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Längst Kult. Liv Lisa Fries als prototypische „Neue Frau“ der 20er, hier beim Tanz mit Caro Cult (l.).
© Frédéric Batier, X Filme Creative Pool

Begegnung mit „Babylon Berlin“-Star Liv Lisa Fries: Ihre Zeit fängt gerade erst an

Durch „Babylon Berlin“ wurde sie weltweit zum Gesicht der „Neuen Frau“ der 20er. Privat gibt Liv Lisa Fries das Gegenbild zu ihrer Figur Charlotte Ritter.

Nachher will sie noch demonstrieren gehen, die Frau mit dem epochalen Gesicht. Fürs Klima. Oder besser gegen die menschliche und politische Trägheit angesichts der Klimakatastrophe. An diesem Freitag ist Klimastreiktag in Berlin.

Und Liv Lisa Fries, die seit ihrer Hauptrolle im Serienspektakel „Babylon Berlin“ nicht mehr nur Schauspielerin ist, sondern als „Gesicht der 20er Jahre“ gilt, macht mit. Übrigens nicht zum ersten Mal, wie sie versichert.

Im August hat sie sich in einem Meinungsbeitrag im Tagesspiegel klar gegen den Autoverkehr und deutlich für das Fahrradfahren ausgesprochen. Der Text strahlt Formwillen, Sendungsbewusstsein und Heutigkeit aus. Von Retrodenke keine Spur.

„Lasst uns Wohlstand anders denken“, schreibt sie darin und positioniert sich gegen Ressourcenverschleuderung und Materialismus. Sie fordert auf, „Wohlstand in Offenheit, Beweglichkeit, Freude. In Sprechen, Zuhören, Fahrradfahren, Laufen, Sichbegegnen“ umzudefinieren.

Als Charlotte ist sie in der dritten Staffel „Babylon Berlin“ wieder dabei

Ihr persönlich zu begegnen, ist allerdings so einfach nicht. Ein Jahr ist darüber ins Land gegangen. Fast die Hälfte davon hat sie mit dem Dreh der dritten Staffel von „Babylon Berlin“ verbracht. Am kommenden Montag feiert die Fortsetzung im Berliner Zoo-Palast Premiere.

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Liv Lisa Fries ist wieder als Charlotte Ritter dabei. Die Stenotypistin aus ärmlichem Weddinger Hinterhofmilieu strebt mit Ehrgeiz, Cleverness und Körpereinsatz nach einer Kriminalistinnenkarriere in der dem Ende entgegentrudelnden Weimarer Republik.

Seit 2017 die erste Staffel der bislang aufwendigsten deutschen Serienproduktion mit 40-Millionen-Budget ausgestrahlt wurde, hat es Aufmerksamkeit und Preise noch und nöcher auf „Babylon Berlin“ geregnet.

Die Krimigeschichte im fiebrigen Kolorit der Zeit hat den Hype um das Berlin der 20er Jahre international befeuert. Und auch die zwölf neuen Episoden, die Volker Kutschers Romanvorlage „Der stumme Tod“ nachempfunden sind, werden schon wieder in 100 Länder verkauft.

Die prototypische „Neue Frau“ der 20er

Künftig wird Charlotte Ritter als prototypische „Neue Frau“ der 20er nicht nur in Europa, Australien und Amerika, sondern auch in China und Afrika zu sehen sein. Zusammen mit Volker Bruch in der Rolle des Kriminalkommissars Gereon Rath fungiert sie als Botschafterin eines historischen Berlins. Das ist zwar aufregend, aber fiktiv, Kintopp halt.

Umso wirklicher ist die Frau in grünem Webpelz, die sich ihr Wollstirnband tief in die Stirn zieht. Der von ihr ursprünglich vorgeschlagene Spaziergang auf dem Tempelhofer Feld fällt aus. Zu weit weg von der Demoroute, die mittags am Brandenburger Tor beginnt. Stattdessen stemmt sie sich jetzt am Spreeufer in den Novemberwind. „Die frische Brise tut gut“, sagt sie.

Über der Museumsinsel jagen graue Wolken. Fries ist ungeschminkt, zugewandt, und sie scheint zu wissen, dass ein Leben außerhalb geschlossener Räume glücklicher macht. „Ich denke jeden Tag: Lass doch mal los“, sagt sie, lockert die Schultern und atmet aus, bevor sie weiterstapft. Schon als Kind habe sie immer unter Spannung gestanden. Und die Arbeit in einer Hochspannungsbranche mit viel künstlicher Euphorie mache es nicht besser.

[Die dritte Staffel von „Babylon Berlin“ ist ab 24. Januar auf Sky und im Herbst 2020 in der ARD zu sehen.]

Der Preissegen kam nicht erst mit „Babylon Berlin“ zu Liv Lisa Fries. Sie hat 2005 mit 14 zum ersten Mal bei Oskar Roehlers „Elementarteilchen“ vor der Kamera gestanden. Hinterher wurde ihr Minipart rausgeschnitten. Die erste Lektion im Filmgeschäft. Bekannt ist sie dann 2007 geworden. Da hat sie an der Seite von Götz George in einem „Schimanski“-Fernsehkrimi mitgespielt.

Besonders zwei Filme haben sie als vielfach ausgezeichnete Charakterdarstellerin und Nachwuchshoffnung des deutschen Films etabliert: Thomas Stillers Drama „Sie hat es verdient“, in dem sie 2010 mit heißkaltem Kindergesicht die hasserfüllte, vom eigenen Vater missbrauchte Mörderin einer Mitschülerin spielt. Und Frederik Steiners „Und morgen Mittag bin ich tot“. Da verkörpert sie 2013 eine Mukoviszidose-Kranke, die in der Schweiz Sterbehilfe sucht.

Die Pankowerin hält ihr Leben lieber privat

Um deren Not zu begreifen, atmet Fries zur Vorbereitung durch einen Strohhalm und steigt dabei Treppen. Schauspielerei ist eine Kunst, die den Kopf, den Körper und Instinkt für den schmalen Grat zwischen Leben und Tod verlangt.

Die Strandbar im Monbijoupark liegt verwaist. „Als Jugendliche war das einer meiner Lieblingsorte“, sagt Fries und bestaunt die urbane Kulisse aus Dom und Bodemuseum. Dass sie Pankowerin ist, 2010 Abitur gemacht hat, privaten Schauspielunterricht nahm und ihre Eltern sich tatsächlich als Matrose und Stewardess bei der Handelsmarine kennenlernten, ist bekannt.

Die Schauspielerin Liv Lisa Fries.
Die Schauspielerin Liv Lisa Fries.
© Stefan Klueter/ Just Publicity

Alles andere hält sie lieber privat. Aber ob sie nach den Schauspielerinnen Liv Ullmann oder Liv Tyler benannt ist, mag sie sicher noch verraten? Sie lacht. So direkt nach keiner, aber indirekt nach Ullmann. Zu der Bergman-Heroine passt ihre Rollenauswahl auch viel besser.

An diesem Morgen ist sie per Zug aus der Schorfheide angereist. Da probiert sie gerade aus, wie es sich als eingefleischte Städterin auf dem Land lebt. „In Berlin ist der Horizont so beschränkt, da kann ich nur zehn Meter bis zur nächsten Hauswand sehen.“ Das war ihr im Jahr 29 ihrer irdischen Existenz zu wenig. Sie braucht Himmel, sie will Weite.

In der neuen Staffel tritt sie beherzt zu

„Farbiges Licht“ heißt ein Song der Essener Band International Music, der ihr zu dieser Entscheidung einfällt. Sie zitiert eine Zeile. „Endlich wieder farbiges Licht, endlich wieder freie Sicht auf nichts.“ Der passe zu ihrem Schauspielerinnenleben. „Immer viele Menschen, viele Eindrücke, viele Reize, immer viel.“ Andere Leute bezögen daraus Energie, für sie sei das auf Dauer eher erschöpfend. „Ich mag Ruhe.“

Das ist das private Gegenbild zu ihrer Figur Charlotte Ritter, die im „Babylon Berlin“ des Jahres 1929 stets mit übernächtigter blasser Miene durch die Stadt hetzt. Die kein Innehalten kennt, nur stetes Strampeln, weil sie unablässig um das eigene Überleben und den beruflichen Aufstieg kämpfen muss. Das bleibt auch in der neuen Staffel so, die die Kriminalassistentin zur Abwechslung mal in der Stummfilmbranche draußen in Potsdam ermitteln lässt.

Mitte November hat die Produktionsfirma X-Filme zu einer ersten Vorführung von zwei Episoden geladen. Natürlich soll man – Spoileralarm! – bloß nicht die Geschichte verraten. Nur so viel: Charlotte Ritter, die in der zweiten Staffel fast zu oft aus Eiskellern und Wasserfluten gerettet werden musste, tritt diesmal beherzt zu und auf.

Im Kellerkino der Villa in der Berliner Kurfürstenstraße versammeln sich an diesem Abend Fernsehleute, Presse, die Regisseure Tom Tykwer, Achim von Borries, Henk Handloegten, Stammdarsteller wie Volker Bruch und Neuzugänge wie Meret Becker und Sabin Tambrea. Liv Lisa Fries fehlt, sie dreht gerade einen Kinofilm. Auf der Leinwand ist sie dafür umso präsenter und festigt den Ruf ihrer Heldin als frühe Feministin, indem sie sich ruckzuck männlicher Übergriffe in der Straßenbahn erwehrt.

Fries engagiert sich gegen die Klimakatastrophe

„Frauen reagieren sehr stark auf Liv“, sagt Regisseur Tom Tykwer nach der Vorführung. Sie posiere nicht, sondern spiele ehrlich, selbst wenn sie laut Drehbuch mogeln müsse. Und was für eine Aufsteigerinnenrolle Gold wert ist: „Liv hat Verständnis für die Straße.“

Henk Handloegten attestiert Fries ebenfalls Natürlichkeit. „Eine Mischung aus Ehrgeiz und Lässigkeit, die macht sowohl Liv als auch Charlotte aus.“ Schauspielkollege Volker Bruch fällt was ganz anderes ein: „Sie hat immer wieder versucht, Plastikbecher vom Set zu verbannen. Da schlägt ihr Herz wild in die richtige Richtung.“

Als Umweltaktivistin mag Liv Lisa Fries sich aber trotzdem nicht bezeichnen lassen. Demonstrieren hin oder her. Sicher, sie fährt Rad, besitzt kein Auto, isst zu 80 Prozent vegan. Trotzdem möchte sie sich eines Tages weder als Schauspielerin noch als Aktivistin im Lexikon wiederfinden.

„Da soll dann bitte auch Mensch, Sportlerin, Leserin stehen.“ Dass sie eine Stimme haben könnte, die etwas bewirkt, ist ihr erst in letzter Zeit durch das Engagement gegen die Klimakatastrophe bewusst geworden. Eigentlich ist sie kein politischer Mensch.

Paternostergespräch. Kommissar Gereon Rath (Volker Bruch) und Assi Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries).
Paternostergespräch. Kommissar Gereon Rath (Volker Bruch) und Assi Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries).
© Frédéric Batier/X-Filme, ARD Degeto, WDR, Sky, Beta Film 2019

Feministin aber darf man sie trotz ihres jugendlichen Hangs zum Understatement nennen. „Auf jeden Fall.“ Dass es am Ende der zehner Jahre des 21. Jahrhunderts noch immer ein Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern gibt, stört sie. Immerhin: Bei „Babylon Berlin“ gebe es keine große Diskrepanz in der Bezahlung der männlichen und weiblichen Hauptrolle. „Das war mir auch wichtig zu thematisieren.“

Am Schiffbauerdamm kommt das Berliner Ensemble in Sicht. Die bieten in ihrer Kantine Heißgetränke an. Liv Lisa Fries schüttelt den Kopf. „Da habe ich keine Daseinsberechtigung, weil ich keine Theaterschauspielerin bin.“

Nicht, dass Fries keine Sehnsucht nach der Bühne hätte. Begeistert erzählt sie von einer „Penthesilea“-Aufführung mit Jens Harzer und Sandra Hüller, die sie neulich in Hamburg im Thalia-Theater gesehen hat. Aber der Respekt für die nötige Präzision und Energie, die eine Theateraufführung erfordert, und die Furcht vor der allabendlichen Wiederholung einer Rolle sind ebenso groß.

Und dann ist die von ihr angesteuerte Böse Buben Bar in der Marienstraße erreicht. Der Laden gefällt ihr, doch das hilft nichts, wie sich herausstellt, hat er wochentags vormittags zu. Die Grimmepreisträgerin ist zerknirscht. „Ich hab’s verkackt.“ Nicht schlimm. Gleich um die Ecke betreibt die Stadtmission das Hotel Albrechtshof. Auch da gibt’s Tee.

Selbstverständlich selbstsicher

Drinnen schält sich Fries aus dem Textilkokon. Im aktuellen Kinofilm „Prélude“ von Sabrina Sarabi, in dem sie eine verführerische Gesangsschülerin spielt, ist sie barbusig zu sehen. Wie in „Babylon Berlin“, wo sich Charlotte Ritter anfänglich aus Not prostituiert, spielt Fries auch hier Nacktheit mit größter Selbstverständlichkeit. Woher nimmt sie das? „Menschen sind unangezogen nackt. Und meine Idee vom Filmemachen ist, Menschliches zu zeigen.“

Wenn dann aber Fans mit Nacktfotos aus der Serie zu ihr kommen, um sich darauf ein Autogramm signieren zu lassen, findet sie das gar nicht witzig. Trotzdem hält es sie nicht davon ab, sich vor der Kamera auszuziehen. Kommendes Jahr, wenn sie in Detlev Bucks Verfilmung des Thomas-Mann-Klassikers „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ die frivole Amüsierdame Zaza spielt, wird sicher wieder die eine oder andere Hülle fallen.

Diese wortwörtliche Selbstsicherheit speist die Aura, die sie im Historiengemälde „Babylon Berlin“ so echt und stimmig wirken lässt. Jeder Schauspielerin kann man einen Bubikopf schneiden, jeder Wasserwellen legen, jeder ein Charlestonkleid anziehen.

Doch das unverblümte Körpergefühl der analogen Ära, in der noch kein Konterfei digital optimiert werden konnte, in der es noch keine Selbstdarstellungskultur im Internet gab, das bringen nur wenige Millennials mit. Einfach aussehen, wie man aussieht. Einfach die sein, die man ist. Punkt.

Die Schauspielerin will den Alltag ihrer Figuren verstehen

Es kann kein Zufall sein, dass Liv Lisa Fries immer wieder historische Stoffe angeboten bekommt. Gerade hat sie in Wien und Luxemburg mit Stefan Ruzowitzky gedreht. „Hinterland“ spielt 1918, direkt nach dem Ersten Weltkrieg.

Für den Part einer Gerichtsmedizinerin hat sie sich in der Charité bei Michael Tsokos vorbereitet und dessen Sektionen beigewohnt. Da wurden den Leichnamen die Schädel aufgesägt und Därme rausgezogen. Weil sie in der Rolle selber eine Sektion simulieren muss? Fries schüttelt den Kopf. „Reine Fleißarbeit.“ Und Wissbegier über Ekelgrenzen hinweg.

Sie will den Alltag ihrer Figuren verstehen, ihnen gerecht werden, auch in der Fiktion Wahrhaftigkeit schaffen. „Nicht, dass eine Gerichtsmedizinerin, die das guckt, denkt, was macht die da für einen Quatsch.“

Die 20er Jahre sind ihre Zeit

Liv Lisa Fries schaut aufs Handy. Sie muss los. Ein Freund wartet, die Fridays-for-Future-Großdemo beginnt. 15 Jahre schauspielert sie mittlerweile. Dass Charlotte Ritter der Höhepunkt ihrer auch echte widerständige Frauen wie Sophie Scholl und Lou-Andreas Salomé umfassende Darstellerinnenkarriere bleibt, ist längst noch nicht ausgemacht. Die 20er Jahre sind ihre Zeit. Hundert Jahre später beginnen sie jetzt wieder.

Eine halbe Stunde später am Brandenburger Tor. Menschen, Plakate, Reden, Musik. Zehntausende haben sich versammelt, um Politik und Institutionen Dampf zu machen. Heute verdrängen Fahrräder und Fußgänger die Autos von der Straße.

Mütter, Großväter, aber vor allem Kinder und Jugendliche sind unterwegs. Zahnspangen-Demo. Die Stimmung ist kämpferisch und ausgelassen. Feel-Good-Protest fürs Klima. Liv Lisa Fries ist nicht wiederzufinden. Die Menge hat sie aufgesogen.

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