Berliner Rechtspopulisten in Marzahn-Hellersdorf: Herr Keßler und seine Freunde von der AfD
In Marzahn-Hellersdorf zieht die AfD mit 15 Abgeordneten und einem Stadtrat ins Rathaus ein. Der Fraktionschef verspricht: alles Demokraten! Wetten sollte er darauf besser nicht.
Man kann sich Rolf Keßler, 59, gut bei einer Partie Schach vorstellen. Oder vielleicht wie er Modalitäten einer Rentenversicherung erklärt. Wie Rolf Keßler für die Rechtspopulisten der AfD eine hitzige Redeschlacht im Plenum führen will, das kann man sich weniger gut vorstellen. So ruhig und besonnen spricht er. Vor allem so leise. Wenn die Kellnerin hinter der Theke Milch aufschäumt, ist das für seine Stimme echte Konkurrenz.
Zunächst einmal, sagt Rolf Keßler, lehne er den Ausdruck Rechtspopulismus ab. Der sei arg verkürzt. Was seine eigene Person anbelange, bevorzuge er den Begriff „konservativer Patriot“.
Mittwochvormittag, ein Café in Berlin-Mahlsdorf. Der frisch gekürte Fraktionsvorsitzende der AfD trägt ein rot-weißes Hemd mit Längsstreifen, Handy in der Brusttasche. Nirgends in Berlin war die Partei vor drei Wochen erfolgreicher als hier im Bezirk Marzahn-Hellersdorf. 23,6 Prozent der Zweitstimmen, zwei Direktmandate fürs Abgeordnetenhaus. In die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) ziehen sie mit 15 Vertretern ein, nur die Linke hat einen mehr. Auch einen Stadtrat wird die AfD stellen. Die meisten Fraktionsangehörigen saßen noch nie in einem Parlament.
Was sind das für Leute? Was wollen sie? Und wie sollte man ihnen begegnen?
Im Café sagt Rolf Keßler Sätze wie: „Die anderen werden sehen, dass wir Demokraten sind.“ Dass sie konkrete kommunalpolitische Anliegen verfolgten. Ein Kombibad zum Beispiel. Hilfen für Sozialschwache. Und natürlich die Senkung der Kriminalität. Keßler erzählt von der 91-jährigen Frau mit Rollator, der gerade die Handtasche geraubt wurde.
23,6 Prozent? Na klar!
Dass seine Partei in Marzahn-Hellersdorf ihre besten Ergebnisse einfuhr, überrascht Keßler nicht. Das sei schon bei der Europawahl so gewesen, und auch bei der Bundestagswahl 2013, als die AfD knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte. An Marzahn-Hellersdorf lag das nicht, sagt er. Da holten sie 6,4 Prozent.
Die Erfolge der AfD erklären sich Freunde wie Feinde ähnlich. Grob lässt sich der Bezirk in zwei Teile gliedern: Die sogenannten Siedlungsgebiete im Süden mit ihren Einfamilienhäusern, hier wohnen der Mittelstand und auch Besserverdienende, hier war die AfD bereits erfolgreich, als sie unter Bernd Lucke noch als eurokritische Professorenpartei galt.
Auf der anderen Seite die Plattenbausiedlungen im Norden. Mit hoher Arbeitslosigkeit, niedrigem Durchschnittseinkommen und Bildungsstand, vielen Abgehängten, Enttäuschten und Hoffnungslosen, einer Menge Nichtwählern, auch mit vielen Russlanddeutschen. Hier ist die AfD erfolgreich, seit sie als Anti-Flüchtlingspartei wahrgenommen wird. Hier leben die Menschen, über die Robert Drewnicki, Kommunikationsberater des Regierenden Bürgermeisters, gerade schrieb: „Die SPD-Politik, die man machen muss, um diese Wählerinnen zurückzuholen, möchte ich mir nicht vorstellen und wird es mit unserer SPD Berlin sicher auch weiterhin nicht geben.“
Der Fraktionschef war früher in der SED
Rolf Keßler, der frisch gekürte Fraktionschef, glaubt, noch einen anderen Grund zu kennen. Wer in der DDR sozialisiert worden sei und die Wende miterlebt habe, dem liege die Bewahrung des Nationalstaats eher am Herzen. Der wolle auf keinen Fall, dass sich die EU zu den Vereinigten Staaten von Europa entwickle. Genau deshalb sei er selbst 2013 in die AfD eingetreten. Sein erstes parteipolitisches Engagement, seit er 1990 aus der SED ausgetreten ist.
Früher war Keßler bei der Deutschen Reichsbahn angestellt, zuletzt Schichtleiter auf dem Rangierbahnhof Wuhlheide. Später ging er zur Knappschaft, inzwischen ist er im Ruhestand. Beim Leisereden guckt Keßler so ernst, man könnte glatt meinen, er sei schwermütig. Ein bisschen wie Walter White aus der Serie „Breaking Bad“. Also bevor der vom rechten Weg abkommt.
Islam-Hass und Verschwörungstheorien
Das Knifflige an Schafspelzen ist ja, dass man nie sagen kann, ob wirklich ein Wolf druntersteckt. Am Ende kann es sich eben tatsächlich bloß um ein Schaf handeln.
Dass Rolf Keßler ein vernünftiger Mensch ist, sagt auch Martin Krisp. Er hat den Bezirksverband Marzahn-Hellersdorf mitaufgebaut, war erster Vorsitzender. 2015 verließ er die Partei, weil sie ihm zu rechts wurde, folgte Bernd Lucke zur Neugründung „Alfa“. In deren Geschäftsstelle sitzt er jetzt und sagt, die Berliner AfD und ganz besonders die Sektion Marzahn-Hellersdorf seien lange gemäßigt gewesen, wirtschaftsliberal halt. Nationalistische Töne habe es nur aus Steglitz-Zehlendorf gegeben.
Der Schock kam mit dem Bundesparteitag in Essen, im Juli 2015. Als der rechte Flügel Lucke die Macht entriss, als Gemäßigte bepöbelt und bedroht wurden. Als fremdenfeindliche Parolen durch die Halle schallten. Martin Krisp sagt: „Da wusste ich, dass wir verloren hatten.“ Fünf von sieben Vorstandsmitglieder des Bezirks seien ausgetreten. Dafür seien andere in die Partei nachgerückt, die sich Rechtsauslegern wie dem Thüringer Björn Höcke verbunden fühlten.
Ein Aussteiger warnt vor "üblem Islamhasser"
Legt man Krisp eine Liste mit den Namen der AfDler vor, die es nun neben Keßler in die BVV geschafft haben, schüttelt der den Kopf. Und legt los: Der eine sei ein „übler Islamhasser“, der andere könne sich nicht entscheiden, ob er „Rechtsaußen oder Kommunist“ sei. Ein Dritter versuche fehlende Kompetenz durch Gepoltere zu verstecken, ein Vierter habe einen beschränkten Intellekt: „Ganz ehrlich: Der ist dumm wie drei Brote.“
Vermutlich schwingt in Krisps Urteil Groll mit. Vielleicht auch Ärger darüber, dass seine neue Partei Alfa nur 0,4 Prozent erhielt. Aber je mehr man sich mit den Menschen auf dieser Liste beschäftigt, desto mehr möchte man dem Abtrünnigen recht geben.
Da ist zum Beispiel Bernd Lau. Tischler aus Mahlsdorf. Er gilt als einer der erfahrensten und aktivsten Mitglieder der neuen Fraktion. Es gibt Dokumente, in denen Lau den Islam als Ideologie beschreibt, „welche sich einem Krebsgeschwür ähnlich ausbreitend die Weltherrschaft anstrebt“. Fester Bestandteil des Islams sei „die Unterwerfung und Ermordung Andersgläubiger“. Wohlgemerkt: Er spricht hier nicht über Terrorgruppen wie "IS" oder Al-Qaida, sondern pauschal über den Islam als Ganzen. Den Koran nennt er ein „hasserfülltes Machwerk“, das sich möglicherweise zu verbrennen lohne. Bernd Lau ist bei Pegida in Dresden und beim Berliner Ableger Bärgida mitgelaufen. Er behauptet, er habe dort keine Nazis gesehen. Ein Treffen sagt Lau erst zu, nach Rücksprache mit Parteifreunden wieder ab.
Mit rechter Vergangenheit
Bevor sich Bernd Lau der AfD anschloss, war er Mitglied der rechten Kleinpartei „Die Freiheit“, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Als im Oktober 2013 Flüchtlinge am Brandenburger Tor campierten, ging er hin und hielt ein Schild mit der Aufschrift „Asylanten? Erpresser“ hoch. Er schlug auch vor, die regierenden Politiker des Landes vor Gericht zu stellen, Arbeitstitel: „Nürnberg 2.0“. Mögliche Anklagepunkte seien „Erlassen von Gesetzen zum Nachteil der Deutschen, Bevölkerungsaustausch durch ungebremste Zuwanderung, Vernichtung unserer Kultur und Sprache und letztlich Preisgabe unseres Territoriums.“ Lau weiter: „Diese Politikerbande, die unserem Volk so etwas angetan hat, kann ruhig erfahren, was ihnen blüht.“
Konfrontiert man seinen Fraktionschef Rolf Keßler mit all diesen Ausfällen, sagt der nur: „Dazu möchte ich mich nicht äußern.“
Oder Bernd Pachal, der am Dienstag zu Keßlers Stellvertreter gewählt wurde. Pachal interessiert sich für Geschichte und Geschichten. Er glaubt zum Beispiel, die USA stehe heimlich hinter der Terrormiliz „Islamischer Staat“. Er glaubt, die zwölf Sterne auf der Flagge der Europäischen Union symbolisierten die „zwölf Stämme Israels“. Außerdem empfiehlt Pachal die Lektüre des Buchs „Der Streit um Zion“ des britischen Holocaustleugners Douglas Reed. In dem wimmelt es von antisemitischen Theorien. So wird etwa behauptet, Hitler sei ein Agent des Zionismus gewesen, habe also im Auftrag von Juden gehandelt.
Auch für den Beginn des Zweiten Weltkriegs hat Bernd Pachal eine eigenwillige Erklärung. Er glaubt, Nazi-Deutschland sei, ähnlich dem Beginn einer Schulhofschlägerei, von anderen Mächten provoziert worden. Zitat Pachal: „Zuerst wird ein Kleiner vorgeschickt, der stänkert. 1939 war es Polen.“
Konfrontiert man seinen Fraktionschef Rolf Keßler mit all diesen Ausfällen, sagt der: Das müsse er prüfen.
Kontakte zu NPD-Leuten & eine mysteriöse Überweisung
Die Liste rechter und rechtsextremer Verstrickungen ist noch viel länger. Mehrere Fraktionsmitglieder haben Kontakte zu NPD-Aktivisten. Viele sympathisieren mit der völkischen „Identitären Bewegung“, die ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Neulich sind Identitäre aus Protest auf das Brandenburger Tor geklettert. Rolf Keßler sagt, deren Spruchband „Sichere Grenzen - sichere Zukunft“ stimme doch mit dem Willen der deutschen Bevölkerungsmehrheit überein.
Vorige Woche war ein Teil der künftigen AfD-Fraktion im Freizeitforum Marzahn zu Gast, bei der letzten BVV-Sitzung der endenden Wahlperiode. Ein Abgeordneter machte ein Foto im Saal, prompt beschwerten sich im Internet Anhänger, dass hinter dem Rednerpult die EU-Flagge hänge - was habe die da zu suchen? Keßler, der Fraktionschef, sagt: „Wegen mir kann die Flagge bleiben.“ Aber es sei möglich, dass es da in seiner Partei unterschiedliche Ansichten gebe.
Eine weitere Frage wird sein, wie die anderen Parteien mit der AfD umgehen werden. Fraktionsübergreifende Absprachen gebe es dazu noch nicht, heißt es. Bloß sei klar, dass man die Rechtspopulisten nicht so leicht ignorieren könne wie früher die NPD. Bedeutet: Man werde nicht jeden Antrag der Neuen per se verwerfen, sondern prüfen und argumentieren. Sich politisch auseinandersetzen.
Weil die Posten im Bezirksamt nach dem Proporzsystem, also nach Stärke der Fraktionen in der BVV, verteilt werden, steht der AfD ein Stadtratsposten zu. Der Kandidat muss von der BVV gewählt werden. Würde der AfD-Vorschlag immer wieder durchfallen, bliebe der Posten vakant, das Ressort würde kommissarisch von einem anderen Stadtrat geleitet. Eine solche Blockade sei aber nicht geplant, heißt es.
Die erste Sitzung findet wahrscheinlich am Monatsende statt. Bis dahin will die AfD-Fraktion Visitenkarten drucken, eine Homepage erstellen, die Räume im Rathaus am Helene-Weigel-Platz beziehen. Angesichts ihrer Fraktionsgröße werden sie zwei Zimmer brauchen, sie haben Glück, dass die Piraten gerade aus der BVV geflogen sind. Vor allem muss die AfD entscheiden, wen sie als Stadtrat vorschlägt und welches Ressort sie anstrebt. Diesen Dienstag will die Fraktion das besprechen. Als möglicher Kandidat gilt Manfred Bittner, 67, ein Routinier. In den 90er Jahren war er für die CDU in Hellersdorf Wirtschaftsstadtrat - und musste sich später vor dem Berliner Landgericht verantworten.
Die Staatsanwaltschaft warf ihm im Rahmen der „Hellersdorfer Bauaffäre“ Bestechlichkeit bei einer Grundstücksvergabe vor. Tatsächlich gab es mysteriöse Überweisungen in Höhe von 68.000 Euro auf das Konto der Familie Bittner. Nachgewiesen wurde ihm nichts. Das Gericht urteilte: „Die Vorwürfe haben sich nicht mit der zur Verurteilung erforderlichen Sicherheit bestätigt.“ Die Zahlung auf Bittners Konto bleibe aber „merkwürdig“.
Aus den anderen Fraktionen heißt es, Bittner könne gar nicht Stadtrat werden, er sei rein formal zu alt. Bittner sagt, er würde eine Ablehnung anfechten. Rolf Keßler sagt leise, Bittner sei ein guter Demokrat.