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Im Namen der Meinungs- und Religionsfreiheit: Muslimische Verbände hatten zur Mahnwache am Brandenburger Tor aufgerufen.
© imago/CommonLens

Mahnwache am Brandenburger Tor: Halt finden

Ein Moment der Stille. Am Brandenburger Tor spüren sie, dass sich etwas verändert hat im politischen Berlin. Da gibt es nun eine Nachdenklichkeit über das, was gerade geschieht in der Welt. Und den Wunsch nach Selbstvergewisserung.

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Es ist kurz vor 18 Uhr, als vom Brandenburger Tor her Töne über den Pariser Platz wehen, die viele Deutsche womöglich noch nie gehört haben. Auf der Bühne vor dem Wahrzeichen der deutschen Einheit steht ein Mensch mit dunkler Hautfarbe. Er trägt die traditionelle Dschalabija, das Gewand der muslimischen Prediger.

Abdelhak El Kouani intoniert Verse aus dem Koran, und tausende Menschen hören dem Singsang arabischer Worte konzentriert zu. Die Sure 5 heißt übersetzt: "Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne dass es einen Mord begangen oder auf der Erde Unheil gestiftet hat, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält."

"Wir sind Deutschland"

Ein Imam mit einer Botschaft der Friedfertigkeit am Brandenburger Tor – und fast die gesamte Spitze der deutschen Politik ist gekommen, um ein Zeichen zu setzen. Der Bundespräsident ist darunter, die Kanzlerin und der Innenminister. Joachim Gauck wird gleich reden, Angela Merkel und Thomas de Maizière sprechen schon seit Tagen darüber, welche Schlussfolgerungen die Deutschen aus den Terroranschlägen von Paris ziehen sollen – und welche besser nicht.

Sie alle spüren, dass viele Menschen verunsichert sind. Nur ein paar Meter entfernt, vor der französischen Botschaft, hat der Zentralratsvorsitzende der Muslime, Aiman Mazyek, einen Kranz für die Opfer der Terroranschläge niedergelegt. Kerzen flackern auf dem Pflaster, Blumen liegen auf den Stufen. Dicht gedrängt stehen die Menschen am Pariser Platz. Vom Zusammenstehen wird vorn auf der Bühne gesprochen, von der Freiheit, die alle gemeinsam gegen Terror und Hass verteidigen müssen. Und immer wieder der eine Satz, wie eine Beschwörung des Zusammenhalts: „Wir sind Deutschland.“ Dieser Dienstag soll ein Abend der Selbstvergewisserung sein in diesen Zeiten der Unsicherheit.

Sorge vor einer Spaltung der Gesellschaft

Es scheint sich etwas verändert zu haben im politischen Berlin. Seit dem Überfall auf „Charlie Hebdo“ am vergangenen Mittwoch treibt alle Parteien im Bundestag nicht nur die Furcht vor Terror in Deutschland um, sondern auch die Sorge vor einer Spaltung der Gesellschaft. Jeden Montag demonstrieren in Dresden, in Leipzig und anderswo diejenigen, die eine Religion als Ursache allen Übels ausgemacht haben – genau jene Religion, auf die sich die Attentäter von Paris berufen haben. Wie soll man ihnen begegnen, ihre Ängste ernst nehmen? Und gleichzeitig die Werte einer offenen Gesellschaft verteidigen? Joachim Gauck spricht am Pariser Platz von der „Verwundbarkeit“ dieser Gesellschaft, um dann an Freiheit und Menschenwürde zu erinnern, die für alle gelten sollen, ganz gleich, woher sie kommen und woran sie glauben. „Die Welt rückt zusammen“, sagt Gauck. Aber gilt das auch über diesen Abend am Brandenburger Tor hinaus?

Fast am selben Ort, nur ein paar Meter entfernt, hatte Angela Merkel schon am Vormittag die richtigen Worte für den Zustand gesucht, in dem sich das Land befindet, das sie seit neun Jahren regiert. Vor genau 25 Jahren haben Ost- und Westdeutsche in Berlin die „Deutsche Gesellschaft“ gegründet. Die Mauer war gerade gefallen, als Bürgerrechtler aus Ost und Politiker aus West ein Zeichen des Zusammenhalts und der Verständigung setzen wollten. Es war die Zeit, in der die Ostdeutsche Merkel aus der Welt der Physik in die Welt der Politik fand, sie hat diesen ersten gesamtdeutschen Verein seither begleitet.

Nun feiert die „Deutsche Gesellschaft“ ihr Jubiläum. Ein paar hundert Gäste sitzen im Atrium der Deutschen Bank und die Kanzlerin spricht von „Mauern in den Köpfen“, die man abbauen muss. Wie damals, als der Sozialismus zerbrach und plötzlich zwei fremde deutsche Völker aufeinandertrafen. Merkel steht am Rednerpult, ganz in Schwarz gekleidet, sehr ernst, und sie erinnert an den Januar 1990, als sich in die Freude über den Mauerfall auch „Angst vor Ausgrenzung und auch Vorurteile“ mischten. Nun stehen wieder Fremde vor der Tür und brauchen Hilfe. Sie flüchten vor dem Terror in ihrer Heimat.

Merkel warnt vor Ausgrenzung

Merkel sagt, dass es Deutschland gut gehe und dass man die Kraft und die Verantwortung habe zu helfen. Und sie warnt davor, die Menschen, die zu uns kommen und auch die, die schon lange vorher hierher gekommen sind, auszugrenzen und ihnen Hilfe zu verweigern. Von „Würde“, „Werten“ und dem „Menschlichen“ spricht Merkel und von „Zivilcourage“, die so viel bewegen könne, sogar Mauern öffnen.

Das „P“-Wort, auch jetzt nimmt es Merkel nicht in den Mund. Aber jeder im Saal hört es mit, auch ohne, dass sie es ausspricht: Sie meint die, die Montag wieder als „Pegida“ durch Dresden gezogen und ihrer Angst vor Überfremdung und islamistischer Gewalt Ausdruck verliehen haben. Vor deren „Hass in den Herzen“ sie in ihrer Neujahrsansprache so ungewohnt deutlich gewarnt hatte. Und denen sich trotzdem jede Woche mehr Menschen anschließen.

Zunächst hatte sich die Bundeskanzlerin zu den Dresdner Aufmärschen nicht äußern wollen. Abwarten und nichts übereilen sind Wesensmerkmale der Regierungschefin. Merkels Kritiker legen ihr das als Zaudern und Taktieren aus, werfen ihr vor, sie suche den politischen Mainstream und folge ihm, wenn es ihr zum Machterhalt opportun erscheine.

Die Deutschen stört Merkels Politikstil offenbar kaum, sie nehmen ihn als eine Art von Besonnenheit, die ihnen Ruhe, einen gewissen Wohlstand und Sicherheit bringt. Das war so, als 2008 die internationale Finanzkrise aus Amerika herüberschwappte und beinahe den Euro mit in den Abgrund zog. Und auch, als später die Finanzmärkte den Zusammenhalt in Europa testeten. Merkel verfolgte ihre politischen Ziele so trocken und spröde wie eine Wissenschaftlerin ihren Versuchskatalog. Am Ende gewann sie die Wahlen.

"Der Islam gehört zu Deutschland"

Im Namen der Meinungs- und Religionsfreiheit: Muslimische Verbände hatten zur Mahnwache am Brandenburger Tor aufgerufen.
Im Namen der Meinungs- und Religionsfreiheit: Muslimische Verbände hatten zur Mahnwache am Brandenburger Tor aufgerufen.
© imago/CommonLens

In diesem Winter jedoch hat sich womöglich etwas Grundlegendes verändert im Land, und die Regierungschefin kann das nicht ignorieren. Das Aufflammen der Anti-Islam-Ressentiments und die Beharrlichkeit der Dresdner Demonstranten werden zur Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Am letzten Tag des Jahres 2014 hat Merkel ihre Zurückhaltung aufgegeben und eine klare Linie gezogen: Jeder solle ganz genau hinsehen, wem er bei den Demonstrationen hinterherläuft. Die Kanzlerin sprach von „Kälte und Hass“.

Für Merkel ist ganz offensichtlich ein Moment erreicht, an dem es nicht mehr um tagespolitische oder taktische Erwägungen geht. Ihr Verständnis von der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Werten an sich wird angegriffen. Wo es um Fremdenhass geht, ist für sie Schluss. Wie damals, als der „Nationalsozialistische Untergrund“ NSU unentdeckt von den Sicherheitsbehörden mordend durch Deutschland zog. Von einer „Schande“ für Deutschland sprach Merkel bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer 2012 und bat die Familien im Namen des ganzen Landes um Verzeihung.

Für die Politikerin Angela Merkel steht viel auf dem Spiel

Und nicht ohne Grund hat die Kanzlerin jetzt, nach den Anschlägen von Paris, den Satz des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff wiederholt: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Es soll kein Zweifel daran aufkommen, dass Angela Merkel eine Spaltung des Landes nicht zulassen wird. Ernst meint sie das, das konnte erkennen, wer die Bilder der Mahnwache in Paris gesehen hat, als Merkel inmitten der Regierungschefs auf die Straße ging.

Für die Politikerin Angela Merkel steht viel auf dem Spiel. Bisher hat sie in ihrer Kanzlerschaft die Spielanordnungen und auch die Fehlentwicklungen meistens kühl analysieren und dann Strategien für sich entwerfen können. Die Währung, die soziale Marktwirtschaft und Europa funktionieren nach nüchternen Regeln. Es gibt einen rationalen Kern, Freund und Feind sind auszumachen und es ist mit ihnen über Grundlegendes und Kompromisse zu reden.

Dschihadisten aber auf der einen Seite und eine verunsicherte und aufgeladene Bürgerschaft auf der anderen: Das ist etwas ganz anderes. Hier geht es um das Bild der Gesellschaft an sich, um das Zusammenleben der Menschen und um Sicherheit. Für die Rentner mit deutschen Wurzeln genauso wie für den Zuwanderer, der hier für sich und seine Familie eine Zukunft sucht.

Einer der Politiker, auf die es jetzt neben der Bundeskanzlerin ganz besonders ankommt, ist der Bundesinnenminister. Thomas de Maizière sitzt am Dienstagmittag mit Vertretern der islamischen Verbände und anderen Politikern auf einem Podium in Berlin-Mitte vor einer blauen Wand mit dem Logo der „Deutschen Islam Konferenz“.

Es schien eine Art politische Degradierung, als Merkel den CDU-Politiker nach der Bundestagswahl 2013 vom Verteidigungsministerium abzog und ihn stattdessen wieder für die innere Sicherheit verantwortlich machte. Jetzt aber passen seine ruhige Art, sein zurückgenommener Ton und seine Skepsis gegenüber allen überzogenen Demonstrationen von Stärke zur besonderen Lage, zum Wunsch vieler Menschen in Deutschland nach Selbstvergewisserung.

Absolute Sicherheit gibt es nicht

Thomas de Maizière weiß um die Ängste der Bürger. Er war lange Minister in Sachsen, lebt noch immer in Dresden, wo sie jetzt das Schreckgespenst einer Islamisierung Deutschlands beschwören. Trotzdem verspricht der Bundesinnenminister keine absolute Sicherheit. Die, so argumentiert er, können Polizei und Geheimdienste in einer offenen Gesellschaft eben nicht garantieren.

Eigentlich soll es bei dem Treffen der Islamkonferenz um die Integration der Muslime in das System deutscher Wohlfahrtspflege gehen. Sechs Tage nach den Anschlägen von Paris aber spüren die Vertreter der islamischen Verbände, dass die Öffentlichkeit von ihnen eine Distanzierung verlangt. „Es ist eine abscheuliche Tat, die wir auf das Schärfste verurteilen“, sagt der Sprecher des Koordinationsrats der Muslime, Erol Pürlü. Drei Plätze weiter sitzt der Innenminister mit hoch erhobenem Kopf und hört konzentriert zu.

Thomas de Maizière antwortet direkt auf Pürlü. Er braucht nur drei Minuten für seine Doppelbotschaft. Es sei „ein wichtiges und wertvolles Zeichen“, dass sich die muslimischen Verbände von Terror distanzierten, sagt er. Hass und Gewalt seien „niemals im Namen des Islam legitimierbar“. Dann folgt die Botschaft, die sich auch an die „Pegida“-Demonstranten richtet: Die Bundesregierung werde niemals akzeptieren, dass die Taten von Paris missbraucht würden, „um Hass oder Vorurteile gegen Muslime zu schüren“. Dass die Politik sich nicht „unsere innenpolitische Tagesordnung von ’Pegida’ diktieren lassen“ dürfe, hat er seit Sonntag in mehreren Fernsehauftritten zugleich gemahnt und versprochen.

Haltung statt Spaltung

Die Botschaft des Bundespräsidenten, der Kanzlerin und des Innenministers – für sie alle gilt in diesen Tagen eine Formel: Haltung statt Spaltung. Und immer wieder das Wort von der Gemeinsamkeit. Den „Pegida“-Demonstranten in Dresden mag das nicht genügen, und eine konkrete Antwort auf die Bedrohung von Terror ist es natürlich ebenso wenig. Aber vielleicht verlangt der Augenblick auch gar nicht unbedingt griffige Rezepte und schnelle Antworten. Vielleicht genügen ja zunächst starke Gesten und das Miteinander. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, jedenfalls hat am Dienstag damit nicht gegeizt. Selten hat man ihn so deutlich und so bestimmt den Terror im Namen seiner Religion verurteilen und gleichzeitig so überzeugend von „unseren Grundwerten“ sprechen gehört.

Vielleicht haben die Anschläge der Terroristen die deutsche Gesellschaft am Ende sogar ein bisschen geeint? „Sie wollten uns spalten“, sagt der Bundespräsident: „Erreicht haben sie das Gegenteil, sie haben uns zusammengeführt.“ Es ist diese Hoffnung, die die Menschen bewegt hat, zum Pariser Platz zu kommen.

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