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Criminal Minds. Spurensicherer der DDR-Kriminalpolizei im Einsatz.
© WTS-Mixedmedia

Kriminalität in der DDR: Geheimsache Mord: Wie die Stasi Verbrechen vertuschte

Verbrechen? Gab es eigentlich nicht – wenn es nach der DDR-Führung ging. Thomas Sindermann war Ermittler in Berlin. Oft wusste er nicht, ob er seinen Fall auch wirklich lösen durfte. Heute zeigt Arte dazu eine Dokumentation.

Das Blut lief ihm aus mehreren Stichwunden im Oberkörper, ein Schuh war vom Fuß gerutscht, vielleicht als er rückwärts in das kleine begrünte Hinterhofrondell gestürzt war. Dienstag, 21. September 1982, 22.20 Uhr. Hinter den meisten Fenstern brennt noch Licht, im Fernsehen läuft „Dallas“, eine US-Serie, die mit fiesen Intrigen aus der Welt des Kapitalismus auch in Ost-Berlin für hohe Einschaltquoten sorgt. Und so bemerken die Anwohner nicht, wie auf ihrem Hof in der Trelleborger Straße 6 gerade Jürgen Lawrenz stirbt.

Zehn Minuten später klingelt in der Wohnung von Thomas Sindermann in Berlin-Karow das Telefon. Sindermann, 25 Jahre, ist Leutnant bei der MUK, der Morduntersuchungskommission in Ost-Berlin, und hat Bereitschaft. Er fährt zum Tatort.

Die Dienstwaffe ist weg

Dass er sich heute, 35 Jahre und viele Morde später, an diesen Fall noch so gut erinnert, liegt vor allem an der besonderen Brisanz: Das Opfer, Hauptwachtmeister Jürgen Lawrenz, trägt die Uniform der Volkspolizei. Und seine Dienstwaffe, eine Makarow vom Kaliber neun Millimeter, ist weg. Die Spurensicherer finden nur noch das Holster mit der zerschnittenen Sicherheitsschnur.

Zu den Gründungsmythen der DDR gehört es, den Sozialismus auf deutschem Boden zu entwickeln und damit eine Gesellschaft zu schaffen, in der Verbrechen verschwinden. Im Jahr 1982 entwickelt sich der Sozialismus bereits seit mehr als 30 Jahren. Ein Mord, noch dazu ein Polizistenmord, passt nicht in das Bild. Deswegen hat die DDR im Kampf gegen das Verbrechen eine Geheimwaffe: die Spezialkommission. Eine Art Polizei neben der offiziellen Polizei. Die kaum bekannte Arbeit dieser Truppe ist Thema einer Fernsehdokumentation, die der Sender Arte Dienstagabend zeigt.

Der Sohn des Volkskammerpräsidenten

Zunächst machte Sindermann am Tatort seine Arbeit ohne die geheimen Ermittler. „Da drüben“, er zeigt Richtung Bordstein, „fanden wir die Mütze des Wachtmeisters neben einem parkenden Pkw.“ Heute steht dort nicht wie damals nur ein Auto, es sind viele geworden. Sindermann, nun 60 Jahre alt, trägt Jeans und ein Hemd von Ralph Lauren.

Er, der Sohn des Volkskammerpräsidenten Horst Sindermann, hätte in der DDR alles werden können. Doch er wurde Polizist. Die Arbeit im Kollektiv hat er gemocht. Heute ist er Privatdetektiv. Aber das ist eine Geschichte, die er jetzt nicht erzählen will.

Der Tatort hat sich kaum verändert

„Lawrenz hat irgendwo da vorn ein Pärchen kontrolliert, das sich nicht ausweisen konnte.“ Sindermann zeigt Richtung Wisbyer Straße. Die Gegend zählte damals zum erweiterten Grenzgebiet, die Mauer und West-Berlin waren nicht fern. Volkspolizist Lawrenz begleitete das Pärchen zu dessen Wohnung im Hinterhaus der Trelleborger Straße 6. Wieder draußen auf der Straße muss er auf seinen Mörder getroffen sein, der ihn noch vor dem Haus angriff. Lawrenz flüchtete zurück in den Hof, wo er endgültig niedergestochen wurde. Die Fassade des Hauses sieht den alten Tatortbildern auch heute erstaunlich ähnlich. Und auch das kleine von Ziegeln eingefasste Rondell gibt es noch.

Kurze Zeit nach Sindermann traf damals Rolf Dieter Weinhold am Tatort ein. Weinhold trug ebenfalls einen Ausweis der Kriminalpolizei bei sich. Aber jederzeit konnte er noch einen anderen vorzeigen: den, der ihn als Mitarbeiter der Linie neun auswies, der Untersuchungsabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit. Spezialkommission.

Diese Eingreiftruppe war nicht nur mit modernster Kriminaltechnik ausgestattet, sie konnte auch auf den gesamten Apparat der Stasi zurückgreifen – mit 90 000 offiziellen und doppelt so vielen inoffiziellen Mitarbeitern eines der größten Geheimdienste der Welt.

Die Spezialkommission beendet das Verhör

Polizistenmord, 1982 in Pankow. Das Bild stammt aus dem Dokumentarfim "Die Spezialkommission", ausgestrahlt bei Arte
Polizistenmord, 1982 in Pankow. Das Bild stammt aus dem Dokumentarfim "Die Spezialkommission", ausgestrahlt bei Arte
© WTS-Mixedmedia

1982 wurden in Ost-Berlin nur etwa 30 Tötungsdelikte im Jahr registriert, in West-Berlin waren es rund viermal so viele. Auch andere Straftaten, Autodiebstahl oder Bankraub, waren im Vergleich eher selten. Das Streben nach Überwachung setzte auch der Kriminalität enge Grenzen. „Natürlich waren wir besser ausgestattet als die Kriminalpolizei“, sagt Weinhold. „Wir hatten einen Wolga mit Taiga-Maschine, der lief 200 Sachen.“ Die Kollegen von der Kripo hätten dagegen sogar Sprit sparen müssen. Und wenn Weinhold seinen Ausweis zeigte, dann konnte er richtig fühlen, wie sein Gegenüber mental strammstand.

Noch in der Nacht des 21. September 1982 weist er den Fahrdienstleiter im Pankower U-Bahnhof Vinetastraße an, den Fahrstrom abzuschalten, um sich dann im Untergrund auf die Suche nach der geraubten Waffe zu machen. Die Kriminalpolizei klappert derweil die Haushalte ringsum ab. Doch die Leute hatten nichts gesehen außer „Dallas“. Darüber redet man eigentlich nicht gegenüber der Staatsmacht. „Aber wir haben sehr schnell klargemacht, dass uns die Fernsehgewohnheiten gerade gar nicht interessieren“, sagt Sindermann.

Der Verdächtige aus dem "Café Nord"

Es ist dann die Kriminalpolizei, der es gelingt, mehrere Zeugen aufzutreiben, die den mutmaßlichen Täter beschreiben können: einen Mann, 20 bis 30 Jahre alt, 1,75 bis 1,80, Meter, sehr schlanke Figur, der eine Jeans oder Cordhose trägt. Ein Phantombild wird angefertigt. In der „Tanzbar Cafe Nord“ Schönhauser Allee Ecke Wichertstraße stoßen die Ermittler auf einen Verdächtigen.

Sindermann betont heute noch, wie kollegial das Verhältnis zu den Leuten von der Spezialkommission war. Man habe sich geduzt, gegenseitig unterstützt, sich auch mal zum Grillen eingeladen. Was er nicht gerne hört, ist, dass die Konkurrenten besser ausgestattet gewesen seien. Er erzählt dann, wie sie auf dem Pflaster der Trelleborger Straße mit Luminol und blauem Licht noch kleinste Blutspritzer entdeckt hätten. Und an Weinhold kann er sich gar nicht mehr erinnern, er habe ihn erst beim Drehen der Arte-Dokumentation wiedergesehen.

Bei aller Kollegialität, es ist offensichtlich, dass die Kriminalpolizisten den Ermittlern aus dem Ministerium Erich Mielkes misstrauen. Sie bringen ihren Verdächtigen ins Ost-Berliner Polizeipräsidium. Und zwar nicht durch den Vordereingang, sondern durch die abgeschirmte hintere Einfahrt in der Keibelstraße, wie Sindermann betont. „Hier konnten wir ungesehen in unsere Räumlichkeiten in der fünften Etage nach oben fahren“, sagt Sindermann.

Das Misstrauen ist berechtigt

Das Misstrauen ist berechtigt. Mitten in der Befragung geht die Tür auf und die Herren aus dem sechsten Stock treten ein. Zwar war die Zentrale der Spezialkommission gleich neben dem Stasi-Untersuchungsgefängnis in Hohenschönhausen, doch im sechsten Stock des Polizeipräsidiums befand sich eine Dependance. Die Leute von der Spezialkommission erklären den Kriminalpolizisten, dass ihr Job nun zu Ende sei, und nehmen den Verdächtigen mit. Das MUK bekommt ihn nie wieder zu sehen.

Sindermann geht davon aus, dass die Stasi einen Informanten in seinem Umfeld hatte. So war es wohl auch, denn die „Partner des operativen Zusammenwirkens“, wie es damals über die Polizei hieß, wurden besonders überwacht, sagt Roger Engelmann. Engelmann ist in der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen Experte für das DDR-Rechtssystem.

Gegründet auf Mielkes Befehl

Und weil das Verhältnis ein asymmetrisches war, verwundert es nicht, dass die Konkurrenten von der Spezialkommission mit ihren schnellen Autos als arrogant galten. Gegründet wurde die Spezialkommission 1958 auf Befehl Mielkes, sie hieß da noch „Mord- und Brandkommission“. Engelmann sagt, es habe in den frühen 50er Jahren ja tatsächlich Sabotagefälle in der DDR gegeben. Doch um solche Taten aufzuklären, waren Mielkes Leute zunächst auf die Hilfe der Kripo angewiesen.

1967 wurde aus der Einheit die Spezialkommission – und die bekam immer größere Kompetenzen. Ihr Auftrag war es, bei Mord, Terror, sogenannten Diversionsverbrechen – also Schädigung der Volkswirtschaft – und Brandstiftung zu ermitteln. Schließlich wurde sie zuständig in allen Fällen, die sicherheitspolitisch bedeutsam waren – wobei die Stasi entschied, was bedeutsam war.

Der Arte-Film der Dokumentaristin Gabi Schlag zeigt die Spezialkommission aber nicht nur als geheime Polizei mit konspirativen Mitteln. Es gab auch ganz andere Beispiele: Ein knappes Jahr nach dem Polizisten Lawrenz wird im Juli 1983 bei Neubrandenburg ein neunjähriger Junge tot gefunden. Es war der erste Todesfall seit Jahren in der Region und vielleicht hat die Spezialkommission deshalb nicht sofort eingegriffen. Zwar geschieht noch ein weiterer Mord, aber schnell wird der vermeintliche Täter präsentiert und verurteilt. Es ist der falsche, die Mordserie setzt sich schon bald nördlich von Berlin fort. Der wahre Mörder wird erst 1984 entdeckt, als er weiter mordet. Fünf Opfer, vier davon Kinder, gibt es bis dahin.

Mysteriöse Todesfälle in der Frauenklinik

Zurück am Tatort. Im September 1982 wurde Thomas Sindermann in die Trelleborger Straße in Pankow gerufen. Im Hof lag die Leiche eines Polizisten.
Zurück am Tatort. Im September 1982 wurde Thomas Sindermann in die Trelleborger Straße in Pankow gerufen. Im Hof lag die Leiche eines Polizisten.
© Austilat

Auch in diesen Fall schaltet sich schließlich die Spezialkommission ein. Sie entzieht der Volkspolizei den vor dem Abschluss stehenden Fall. Der Täter verschwindet im MfS-Gefängnis, niemand soll weitere Details erfahren, schon gar nicht die Bevölkerung. Denn auch das konnte die Spezialkommission: nicht nur ihr Netz aus Spitzeln nutzen, in fremde Wohnungen eindringen, belauschen und beobachten, sondern auch vertuschen.

Frauenklinikum Leipzig, 1986. Auf der Neugeborenen-Station verunsichert eine Reihe von Krankheits- und sogar Todesfällen das ärztliche Personal. Diesmal wird die Kriminalpolizei von vornherein nicht informiert. Es ist die Spezialkommission, die sofort übernimmt. Überführt wird schließlich eine Kinderkrankenschwester, der Prozess gegen sie findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Angehörigen der Opfer erfahren nicht, was vorgefallen ist.

Der Fall bleibt ungeklärt

Noch in den 50er Jahren wäre dies ganz anders gewesen, glaubt Roger Engelmann von der Stasi-Unterlagenbehörde. Man hätte an der Krankenschwester ein Exempel statuiert, das gesamte ärztliche Personal gezwungen, dem Prozess beizuwohnen. In den 80er Jahren ist der Staat an solcher Öffentlichkeit nicht mehr interessiert. Vor allem Verbrechen mit sexuellem Hintergrund oder an Kindern könnten nach Einschätzung der SED in der Bevölkerung Unruhe provozieren.

Den Polizistenmord in der Trelleborger Straße kann auch die Spezialkommission mit ihren konspirativen Mitteln nicht aufklären. Die Waffe bleibt verschwunden, den Verdächtigen muss sie schließlich wieder laufen lassen. „Unprofessionell und kontraproduktiv“, sagt Sindermann heute. Er kann sich immer noch darüber erregen, dass die Stasi-Leute die Befragung unterbrachen. An die Unschuld des Verdächtigen glaubt er nicht.

Nachspiel zwischen den Ministerien

Der Fall hatte ein Nachspiel. Am 9. März 1983 trafen sich Abgesandte des Innenministeriums, der die Kriminalpolizei unterstand, und des Ministeriums für Staatssicherheit, zuständig für die Spezialkommission. Anlass war, wie es in der Akte heißt, der Mordfall Lawrenz und der Umgang mit dem Verdächtigen Olaf R.: Künftig müsse die Zusammenarbeit „effektiver“ gestaltet werden.

Das Problem war erkannt, wurde aber nicht gelöst. Was den Experten Roger Engelmann nicht weiter wundert: „Solche Apparate, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen und denen scheinbar unbegrenzte Mittel zur Verfügung stehen, neigen nun einmal dazu, ihren Zuständigkeitsbereich immer weiter auszudehnen.“ Für die Stasi hieß das ganz konkret allein im Jahre 1988 zwölf Millionen sogenannte Sicherheitsüberprüfungen durchzuführen. Denn sicherheitsrelevant war inzwischen alles und jeder.

Der neue Anfang als Privatdetektiv

Nicht einmal zwei Jahre später kam mit dem Fall der Mauer für die Stasi und damit auch für die Spezialkommission das Aus. Der Ermittler Rolf Dieter Weinhold erhielt das Angebot, in der normalen Polizei weiterzuarbeiten, lehnte aber ab. Er hätte zwei Dienstränge weiter unten als Spurensicherer wieder anfangen müssen. Lieber machte er sich im Transportgewerbe selbstständig.

Thomas Sindermann erhielt nicht einmal ein Angebot. Freimütig gibt er zu, dass ihm der Name Sindermann zu DDR-Zeiten einige Privilegien beschert hat, ein Westauto zum Beispiel, Karten für den Palast der Republik und vielleicht auch eine gewisse Zurückhaltung der Stasi ihm gegenüber. Wahrscheinlich ebnete er ihm auch den Karriereweg, er wurde Leiter der Morduntersuchungskommission. Aber all das brachte ihm auch Neider ein und die sofortige Entlassung noch im Februar 1990.

Heute ist er eben Privatdetektiv. Sein größter Coup? Das war so eine Umweltgeschichte, es ging um illegalen Abfall, sagt Sindermann, ohne Genaueres erklären zu wollen. Nur, dass er dafür einmal in einem Baum sitzen musste. Durchaus spannend sei das gewesen, „aber die Motivation, einen Mörder zu überführen, war schon größer“.

Der Dokumentarfilm "Die Spezialkommission - geheime Mordermittlung in der DDR" läuft erstmals am Dienstag, 31. Januar, auf Arte, 21.45 Uhr.

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