Rücktritt als CSU-Chef: Horst Seehofer: Der König ohne Truppen
Seine Manöver bewundert niemand mehr. Was an ihm echt ist und was taktische Kulisse – vielleicht weiß Horst Seehofer das selber nicht.
Ausgerechnet Bautzen! Nichts gegen die Grenzstadt in Sachsen; sie haben da eine sehenswerte Altstadt und seit diesem Montag obendrein ein gemeinsames „Fahndungs- und Kompetenzzentrum“ von Bundes- und Landespolizei, das grenzüberschreitenden Diebesbanden das Handwerk legen soll. Aber wenn man als Horst Seehofer unbedingt die gesamte CSU-Spitze als Deppen vorführen will, dann ist Bautzen genau der richtige Ort.
Am Sonntagabend haben sie in München vier lange Stunden zusammen gesessen und den Parteivorsitzenden zum Rückzug gedrängt. Der hat sich Zeit ausbedungen, von Würde gesprochen und im Grunde gar nichts zugesagt. Der einzige unzweideutig klare Satz, berichtet einer aus der Runde, lautete: „Ich werde mich im Laufe der Woche äußern.“
Keine zwölf Stunde später äußert er sich – auf Dienstreise als Bundesinnenminister, mal eben am Rande einer Eröffnungszeremonie für eine Zwei-Mann-Zwergdienststelle, kurz also: in Bautzen.
Es nieselt leicht in Ostsachsen, als Seehofer am Morgen aus dem Auto steigt. Am Abend vorher hatte er sich in München mit einem kargen Satz nach Ingolstadt verabschiedet, weil man daheim am besten Entscheidungen treffen könne.
Jetzt also Einweihung mit Pressekonferenz. Natürlich fragt ihn jemand, wenn auch ohne rechte Hoffnung; schließlich redet er seit Tagen davon, es sei eine Frage des Anstands, die Vorstellung des neuen Bayern-Kabinetts abzuwarten. Aber Anstand hin oder her, Seehofer räuspert sich. „Ich werde das Amt des Parteivorsitzenden der CSU niederlegen.“ Den Zeitpunkt werde er im Lauf der Woche nennen. Und was ist mit dem zweiten Schritt, den in München manche herausgehört haben wollten? „Völlig unberührt davon ist mein Amt als Bundesinnenminister“, sagt er. „Ich bin Bundesinnenminister und werde das Amt weiter ausüben.“
Es gab eine Zeit im Leben des Horst Seehofer, da hätte ihm solch ein Manöver in der politischen Szene schmunzelnde Hochachtung eingetragen. Hat er sie wieder alle ausgetrickst, hätten sie gesagt und ihm den bayerischen Ehrentitel verliehen, dass er doch ein Sauhund sei, ein miserabliger! Aber Ehrentitel verleiht ihm keiner mehr, in der eigenen Partei schon gar nicht. Selbst der Vorrat an Mitgefühl ist aufgebraucht. Aus dem Mann, der sich in den besten Tagen die CSU untertan machte, ist ein König ohne Truppen geworden, ein Horst ohne Land.
Vielleicht werden spätere Historiker die Jahre seines nachhaltigsten politischen Wirkens einmal als Geschichte einer heillosen Beziehung beschreiben. So wie Helmut Kohl für Franz Josef Strauß zur Nemesis wurde, lässt sich Seehofer nur im Verhältnis zu Angela Merkel erzählen. Er hatte es in Bonn als Norbert Blüms Staatssekretär im Arbeitsministerium zum anerkannten Sozial- und Gesundheitsexperten gebracht, war unter Kohl sogar Gesundheitsminister gewesen, als die Frau aus dem Osten zur Revolution im Gesundheitssystem blies.
Er schloss sich ein - bei Tütensuppen und Dosengemüse
Der Kampf um die Kopfpauschale wurde zum Musterstreit einer politischen Zwangsehe. Merkel blieb stur, Seehofer auch. Er schloss sich tagelang bei Tütensuppen und Dosengemüse in seinem Mini-Apartment in der „Abgeordnetenschlange“ an der Spree ein und ging nur ans Handy, wenn es ihm passte. In der Sache hatte er viele Unterstützer. Aber Merkel gehörte die Zukunft, und Edmund Stoiber wollte ihn nicht bedingungslos als Fraktionsvize halten.
Der Rücktritt wurde ihm zum Trauma. Noch heute kann sein sonorer Bariton in ein wütendes Zischen umschlagen: „Ist nie was draus geworden!“ Hat Merkel 2005 um ein Haar den Wahlsieg gekostet, diese Kopfpauschale! Er, er hatte Recht – nicht die, die ihn für verrückt erklärten! Dazu muss man wissen, dass Merkels damaliger Generalsekretär Laurenz Meyer am Rande eines CSU-Parteitags vernehmlich ausrief, der Mann brauche doch einen Arzt – Seehofer hatte nämlich Stoiber versprochen, während der Debatte über seine Absetzung als Vizefraktionschef still daheim zu bleiben, aber der Versuchung eines Mikrofons dann doch nicht widerstehen können.
Als ihn Merkel 2005 aus der Verbannung zurückholte und zum Agrarminister berief, staunten viele. Drei Jahre später verlor die CSU die absolute Mehrheit und rief Seehofer als Retter – genauer gesagt rief ihn vor allem Stoiber. Es wurden seine goldenen Jahre. 2013 holte die CSU die absolute Mehrheit zurück. Der Coup gelang mit einem Wahlkampf der Bescheidenheit und der stillen Töne: Liebe Bayern, wir haben verstanden, wir wollen keine breitbeinigen Besserwisser mehr sein! Es wurde sein einziger erfolgreicher Wahlkampf. Alle Wahlen danach inszenierten einen Konflikt. Alle gingen verloren.
An der Frage, wie sein finaler Konflikt mit Merkel eigentlich zustande kam, werden Historiker noch ein bisschen zu beißen haben. Die äußeren Daten sind ja bekannt – wie Merkel im September 2015 auf Drängen der Österreicher beschließt, die Flüchtlinge aus Ungarn aufzunehmen, wie sie am Vortag versucht, auch den CSU-Chef einzubinden, wie der aber für niemanden zu erreichen ist. Es ist eigentlich unmöglich, einen bayerischen Ministerpräsidenten nicht ans Telefon zu kriegen; spätestens ein Anruf beim Sicherheitskommando sollte ausreichen.
Am Tag darauf verurteilt er Merkels Entschluss als einen „Fehler“, der sich noch rächen werde. Das alte Muster stand schlagartig wieder im Raum. Auch Merkel schaltete sofort auf stur. Das Muster wiederholte sich ein ums andere Mal bis in diesen Sommer, in dem es die Union fast spaltete. Am Ende rächte es sich für beide.
Ein komplizierter Charakter
Dass er seinen Anteil daran hatte, dass sich die zwei Polit-Profis derart ineinander verbissen, will er nicht sehen. Merkel hat doch die Hunderttausende reingelassen und die Grenze nicht mal symbolisch schließen wollen – also ist sie die Schuldige! Dass er mit seinem Anrennen aus einer schwierigen Situation eine giftige gemacht hat und viel zu spät und viel zu unglaubwürdig versuchte, aus der selbst mit Stacheldraht umschnürten Falle wieder rauszukommen, hat er nicht sehen wollen. An dem Punkt war der Mann, der sonst um Ecken denken kann, zu keinem Millimeter Zugeständnis in der Lage. Wo Politik hätte sein müssen, herrschte Emotion und die Frage der Ehre.
Man kann das gut an der Nachgeschichte jenes legendären Auftritts aufzeigen, bei dem der CSU-Vorsitzende die Kanzlerin auf offener Parteitagsbühne eine Viertelstunde lang schulmeisterte. Der Auftritt selbst hatte übrigens etwas durchaus Hilfloses. Merkel hatte den Parteitag mit einer Standardrede kalt abgefertigt, Seehofers Antwort war eine Mischung aus Besserwisserei und Fassungslosigkeit darüber, dass die Chefin der Schwesterpartei nicht mal einen Funken Verständnis zeigte. Er redete und redete, Merkel verschränkte unmutig die Arme. Vor dem Podium wurden die Gesichter des CSU-Vorstands von Minute zu Minute fassungsloser.
Zwei Wochen später erzählte er einem, der nicht dabei gewesen war, dass er Merkels Reaktion doch gar nicht habe sehen können – die habe zu weit hinter ihm gestanden. Nicht sehen können? Obwohl er mehrfach zur Seite schaute, direkt in ihr Gesicht? Obwohl er die Unruhe in der ersten Reihe sah? Er hat diese Version später noch öfter erzählt. Mit jedem Mal mehr schien sie ihm glaubhafter vorzukommen. Selbstbetrug? Bloß um nicht sagen zu müssen: Ich habe da einfach einen Fehler gemacht? Früher hat er bei solchen Geschichten sein Bubenlächeln gelächelt, ein augenzwinkerndes, selbstironisches Lächeln. Man konnte ihm nur schwer böse sein. Inzwischen funktioniert auch das nicht mehr. Mit 69 Jahren ist man kein Bub mehr.
Ein komplizierter Charakter ist er jedenfalls. Schwer zu sagen, was daran echt ist und was taktische Kulisse, was Augenblicksüberzeugung und was Einsicht. Vielleicht weiß er das oft selbst nicht. Nur ganz selten lässt er einen Blick in einen inneren Kern zu. Einmal, bei seinem ersten Aschermittwochsauftritt in Passau, half eine Grippe nach. Seehofer stand leichenblass auf dem Rednerpult und verlor zusehends den Faden.
Abrupt brach er ab: Er habe die Tausende in der Halle nicht enttäuschen wollen, gehöre aber eigentlich ins Bett. Und dann erzählte er, warum ihm die kleinen Leute als Zielgruppe seiner Politik wichtig seien. Er erzählte von Zuhause, vom Vater, einem Bauarbeiter, der Mutter, die vier Kinder versorgen musste, von Hunger und Not und von einem hoch aufgeschossenen Arme-Leute- Jungen, den sie auf dem Schulhof wegen der zu knappen Hochwasser-Hosen verspotteten.
Die Kritiker lassen nicht locker
Er hat später Handball gespielt, ein Ellenbogensport. Er blieb einer, der sich alleine durchkämpft, ohne Mann- und Seilschaft, virtuos im Umdribbeln anderer und darin, Situationen spontan zu seinen Gunsten zu nutzen.
Aber dieses Spiel geht jetzt wirklich dem Ende entgegen. Am Sonntagabend in der Großen Lage, dem Besprechungsraum im Oberstock des Franz-Josef- Strauß-Hauses, ist die Stimmung eindeutig. Stellvertretende Parteivorsitzende, der Fraktionschef, die mächtigen Bezirksvorsitzenden, andere Spitzenfunktionäre, alle wissen: Nach dem furchtbaren Sommer der Koalition in Berlin, nach der brutalen Quittung bei der Landtagswahl ist es nicht damit getan, dass Markus Söder nun eben dank der Freien Wähler Ministerpräsident bleibt. Merkel hat die Konsequenz klar gezogen. Nun also: er.
Seehofer sagt, dass 2019 für die CSU zum „Jahr der Erneuerung“ werden solle und er dem nicht im Wege stehen wolle. Das wird als Andeutung des Rückzugs vom Parteivorsitz gedeutet. Wann? Keine Antwort. Als einige die Entscheidung in diesem Jahr fordern, faucht Seehofer zurück, sie könnten ja gerne einen Sonderparteitag zu Weihnachten machen.
Er faucht sowieso öfter rum. Sogar sein alter Gönner Stoiber, erzählt ein Teilnehmer, bekam eins ab: Der habe ja schon beim Sturz anderer Parteichefs eine unrühmliche Rolle gespielt. Dabei hatte der Ehrenvorsitzende extra dementieren lassen, dass jetzt auch er in einem Zeitungsinterview eine Neuaufstellung fordere. Er habe nur gesagt, dass Parteivorsitz und Ministerpräsidentenamt idealerweise in eine Hand gehörten. Darin in der jetzigen Lage keinen Wink an Seehofer zu sehen, fällt allerdings ein bisschen schwer.
Die Kritiker lassen nicht locker. Sie haben das zu oft erlebt. Inklusive des Rücktritts vom Ausscheiden aus der Politik 2018 und des Rücktritts vom Rücktritt im Sommer sind fünf bis sechs Seehofer-Rücktritte aktenkundig. In aussichtsloser Lage millimeterweise Boden und tageweise Zeit zu gewinnen ist seine übliche Taktik. Einer malt das Szenario aus: Im Januar die Klausuren von Landesgruppe und Landtagsfraktion, dann ist gleich wieder Aschermittwoch in Passau, dann naht die Europawahl ... und plötzlich ist wieder Ruhe erste Parteisoldatenpflicht? So ungefähr, ja?
Seehofer gibt einen Schritt nach: Vor den innerparteilichen Wahlen, also im Januar, soll ein Sonderparteitag zusammenkommen. Und was das Ministerium angehe – auf Dauer sei das ohne den CSU-Vorsitz sicher nicht zu halten. Merkel werde das auch noch merken, was ihr Verzicht für das Kanzleramt bedeute.
Friedhof der Erledigten
Merkel. Seine Nemesis. Für Seehofer sei es wichtig, dass er nicht auf ihrem Friedhof der Erledigten lande, sagt einer seiner Vertrauten. Von denen, den Vertrauten, gibt es auch nicht mehr viele. Seine wichtigste Stütze ist in München geblieben. Karolina Gernbauer, Büroleiterin in der Staatskanzlei, wollte nicht nach Berlin, aus privaten Gründen. Aber vielleicht ahnte die kluge Frau auch, dass sie auf dem fremden Spielfeld in diesem Ministerium verloren sein würde, das schon ohne die Aufblähungen um eine Heimat- und die Bau-Abteilung ein Monstrum ist. „Dass sie nicht mitkam war ein harter Schlag für ihn“, sagt einer, der das Duo über Jahre aus der Nähe erlebt hat.
Da sitzt er jetzt also auf seinem letzten Fleckchen Land: Ein einsames Büro in einem Haus, das ihm nichts sagt und in dem sie mit ihm nichts anzufangen wissen. Lauter Prädikatsjuristen, gewohnt in klaren Strukturen zu denken, und ein Instinktpolitiker, der in Bayern für das große Ganze zuständig war und dem speziell in Sachen Innere Sicherheit der getreue Joachim Herrmann den ganzen Kram abgenommen hat.
Er hätte wissen müssen, dass kein Ministerium schlechter zu ihm passt als dies. Dass er, der eigentlich nur sich selbst vertraut, sich ausgerechnet vom Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen vorführen ließ, war das deutlichste Zeichen für die Mesalliance. Hat ihn keiner vor dem illoyalen Rechthaber gewarnt? Oder drangen Warnungen nicht durch? Er sei manchmal schwer zu erreichen, sagt ein erfahrener Beamter.
Wie lange das noch so gehen soll – unklar. Keiner verlässt die große Bühne gerne als Verlierer. „Der Hauptgrund liegt nicht im Ergebnis der Landtagswahl in Bayern“, versichert Seehofer in Bautzen. „Der Wechsel gehört zum Leben, auch für mich.“
Das soll wohl abgeklärt klingen. Aber warum dann schon wieder diese Show? Diese Andeutungen im Kreis der Zuständigen, ein klarer Satz in Bautzen, beim Ministeramt mal hüh, mal hott? „Er kann einfach nicht aufgeben“, sagt einer, der ihn lange kennt. Irgendwo in seinem Kopf schalten wahrscheinlich ein paar Synapsen gerade das erfreuliche Bild zusammen, was denn wäre, wenn Friedrich Merz zum CDU-Chef ...?
Erst gehen, wenn Merkel weg muss. Sie überleben, und sei es um Tage. So klein können Ziele schrumpfen. Aber ohne Macht rücken selbst kleine Ziele in die Ferne. So wie es aussieht, wird seinem alten Feind Söder auch der Parteivorsitz zufallen. Wehe, wenn der den Berliner Koalitionsvertrag liest: „Das Vorschlagsrecht für die jeweiligen Ämter liegt bei den verantwortlichen Parteien.“