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Einer wie der andere. Alexander Scheer spielt Gerhard Gundermann.
© Peter Hartwig/ Pandora Film

"Gundermann" im Kino: Gerhard Gundermann – Baggerfahrer, Rockstar, Verräter

Zehn Jahre hat Regisseur Andreas Dresen um seinen Film „Gundermann“ gekämpft. Es hat sich gelohnt – weil manche nun endlich die DDR verstehen.

Und ich weiß nicht/ Ob ich noch springen kann bis an eine Kehle/ Und ich weiß nicht/ Ob ich noch singen kann bis in eine Seele/ Und ich weiß nicht/ Ob ich noch starten kann bis in die Welt/ Und ich weiß nicht/ Ob ich noch warten kann, bis die Welt mich zählt.

Gerhard Gundermann schrieb diese Zeilen mit 42 Jahren zur Zeit der Sommersonnenwende. 42, das sei auch seine eigene Sommersonnenwende, hat er gesagt. Höher hinauf geht’s nicht. Und jetzt? Sollte er dem Beispiel der Sonne folgen und der meisten anderen und absteigen und untergehen im Westen? Er hat auf diese Frage nicht mehr geantwortet. Im Jahr darauf zur Sommersonnenwende starb er, am 21. Juni 1998, mit 43 Jahren. Es war ein plötzliches Hirnbluten. Nur Tage zuvor hatte er dieses Lied auf einem Konzert gespielt, das nun sein letztes wurde.

… bis die Welt mich zählt. Die Frage ist immer, wer die Welt ist. Der ganze Osten und Bob Dylan wussten, wer Gerhard Gundermann ist und wissen es noch immer. Fast der ganze Westen und die Filmförderung wussten es nicht.

Wer zum Teufel ist Gerhard Gundermann?, fragte die Filmförderung seit zehn Jahren, sinngemäß. Wer zum Teufel ist Toni Erdmann?, fragte Andreas Dresen zurück, sinngemäß. Und ergänzte zu Ersterem: Sänger, Baggerfahrer, Kommunist, Dissident, Drachentöter, IM, DDR-Bürger, Narr und Rebell.

Oh nee, sagte die Filmförderung, sinngemäß. Es war ein langer Weg bis zu diesem Film, der längste wohl, den der Regisseur Andreas Dresen je gegangen ist. Am Donnerstag kommt „Gundermann“ in die Kinos, sein vielleicht wichtigster Film, sein lautester und leisester zugleich, einer der schönsten in jedem Fall.

Scheer und Gundermann: Ein Herz, ein Hirn, ein Mund

August 2018. Vor zwei Wochen hat Dresen noch im Schneideraum gesessen und wie immer bis zum Schluss an der Tonspur gearbeitet. Und nun steht er auf der Bühne des Potsdamer Thalia-Kinos, die Premiere ist vorbei, er spielt sein Lieblingslied des Sängers: Alle, die gehen wollen, sollen gehen können/ Alle, die bleiben wollen, sollen bleiben können/ Alle, die kommen wollen, sollen kommen können. Nicht bloß in ein anderes Land: auf die Erde. Es ist ein Weltbegrüßungs- und Weltabschiedslied.

Mit einer Spur von Pathos wären diese Zeilen verloren, aber Dresen singt sie wunderbar fragil. Sein Hauptdarsteller Alexander Scheer und er schauen sich an beim Spiel, so, wie sich Menschen anschauen, die wissen, was sie miteinander teilen. Die wissen, dass ihre Arbeit ein großes Geschenk war und das Geschenk eine große Arbeit. Und dass der eine es ohne den anderen niemals geschafft hätte. Oder wie Gundermann gesagt hätte: ohne Druck keine Braunkohle!

Scheer („Sonnenallee“) als Gundermann: lang, hager, allerdünnster Zopf, große Zähne, Typus intellektuelles Nagetier. Ein Hirn, ein Herz, ein Mund, eine Seele. Ganz der andere und doch ganz er selbst. Also ein Wunder. Im Westen haben sie den Mann aus „Hoywoy“ – aus Hoyerswerda – auch den „singenden Baggerfahrer“ genannt, das hat er gehasst. Es ist der dritte Abend hintereinander, den der Schauspieler und sein Regisseur gemeinsam auf der Bühne Musik machen, Gundermanns Musik, doch zur Filmuraufführung in Essen spielten sie mit großer Band, die passt ins Thalia nicht rein.

Warum Essen und nicht Dresden oder Potsdam? „Na, weil wir aus NRW das meiste Geld bekommen haben“, sagt Dresen nachher im Thalia-Hinterzimmer und streichelt Whisky, die große kognakfarbene Kino-Katze. Genau so eine Katze läuft in den ersten „Gundermann“-Szenen durchs Bild. Dresen kann Wirklichkeit und Kino im Augenblick ohnehin kaum mehr auseinanderhalten.

„Das waren 1300 Leute in Essen, wir haben solche Angst gehabt“, sagt er. Dresen hat wie Gundermann so eine erschütternde Direktheit Ost, er tritt grundsätzlich nicht im Tarnanzug auf. Wegen zwanghafter Ehrlichkeit ist der Baggerfahrer und Sänger Gerhard Gundermann sogar bei der Stasi rausgeflogen. Und aus der Partei. Dresen liebt solche Relationen.

Gundermann war und ist fundamentale Opposition zur 'neoliberalen' Ästhetik und Agenda dessen, wozu die meisten 'Deutschland' sagen. Genau das aber bringt der Film von Dresen nicht rüber, ganz im Gegenteil, der verschwurbelt es.

schreibt NutzerIn RichardIII

Andere DDR-Filme sind Unfug aus seiner Sicht

1300 Leute also, die den Namen Gundermann vermutlich noch nie zuvor gehört haben. Es wurde ein großes Fest, und danach sagte ein Essener Paar: „Das ist für uns der Film zur Wiedervereinigung. Jetzt haben wir die DDR verstanden.“

Nach fast dreißig Jahren. Ob die beiden gewusst haben, dass man diesem Regisseur nichts Schöneres sagen konnte? Der Potsdamer Andreas Dresen gehört zu denen, die bei Wortgruppen wie „Das Leben der Anderen“ unwillkürlich die Gesichtsfarbe wechseln, vor allem wenn Wohlmeinende ihm erklären, die Wahrheit über die DDR sei schon gedreht. Sie nennen dann für gewöhnlich noch ein paar Filmtitel, die er als Unfug höherer Ordnung empfindet, klischeehaftes, handwerklich perfekt gemachtes Genrekino. „Wir wollen endlich die Deutungshoheit über unsere Biografien zurück“, sagt er.

Gerhard Gundermann starb 1998. Im Westen nannte man ihn den singenden Baggerfahrer.
Gerhard Gundermann starb 1998. Im Westen nannte man ihn den singenden Baggerfahrer.
© Rainer Weisflog/ picture alliance, dpa

„Gundermann“ basiert nicht zuletzt auf zwei Dokumentarfilmen von Richard Engel. Beim ersten von 1981 sagte der Chef des DDR-Fernsehens: „Ein guter Film, aber der falsche Mann!“ Und machte 70 Schnittauflagen. Beim nächsten befanden die Abnahmebevollmächtigten des ORB 1998: „Ein interessanter Film, aber der falsche Mann.“ Und vor allem müsse die Arbeitswelt raus, niemand wolle mehr Arbeiter sehen. Der ORB hat den Film nicht gezeigt. Und auch Dresen hörte immer wieder: „Interessantes Projekt, aber der falsche Mann.“

Dresen liebt falsche Männer, für ihn sind sie die einzig richtigen. Was man mit ihnen erzählen kann: Ich gehöre zu den Verlierern. Ich habe aufs richtige Pferd gesetzt, aber es hat nicht gewonnen. Das ist eine Gundermann-Zeile, zu der er die Musik nicht mehr geschrieben hat. Oder wie es eine Freundin sagte: „Wir haben mit dem Ende der DDR etwas verloren, das wir nie besessen hatten.“

Genau das ist Dresens Problem. Whisky sträubt ihr Fell, schaut in seine Züge, die sich nicht zwischen Weichheit und Härte entscheiden können, genau wie seine Filme; sie umschmeichelt den Regisseur und entzieht sich wieder seiner Hand, seinem Zugriff. Macht es genau wie die Wahrheit.

Axel Prahl spielt den Stasi-Vater

Aber Dresen hat da ein paar Kino-Fallen aufgestellt, da geht die Wahrheit doch rein, zumindest auf der Leinwand. Allein wie das beginnt: nur Scheers Gesicht, die Akkorde der Gitarre und Gundermanns wohl bekanntestes Lied. Immer wieder wächst das Gras/ Wild und hoch und grün/ Bis die Sensen ohne Hass/ Ihre Kreise ziehn. Er singt fast bist zu Ende, eine Frechheit für einen Filmanfang, und dann, als man es schon nicht mehr erwartet, ein jäh auf den Boden fallendes „undsoweiter, undsoweiter“, ein virtuoses Gundermann-Scheer’sches Verlegenheitsschnaufen, kurz, er suche eine Band: „Und die Frage ist, ob ihr das sein wollt?“ Ein paar entgeisterte Musiker schauen ihn an. Es ist ein großartiger Beginn, von der ersten Sekunde an sind wir mittendrin.

Acht Drehbuchfassungen schrieb Laila Stieler – seit Dresens wunderbarem Debüt „Stilles Land“ arbeiten beide zusammen. Sie hätten es sich einfacher machen können, sie hätten die achtziger Jahre erzählen können: Als der Baggerfahrer Gundermann, endgültig aus der Partei ausgeschlossen, selbst von der Staatssicherheit bespitzelt wurde, er durfte nicht mehr reisen, rebellierte wie immer … Aber Dresens Film erzählt die Neunziger und die Siebziger, ohne Übergänge:

Wo soll ich landen/ Wenn der Tank leer ist/ Wo is’n Rollfeld für mich frei/ Wenn der Höhenzeiger die letzten Zahlen frisst/ Wer findet im Empfänger meinen Schrei. Das ist das „Traurige Lied vom sonst immer lachenden Flugzeug“, Scheer singt es auf einer dunklen Bühne allein, und dann tritt aus der Schwärze ein Mann, der Schauspieler Axel Prahl als Stasi-Führungsoffizier, „ein Bewunderer“, stellt er sich vor. „Das muss man sich mal klarmachen“, erklärt Dresen, „die schicken ihm eine Vaterfigur, die schicken ihm den Vater, den er nie besaß.“

Natürlich könnte ab sofort der ganze Hoywoy-Singeklub in den Westen reisen, wenn, ja wenn da einer wäre, der die Hand für die anderen ins Feuer legen könne. Das könne er, antwortet der Tagebau-Hilfsarbeiter mit Abitur Gerhard Gundermann, Anfang zwanzig, mit Festigkeit. Von der Offiziershochschule war er geflogen, weil er sich weigerte, ein Loblied auf den Armeeminister Heinz Hoffmann zu singen. Er singe grundsätzlich keine Loblieder auf Armeegeneräle, das sei Stalinismus, das sei Personenkult. So einer hat es in jedem System schwer. Doch jetzt war er IM „Grigori“.

Das Kleinbürgerliche, Lasche gefiel ihm nicht

Regisseur Andreas Dresen und Hauptdarsteller Alexander Scheer (rechts).
Regisseur Andreas Dresen und Hauptdarsteller Alexander Scheer (rechts).
© Manfred Thomas

Gundermanns Freunde nannten ihn so, nun wurde es sein Deckname. „Er war eine Nervensäge, völlig klar“, sagt Dresen. Einer mit revolutionärem Elan, ein militanter Typ. Revolutionärer Elan ist keine zivile Eigenschaft, er ist die ständige Überforderung seiner selbst und der anderen.

Auch Dresen war traurig, als 1995 die Nachricht kam, Gerhard Gundermann sei IM gewesen; im Jahr zuvor hatte er im Vorprogramm von Bob Dylan gespielt. „So ein aufrechter Typ, und dann das.“ Aber im zweiten Moment habe er gedacht: „Das passt zu dem. Irgendwie passt das zu dem.“ Dieser Höherbeauftragte wollte selbst noch die Staatssicherheit benutzen. Dass andere mit Reserven lebten, hat ihn gestört, das in seinen Augen Lasche, das Kleinbürgerliche. Also hat er die Reserven, das Kleinbürgerliche, das Lasche denunziert. Keiner hat das später besser erklärt als er selbst: „Ich habe keine Privatsphäre in Anspruch genommen, also habe ich anderen auch keine zugebilligt.“

Unkomfortablerweise ist Gundermanns Opferakte bis heute verschwunden, im Gegensatz zu seiner Täterakte. Er hatte nicht damit gerechnet, aber als er die las, erblasste er vor sich selbst. Und ging zu den Betroffenen: zu Freunden, Weggefährten.

„Was mich absolut beeindruckt hat“, erinnert sich Dresen, „war sein Auftritt in der SFB-Talkshow bei Anne Will. Er wurde gefragt, warum er sich nicht seinen Fans, seinen Kollegen mitgeteilt habe. Gundermann hatte es längst getan, aber bei Anne Will sagte er nichts.“ Jeder andere hätte wohl nach diesem Strohhalm der Selbstrechtfertigung gegriffen. Und als er auf das verweigerte Loblied auf den Armeegeneral angesprochen wurde, schwieg er wieder. Dresen führt es auf Gundermanns Abneigung zurück, sich auch nur ansatzweise als Held zu stilisieren. Aber vielleicht war es noch etwas anderes.

Dieser Sänger sah in der neuen, fremden Gesellschaft einfach nicht die Instanz, vor der er sich zu rechtfertigen hatte. Er hielt sie für konstitutiv ignorant und naiv, zumal mit ihrer Forderung nach „Entschuldigung“.

Nach dem Konzert ging er zur Schicht

Die IM-Geschichte zieht sich durch den Film, Dresen und Stieler nennen sie auch „den Reuebogen“. Und dazu diese tief melancholischen Lieder, es ist ein irrer Kontrast: Gibt es denn melancholische IMs, melancholische Revolutionäre? Gundermann war einer. Aus dieser zerreißenden Spannung lebt der Film.

Die Pointe: Er entschuldigt sich nicht, was nichts über seine Reue besagt. Wunderbar sind die Szenen mit Kathrin Angerer als Opportunistin von gestern, die ihm als Journalistin und Opportunistin von heute seine Täterakte zugänglich macht und schnell zur alten Selbstgerechtigkeit findet. Sie fährt einen roten Sportwagen, während der Mann, auf den sie herabschaut, noch immer in seinem alten Takraf-Bagger hockt, 4000 Tonnen Lebendgewicht, 40 Meter hoch.

Und Gundermann ging da nicht runter, auch nicht, als sein Erfolg Anfang der Neunziger größer wurde, obwohl die Medien dieses Landes ihn so gut sie konnten ignorierten. Die 1992 zusammengesuchte neue Band hatte er „Seilschaft“ genannt, auch ein Affront gegen das einheitsdeutsche Bewusstsein.

Wenn seine Musiker nach dem Konzert ihr erstes Bier tranken, ging Gundermann – unheilbarer Abstinenzler, Vegetarier, Nichtraucher – zur Schicht. Hier sind wir alle noch Brüder und Schwestern/ Hier sind die Nullen ganz unter sich./ Hier isses heute nicht besser als gestern/ Und ein Morgen gibt es nicht.

Seine Grube ist heute ein See

Die Kohle, die er frühmorgens aus dem Bauch der Erde holte, war mittags schon verstromt, er hielt das für ehrliche Arbeit, dem Musikgeschäft wollte er sich nicht ausliefern. Freunde konnten sich Gundermann ohne den Bagger, seinen Ersthörer, nicht vorstellen. In seinen ohrenbetäubenden Krach brüllte er die neuen Lieder, hier fielen ihm seine besten Zeilen ein.

Und dann 1996 das Ende seines Tagebaus: Ach, meine Grube Brigitta ist pleite/ Und die letzte Schicht lang schon verkauft/ Und mein Bagger stirbt in der Heide/ Und das Erdbeben hört endlich auf. Gundermann fraß sich mit seinem Bagger auf sein eigenes graues Werks-Reihenhäuschen zu. Häuser wie dieses stehen inzwischen vorzugsweise in Gelsenkirchen, dort hat Dresens Filmteam die entsprechenden Szenen gedreht. Heute ist Gundermanns Grube ein See im Lausitzer Seenland.

Berlins Stromreserve ist der Tagebau Nochten. Im Unterschied zur Filmförderung wussten hier fast alle, wer Gerhard Gundermann ist. Und machten alles möglich, was nicht möglich war: Drehen bei laufendem Förderbetrieb etwa. Sie bauten sogar eine eigene Straße, damit das Filmteam mit den alten Riesenmaschinen in die Grube fahren konnte.

Wie oft mag der Sänger seinen Bagger noch besucht haben? Mag sein, irgendetwas in ihm konnte dessen Verlust nicht überleben. Er hatte seinen Facharbeiter gemacht, war „Maschinist für Tagebaugroßgeräte“, aber den gab es in der Bundesrepublik nicht, also waren er und die anderen für das Arbeitsamt „ungelernte Arbeiter“.

In einer Welt ohne Melancholie konnte er nicht leben. Und Dresen und Scheer können es auch nicht. Sie finden seine Lieder zum Heulen schön, diese ganze Theologie eines Atheisten: Ich mache meinen Frieden/ Mit dir, du großer Gott/ Ich nehm’, was du mir bieten kannst/ Leben oder Tod/ … So fülle meinen Becher/ Ich trink ihn bis zur Neige/ Nun gib mir schon mein Kreuz/ Oder eine Geige.

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