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Unter Schock.  Im Flüchtlingslager an der türkischen Grenze zu Irak beginnen die Jesiden erst langsam zu begreifen, was ihnen widerfahren ist.
© Susanne Güsten

Jesiden flüchten vor IS-Terror: "Ich will diese blutige Erde nie wieder sehen"

Unvorstellbar, diese Angst. Auf ihrer Flucht vor den IS-Schergen ließen die Jesiden alles im Irak zurück. Ihren Besitz, ihre Toten und manchmal sogar die Kinder. Ein Besuch im Flüchtlingscamp.

Wie ein Hauch aus der Hölle weht der glutheiße Wind über den staubigen Platz. Das Flüchtlingslager liegt etwas außerhalb von Silopi, einer tristen Kleinstadt auf der türkischen Seite des Grenzdreiecks von Irak, Syrien und Türkei. An den hastig errichteten Zelten sind die Wandplanen hochgerollt, doch bei 43 Grad im Schatten kann der Luftzug keine Linderung bringen. Die Männer, Frauen und Kinder unter dem Zeltdach scheinen die Hitze kaum wahrzunehmen. Sie scheinen auch nicht den spitzen Kies zu spüren, auf dem sie zusammengedrängt sitzen, auf dem sie die Nacht geschlafen haben. Und nicht einmal den Schmerz über alles, was sie für immer verloren haben. Die Jesiden, die sich auf der Flucht vor den Schlächtern des „Islamischen Staates“ (IS) in den vergangenen Tagen hierhergerettet haben, stehen unter Schock.

Flucht zu Fuß ins Gebirge

Semi Hudedo ist eine dieser Flüchtlinge, eine noch immer schöne Frau von 50 Jahren, die vier Töchter, drei Enkel und ihren älteren Mann über die türkische Grenze in Sicherheit gebracht hat. Als die IS-Kämpfer vor zehn Tagen auf ihr Dorf bei Sindschar in Nordirak vorrückten und die kurdischen Peschmerga-Truppen die Verteidigung plötzlich aufgaben und sich zurückzogen, flohen sie mit tausenden anderen Jesiden hinauf ins Sindschar-Gebirge – zu Fuß, nur mit den Kleidern am Leib. „Die Peschmerga sind in ihren Autos abgehauen, aber wir hatten keine Autos“, sagt Semi Hudedo bitter.

„Wir sind über seine Leiche hinweggestiegen“

Drei Tage lang irrte die Familie durch das Gebirge, ohne Wasser, Brot oder Obdach. Und diese ewige Hitze. Die Füße schwollen ihnen an auf dem langen Marsch, die Zehen platzten auf, doch das erwähnt Semi Hudedo nur beiläufig. Schon früh kam der Flüchtlingstreck unter Beschuss der IS. Ihr Onkel wurde getroffen und starb am Wegrand. „Wir sind über seine Leiche hinweggestiegen“, erzählt sie.

Eine Frau hat sie unterwegs gesehen, die schleppte zwei Kleinkinder, ein Mädchen und einen Jungen, bis sie nicht mehr konnte. „Sie hat das Mädchen abgesetzt und ist mit dem Jungen weiter“, sagt Semi Hudedo. Dann verliert sie die Fassung: „Sie hat ein Kind zurückgelassen und ist mit dem anderen weiter“, schreit sie weinend. „Verstehen Sie, welche Angst Menschen haben müssen, dass Mütter auf der Flucht ihre Kinder zurücklassen?“

Seit die Dschihadisten im Juni die irakische Millionenstadt Mossul besetzten und große Mengen an Geld und Waffen erbeuteten, ist die Terrorgruppe im Irak auf dem Vormarsch. Sie versucht einen islamischen Gottesstaat zu errichten. Hunderttausende sind vor ihrem Terrorregime bereits auf der Flucht. Fast wahnsinnig vor Angst sind auch die Jesiden von Sindschar in die Berge geflohen. Die Angst kam tief aus dem kollektiven Bewusstsein. Die Jesiden sind eine seit Jahrhunderten verfolgte Minderheit in Mesopotamien. Eine Mischform aus Elementen von Islam, Christentum und Hindu-Glaube. Ketzer in den Augen der IS-Truppen.

„Sie sagen es ganz offen: Sie wollen die Jesiden ausrotten“

Von abgeschnittenen Brüsten und aufgeschlitzten Bäuchen schwangerer Frauen erzählt Semi Hudedo. Überall im Lager berichten Flüchtlinge von abgehackten Köpfen und Massenerschießungen. Ein älterer Mann wird das Bild nicht mehr los, das sich ihm im Kopf eingebrannt hat: von einem IS-Kämpfer, der mit dem Messer zwischen den Zähnen und dem Gewehr im Anschlag auf ihn zukommt. „Sie sagen es ganz offen: Sie wollen die Jesiden ausrotten“, sagt Hudedu.

Nur einen einzigen Gegenstand hat Hudedo daher von zu Hause mitgenommen, als die Familie in die Berge rannte: die Pistole ihres Ehemannes. Sie hat sie der ältesten Tochter in die Hand gedrückt mit der Anweisung, erst die Schwestern, Kinder, Eltern und dann sich selbst zu erschießen, falls die Familie dem IS in die Hände fallen sollte. Sie haben sie nicht gebraucht. Doch von ihren Geschwistern hat Hudedo keine Nachricht.

„Ich gehe niemals dorthin zurück, ich will diese blutige Erde nie wieder sehen“, sagt sie. Darin sind sich die Flüchtlinge im Lager einig. „Niemals“, sagt der Bauer Omar Omar. Die Männer rings um ihn nicken zustimmend. Seinen Hof, seine Felder und 125 Rinder hat der 60-Jährige in Sindschar zurückgelassen. Er erwähnt das erst auf Nachfrage und etwas erstaunt, als würde er nach Einzelheiten einer lange zurückliegenden Vergangenheit gefragt. Noch Anfang dieses Monats hatte er das Vieh auf die Weide getrieben und sich nächtelang um jede trächtige Kuh gesorgt. Innerlich hat er sich vom Leben in der Heimat schon verabschiedet.

„Und wenn man mir jeden Schritt mit Gold vergelten würde, ich gehe nie zurück“, sagt Lokman Ali. Der 46-jährige Polizist ist mit seiner Frau, den sieben Kindern und der 82-jährigen Mutter vier Tage und vier Nächte lang gelaufen. Das jüngste Kind trug er auf dem Rücken, die Mutter musste unter beiden Armen gestützt werden. „Ein- oder zweihundert Schritte voran, dann kurz ausruhen und wieder weiter“, beschreibt Lokman Ali ihren Weg. Am Grenzfluss Habur haben sie zwei Nächte unter einem Traktoranhänger ausgeharrt, bis sie sich nachts durch das Wasser auf die türkische Seite gewagt haben, wo sie von einem Dorfbewohner entdeckt und ins Lager gebracht wurden. Die alte Mutter haben Anwohner in Silopi bei sich zu Hause aufgenommen, damit ihr das Lagerleben erspart bleibt.

Die Häuser wurden geplündert und zerstört

Noch immer ist Ali erschüttert über seine arabischen Nachbarn, die den IS mit Jubel empfangen haben. Als Polizist hat er viele Jahre gemeinsam mit arabischen Kollegen seinen Dienst verrichtet und glaubte auch, sich gut mit den Einwohnern der arabischen Nachbardörfer zu verstehen. „Wir ahnten nicht, welchen Hass sie in ihrem Herzen verbargen“, sagt er. Sie seien kaum fort gewesen, da seien ihre Häuser schon von den Nachbarn geplündert worden, erzählen Flüchtlinge, die noch Kontakt zu jenen haben, die in Sindschar geblieben sind. „Da ist nichts mehr übrig, wofür man zurückkehren wollte“, sagt eine Frau namens Hakima Khalef. „Sie haben alles kaputtgemacht.“

Im Lager gruppieren sich die Zelthallen um ein paar Baracken aus nacktem Beton. Der türkische Staat hatte diese Hütten vor 20 Jahren für seine eigenen Flüchtlinge errichtet, als die Armee im Krieg gegen die PKK hunderte kurdische Dörfer räumte. Heute wird Silopi von der PKK-nahen Kurdenpartei BDP regiert, deren Stadtverwaltung nun das Lager übernommen hat. Das Städtchen hat alles zusammengetragen, was es auftreiben konnte: Zelte, Strom, Wasser, Baumaschinen, Krankenwagen, Müllabfuhr und Feldküche. Die Provinz Sirnak, zu der Silopi gehört, ist die ärmste unter den 81 Provinzen der Türkei. Die Menschen hier kommen selbst kaum über die Runden. Dennoch bringen private Initiativen und Spender, was sie können: Teppiche, Ventilatoren, Wasserbehälter, Kleidung, Schuhe. Einige Anwohner haben Flüchtlinge bei sich zu Hause aufgenommen.

Hilfe von türkischen und syrischen Kurden

Die türkischen und syrischen Kurden stehen hoch im Ansehen der Flüchtlinge: Deren Kampfverbände – die PKK und die YPG – waren es, die sich den IS-Truppen entgegen warfen und einen sicheren Korridor im Kampfgebiet schufen, durch den die Jesiden vom Berg flüchten konnten. Ihnen verdanken sie ihr Leben. Nur Verachtung empfinden sie dagegen für die irakischen Kurden und deren Peschmerga, die sie im Augenblick der höchsten Not im Stich gelassen haben.

„Wir haben ihren Versprechungen geglaubt, dass sie uns verteidigen würden, und sind deshalb geblieben“, sagt die 35-jährige Mutter Huri Khalef. Und dann seien sie abgehauen.“

„Wir brauchen Lebensmittel, Lebensmittel, Lebensmittel“, sagt Bürgermeister Seyfettin Aydemir, als er durch das Lager läuft. Die Regierung in Ankara helfe bisher nicht, klagt er, von internationalen Hilfsorganisationen sei nichts zu sehen und das Städtchen sei dem Ansturm nicht gewachsen. Im Koordinationszelt sitzt der Sportlehrer Mehmet Emin Kaya an einem Computer, den seine Kollegen von der Lehrergewerkschaft mitgebracht und ans Stromaggregat angeschlossen haben. Als freiwillige Helfer registrieren sie die ankommenden Flüchtlinge, damit sich die Familien im Lager wiederfinden können. Den 24-jährigen Samel Hairi Halef, der in der Nacht angekommen ist, müssen sie enttäuschen. Seine Eltern und Geschwister sind nicht hier.

Samel Hairi Halef war selbst Peschmerga in den Reihen der nordirakischen Kurdenmiliz. Doch als IS angriff, war er gerade auf Heimaturlaub in seinem Dorf in Sindschar. Als seine Waffenbrüder plötzlich abrückten und das Dorf kampflos den Islamisten überließen, wurde er in der Panik von seiner Familie getrennt und schlug sich alleine durch bis in die Türkei. Mit seiner Schwester hat er noch einmal telefonieren können, als sie ins Gebirge floh, doch dann brach der Kontakt ab. Nun hatte er gehofft, sie hier zu finden. Ohne zu zögern, macht sich der junge Mann sofort wieder auf den Rückweg nach Irak, um sie zu suchen. Den Pass mit der einen Hand umklammert, das Handy mit der anderen, läuft er los zur Grenze.

„Unter Saddam lebten wir Jesiden in Ruhe“

In einer der Betonbaracken liegt die 102-jährige Adilan Seru Sebu auf einer Matratze. Ihr Mann starb vor 35 Jahren im Gefängnis von Mossul, sie selbst floh wenig später vor irakischen Regierungstruppen nach Syrien. Erst ihr Sohn holte sie später in die Heimat zurück, erzählt ihr Enkel, der sie auf dem Rücken hierhergetragen hat. Nun liegt die alte jesidische Kurdin auf türkischem Boden und ist wieder einmal heimatlos. Trotz schlimmer Erinnerungen an die Zeit im Irak unter Saddam Hussein wünschen sich viele Jesiden zurück in die Ära vor dem US-Angriff. „Unter Saddam lebten wir Jesiden in Ruhe, der hat sich in Religionsfragen nicht eingemischt“, sagt Omar Omar, der Bauer. Wenn die Amerikaner nicht den Krieg angezettelt hätten, dann wäre ihnen all dies nicht widerfahren, sagen die Flüchtlinge.

Im Lager sind Ärzte und Sanitäter eingetroffen, die als Freiwillige medizinischen Rat und Hilfe anbieten. Doch vor ihrem Posten bildet sich keine Warteschlange. Nach tagelangem Treck über Berge und durch Flüsse wollen die meisten nur noch ihre Ruhe. Darüber, was aus ihnen werden soll, scheinen die wenigsten nachgedacht zu haben. „Europa“, sagen viele vage. „Und wenn das nicht geht, dann werde ich uns eben hier irgendwie durchbringen“, sagt Lokman Ali, der Polizist. Er weist auf das staubige, armselige türkische Grenzstädtchen. „Ich mache jede Arbeit, egal was, egal wo. Aber zurück gehen wir nie wieder.“

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