Rückenschmerzen (mit teilweise fragwürdigen Mitteln) hat nicht zur Abnahme solcher Schmerzen geführt, aber zum starken Anstieg der Zahl von Rückenoperationen. Jedoch wird auch eine Unterversorgung konstatiert. „Die ineffektiv eingesetzten finanziellen Mittel fehlen an anderen Stellen, zum Beispiel für die bessere schmerzpsychologische Betreuung sowie für Aufklärung und Beratung“, heißt es im Report.

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