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Jeremy Corbyn.
© AFP

Radikaler Star der Labour-Partei: Jeremy Corbyn: Alter Spalter

Jeremy Corbyn war Hinterbänkler, Querkopf, Sozialist. Nichts wies darauf hin, dass aus dem Briten nochmal einer wird, der führt. Jetzt könnte ihn die Labour-Partei zu ihrem Chef wählen.

Das Lieblingsrestaurant von Jeremy Corbyn ist legendär. Und eigentlich sollte es schon gar nicht mehr da sein. „Gaby’s Deli“ liegt in der Charing Cross Road, der Theatermeile Londons zwischen Neonreklamen und den Filialen großer Restaurantketten. Die Stühle im Deli sind abgewetzt, es gibt Falafel und Salted Beef für wenig Geld, zumindest für Londoner Verhältnisse. Die Gäste machen sich nichts aus edler Küche. Menahem Kojman, der hier seit 20 Jahren hinter der Bar steht, kennt den britischen Unterhausabgeordneten Corbyn gut. Der komme regelmäßig, um zu essen, sagt Kojman, aber nie Fleisch. Corbyn ist Vegetarier.

Mit „Gaby’s Deli“ könnte es bald vorbei sein. In einem Jahr läuft der Mietvertrag aus. Schon vor drei Jahren sollte das Restaurant schließen, der Besitzer wollte eine Kaffeekette in die Räumlichkeiten lassen. Die Stammgäste wehrten sich. Zeitungsartikel an der Wand erinnern daran. Auch Jeremy Corbyn habe sie damals unterstützt, er unterschrieb die Petition, half dabei, dieses Relikt aus einer anderen Zeit zu retten.

Wohl nicht nur, weil er gerne hier isst. Der Kampf von „Gaby’s Deli“, er ist auch sein Kampf, seit über 40 Jahren als Politiker. Ihr da oben, wir da unten. Überleben im Turbokapitalismus. Und als Relikt würden seine Kritiker Corbyn wohl auch bezeichnen.
Noch vor vier Monaten wies nichts darauf hin, dass aus Jeremy Corbyn einmal jemand werden könnte, der führt. Sein Leben war das eines Quertreibers, eines Querulanten: 32 Jahre Hinterbänkler-Dasein, zweite Reihe, links. Corbyn ist Sozialist. Wie sein Lieblingsrestaurant schien er besser in eine andere Zeit zu passen. In die Vergangenheit.

Bald eine entscheidende Rolle?

Doch plötzlich sieht es so aus, als könnte Corbyn in der Zukunft Großbritanniens eine entscheidende Rolle spielen. Anfang Juni hat er sich als Kandidat für den Vorsitz der Labour-Partei zur Wahl aufstellen lassen. Von Politikern und Teilen der Presse wird er seitdem mal als „der gefährlichste Mann in der britischen Politik“, mal als „unwählbar“ bezeichnet. Sowohl Tony Blair als auch dessen Nachfolger Gordon Brown lehnen ihn ab. Einer wie er, sagen sie, sei ganz sicher der Untergang der Labour-Partei. Wenn das stimmt, hat die Partei nicht mehr lange. An diesem Sonnabend findet die erste basisdemokratische Wahl eines Labour-Vorsitzenden statt. Gewinnt Corbyn, würde er gleichzeitig Anführer der britischen Opposition. Für die Parteispitze ist er ein Problem. Jahrzehntelang hat sie ihn erfolgreich ignoriert. Jetzt führt er unangefochten in den Umfragen, zu seinen Veranstaltungen kommen Tausende. Bei einem Sieg würde Jeremy Corbyn 2020 wohl auch als Kandidat für das Amt des Premierministers ins Rennen gehen. Er wäre dann 71. „Kein nachhaltiger Kandidat“, hatte Corbyn vor seiner Nominierung noch über sich selbst gesagt. Und doch steht er am Ende seiner politischen Karriere nun kurz vor dem Sprung in die erste Reihe. Wer ist dieser Mann? Und wer hat auf einen wie ihn gewartet? Corbyn selbst mag diese Frage nicht beantworten. Persönliches, das hat er oft gesagt, hält er für irrelevant. Also auf zu denen, die ihn kennen müssten.

Das Corbyn-Prinzip

Jeremy Corbyn.
Jeremy Corbyn.
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Seit 32 Jahren ist er Abgeordneter für Islington North, einem Stadtteil von London, bei der letzten Wahl bekam Corbyn 60 Prozent der Stimmen. Islington gilt als Problemviertel. Auf der Liste der unterprivilegiertesten Bezirke des Landes liegt es auf Platz 14. Die Kinderarmut ist die vierthöchste in England, 42 Prozent der Bevölkerung leben in Sozialwohnungen. In direkter Nachbarschaft gibt es aber auch schicke Eigentumswohnungen. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Kaufpreis: ungefähr eine Million Pfund. Ihr da oben, wir da unten – das Corbyn-Prinzip zeigt sich nirgendwo besser als hier.

In Islington, seinem Wahlkreis, seinem Wohnort, beginnt also die Suche. Corbyns Büro liegt in einem niedrigen Gebäude in einer Seitenstraße. „Ethical Property“ steht an der Fensterscheibe, ethisch vertretbare Immobilie. Auf dem Klingelschild findet man Corbyns Namen zwischen „Medical Justice“, „Stop the War“ und „Nicaragua Solidarity“. Im Moment ist er nicht da. Neben der Tür des Büros hängt ein Zettel. Keine Sprechstunden im August. Wer ihm eine Mail schreibt, bekommt eine automatisierte Abwesenheitsmeldung: „In diesem Büro sind wir immer voller Hoffnung.“

Im Sozialwohnungsblock

Ein paar Schritte weiter, auf die andere Straßenseite. Hier erstreckt sich der Sozialwohnungsblock Andover. Über 1500 Menschen leben in großen, aus Ziegeln gebauten Wohnanlagen. Im Internet wird Andover als einer der „schlimmsten Wohnorte Großbritanniens“ bezeichnet. In der Mitte der Anlage liegt, wie ein Dock, das Gemeindezentrum, in dem manchmal Hochzeiten gefeiert werden. Derzeit ist es geschlossen. Es gab eine Schießerei, erst vor wenigen Monaten, ein Mensch starb. Paul Ronan ist einer der Hausmeister von Andover. Er sitzt auf einem niedrigen Sofa im Eingangsbereich und trinkt Tee. Jeremy Corbyn? Klar kenne er den. Ronan zeigt auf die Wände des Raums, die voller Fotos hängen. Auf DIN A4 ausgedruckt, in Farbe. Bilder von Tanzkursen, Nachbarschaftspartys, glücklichen Zeiten. Wie eine Selbstvergewisserung, dass das Leben auch hier schön sein kann. Und Jeremy Corbyn ist darauf zu sehen. Bei der Eröffnung der Kleiderbörse oder beim Sommerfest, immer im weiten Hemd, aus dessen Kragen sein Unterhemd hervorlugt, Stifte in der Brusttasche. Zufällig ist sein Auftreten nicht. Corbyn kultiviert einen gepflegt unordentlichen Stil. Kleidung als Opposition. Als er 1984 dafür von konservativen Abgeordneten kritisiert wurde, antwortete er: „Das Parlament ist keine Modenschau, sondern ein Ort, wo das Volk vertreten wird.“ Den Pullover, den er damals trug, sagte er, habe seine Mutter selbst gestrickt. Es war ihm wichtig, das zu betonen. Corbyn ist stolz auf seine Bescheidenheit. Und die Bewohner in Andover sind stolz auf „ihren Jeremy“. Paul Ronan, der Hausmeister, erzählt, dass Corbyn oft mit seinem Fahrrad am Gemeindezentrum vorbeifährt. Manchmal komme er dann auf einen Tee herein. In letzter Zeit sei er aber nicht da gewesen, und das versteht der Hausmeister, schließlich müsse der Mann ja eine Wahl gewinnen.

Wie Blair lästert

Jeremy Corbyn.
Jeremy Corbyn.
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Dass er sich wirklich durchsetzt, wünschen ihm in der eigenen Partei längst nicht alle. Mit Corbyn als Vorsitzendem, fürchten viele, wäre Labour zur ewigen Opposition verdammt. Seine Ideen seien zu radikal für die breite Masse, er propagiere nur alte Antworten auf alte Probleme. Tony Blair, der die Labour-Partei damals in die politische Mitte und so nach langer Zeit auch wieder in die Regierung führte, ist wohl sein größter Kritiker. „Leute, die ein Herz für Corbyn haben, brauchen eine Transplantation“, ließ Blair wissen. Solch eine Schelte vom Ex-Premier ist viel Aufmerksamkeit für einen, der nie ernst genommen wurde. Überhaupt war Corbyns Kandidatur eigentlich nur als Provokation gedacht. Die Labour-Linke wollte eine Alternative zu den gemäßigten Kandidaten Andy Burnham, Yvette Cooper und Liz Kendall bieten. Eine Stunde vor Ende der Nominierungsphase hatte Corbyn erst 26 Unterstützer innerhalb der Labour-Fraktion. Eine Minute und 15 Sekunden vor Schluss bekam er die nötige 35. Stimme. In der Vergangenheit hätten sich andere für eine symbolische Kandidatur hergegeben, jetzt sei eben er dran, sagte Corbyn in einem seiner ersten Interviews nach der Nominierung. Im Fall seiner Wahl wolle er unter anderem das Eisenbahnnetz wieder verstaatlichen, die Studiengebühren abschaffen und das britische Sparprogramm der Tories beenden. Niemand dachte wirklich, dass er gewinnen könnte.

Von den Eltern politisiert

Das Unbequeme und wohl auch das Trotzige hat Corbyn von seinen Eltern vorgelebt bekommen. Der Vater Elektroingenieur, die Mutter Naturwissenschaftlerin, waren beide politisch aktiv. Sie hatten sich auf einer Friedensveranstaltung kennengelernt. Es ging um den spanischen Bürgerkrieg. Sie stellten sich gegen das politische Establishment Großbritanniens, das Francos Putsch gegen die linke Regierung von Manuel Azañas „Frente Popular“ zu diesem Zeitpunkt noch billigte. Schon als Junge, das erzählt Corbyn in Interviews, gab ihm seine Mutter politische Literatur zu lesen. Unter anderem George Orwells Tagebücher und „The Ragged Trousered Philanthropists“, Robert Tressels vernichtende Bestandsaufnahme der Beziehung zwischen Arbeiterklasse und Industriellen zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Ihr da oben, wir da unten, schon zu Jugendzeiten. Während seiner politischen Laufbahn hat sich das fortgesetzt.

Corbyn sprach sich öffentlich gegen Augusto Pinochet aus, als dieser noch die Unterstützung Großbritanniens genoss. Er lud Vertreter der irisch-republikanischen Partei Sinn Fein zu Gesprächen ins Unterhaus ein. 2001 stimmte er gegen den Krieg in Afghanistan und 2003 gegen den im Irak, seiner eigenen Parteilinie zum Trotz. Zu Zeiten der Blair-Regierung brach er 238 Mal die Parteidisziplin, stimmte im Parlament gegen die eigene Regierung. Stuart Holland kann sich an diese Zeit gut erinnern. Holland, der heute als Professor in Portugal lehrt, war Abgeordneter und Minister im Schattenkabinett, als Corbyn zum ersten Mal ins Unterhaus gewählt wurde. „Er hatte diese wahnsinnige Integrität“, sagt Holland am Telefon. Im Jahr 1984 wurden beide festgenommen, als sie vor der südafrikanischen Botschaft in London gegen Apartheid protestierten. Corbyn, behauptet Holland, habe nie irgendwen um irgendeine Erlaubnis gefragt.

Kampf für Europa

Jeremy Corbyn.
Jeremy Corbyn.
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Holland darf eine gewisse Bewunderung für seinen alten Freund und Rebellen Corbyn unterstellt werden. Erst im März veröffentlichte er das Buch „Ein bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise“. Sein Co-Autor: Yanis Varoufakis. Und Corbyn wiederum hat Sympathien für die politische Linke in Griechenland. Den Umgang mit dem Land bezeichnete er als „brutal“, die EU sieht er kritisch. Doch einen Austritt der Briten will er nicht. „Wir können mit dem derzeitigen Zustand der EU nicht zufrieden sein, aber dies bedeutet nicht, dass wir uns abwenden sollten. Wir sollten bleiben und gemeinsam für ein besseres Europa kämpfen“, hat er kürzlich dem „Guardian“ gesagt.

In vielen seiner Überzeugungen hat Jeremy Corbyn die Geschichte recht gegeben. Pinochet wurde im Jahr 1998 in London verhaftet, Sinn Fein ist heute anerkannt in Irland, und die Kriege der Blair-Ära werden von den meisten Briten als unrechtmäßig empfunden. Jeremy Corbyn, so könnte man zusammenfassen, hat die richtigen Ideen – zur falschen Zeit. Nun will er also im Jahr 2015 eine sozialistischere Gesellschaft und reist dafür durch Großbritannien. Wer wissen will, warum er gerade jetzt so viel Erfolg damit hat, muss eine seiner vielen Veranstaltungen besuchen. Vor dem Theater in Chelmsford warten sie schon lange auf Jeremy Corbyn. Bis um die nächste Ecke stehen die Menschen Schlange. Alte Pärchen neben Gruppen von Jugendlichen, Eltern schieben ihre Babys in Kinderwagen vor sich her. Ein älterer Mann schreitet die Reihen der Wartenden ab. Er hat einen Stapel Zeitschriften in der Hand. „Labour Briefing, nur ein Pfund!“, ruft er, und immer wieder: „Für Jeremy!“ Der Aktivist sagt, er sei 1969 der Partei beigetreten, weil er wirklichen Sozialismus wollte. Ausgetreten ist er nie, auch nicht, als Tony Blair die Partei führte. Wie immerzu mit dem Kopf gegen die Ziegelmauer, so habe es sich oft angefühlt, während der Zeiten von New Labour, trotz Regierungsbeteiligung, erzählt er. Seit Corbyns Kandidatur fällt ihm die Parteimitgliedschaft wieder leicht: „Darauf habe ich mein ganzes Leben gewartet.“

Nur eine Frage

Am Rande der Wahlkampfveranstaltung nimmt sich Jeremy Corbyn kurz Zeit für Fragen. Ganz kurz. Er ist ein bisschen angestrengt nach drei Monaten Kampagne. Vor dutzenden Journalisten spult er seitdem immer wieder seine Stellungnahmen ab. Zum Gesundheitswesen, zur Bildung, zur Austerität.

In so einer Situation eine persönliche Frage zu stellen, muss schiefgehen. Der Versuch, trotzdem: Herr Corbyn, wie macht einer weiter, der immer wieder gegen die Wand rennt? Warum hat so einer nicht längst aufgehört? Corbyn stutzt kurz. Ob das eine philosophische Frage sei, will er wissen. Seine Antwort enthält wieder seine üblichen Schlagworte: Frieden, soziale Gerechtigkeit, Demokratie. Er sei es jenen schuldig, die für diese Rechte und Freiheiten gestorben seien. Im Kampf gegen die Mächtigen. Die da oben, wir da unten eben. Die eigentliche Antwort aber liegt nicht in seinen ausschweifenden Erklärungen – sondern im verdutzten Zögern davor. Übers Aufgeben hatte er einfach noch nicht nachgedacht.

An diesem Sonnabend wird sich zeigen, ob Jeremy Corbyn diesmal die richtigen Ideen zur richtigen Zeit hat. Ob er endlich mal zu denen da oben gehört.

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