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Helmut Kohl im Bundestag. Am 28. November 1989 stellt der Bundeskanzler mit seinem Zehn-Punkte-Programm seine deutschlandpolitischen Pläne vor. Ziel ist die Errichtung einer bundesstaatlichen Ordnung in ganz Deutschland. Über die Bildung konföderativer Strukturen mit der DDR soll in fünf bis zehn Jahren das ehrgeizige Ziel der deutschen Einheit erreicht werden. Durch Einbindung in den europäischen Prozess sollen den Partnern in Europa und der Welt die Bedenken vor der deutsche Wiedervereinigung genommen werden.
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Blog: Der Weg zur deutschen Einheit: 28. November 1989: Kohls Zehn-Punkte-Plan

Im Bundestag stellt Bundeskanzler Kohl seine künftige Deutschlandpolitik vor. Sein Plan soll den Weg zur Wiedervereinigung vorzeichnen. In der CSSR überschlagen sich derweil die Ereignisse. Die KP stimmt praktisch ihrer Ablösung zu. Verfolgen Sie den Weg zur deutschen Einheit in unserem historischen Blog.

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Den Weg dahin haben wir mit einem historischen Live-Blog begleitet, den Sie, liebe Leserinnen und Leser, hier nochmal nachlesen können. Nach dem Mauerfall ist aber vor der Deutschen Einheit. Knapp ein Jahr dauert es, bis beide deutschen Staaten wiedervereint sind. Auch diesen Weg begleiten wir und zeigen in diesem Blog wichtige Wegmarken.

Kohls Zehn-Punkte-Plan

Im Bundestag in Bonn hält Bundeskanzler Helmut Kohl eine weltweit beachtete Rede, in der er konkrete Schritte auf dem Weg zur deutschen Einheit nennt. Das Zehn-Punkte-Programm ist seit Tagen konspirativ im Kanzleramt vorbereitet worden. Selbst Vizekanzler und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) erfährt erst im Bundestag den genauen Wortlaut der Erklärung. Ziel ist die Schaffung einer bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren.

In der Frage eines gemeinsamen Devisenfonds ist die Bundesregierung bereit, ihren Anteil zu tragen. Allerdings müsse die DDR in Zukunft auf den Mindestumtausch bei Reisen in die DDR und die Visumspflicht für Bundesbürger verzichten.

Kohl bietet der DDR eine enge Zusammenarbeit in Wirtschaft, Verkehr, Umweltschutz, Wissenschaft und Technik, Gesundheit und Kultur an. "Sachliche Voraussetzung" sei der Abbau der Planwirtschaft zugunsten "marktwirtschaftlicher Bedingungen." Er greift die Idee Hans Modrows einer deutsch-deutschen Vertragsgemeinschaft auf. Nach freien Wahlen, die zu einer demokratisch legitimierten Regierung in der DDR führen, stellt der Kanzler die Bildung konföderativer Strukturen in Aussicht. Ein gemeinsamer Regierungsausschuss könne der ständigen Konsultation und politischen Abstimmung dienen. Gemeinsame Fachausschüsse und parlamentarische Gremien sollen die Voraussetzung zur Errichtung einer bundesstaatlichen Ordnung in ganz Deutschland schaffen. "Wie ein wiedervereinigtes Deutschland aussehen wird," stellt der Kanzler fest, " weiß heute niemand. Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen sie wollen, dessen bin ich mir sicher."

Kohls Plan stößt im Parlament auf breite Zustimmung. Für die SPD bekräftigt Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel die Verknüpfung eines Prozesses der deutschen Einheit mit dem Prozess der europäischen Vereinigung. Beide seien untrennbar. Seine Partei bietet der konservativ-liberalen Regierungskoalition in diesem Punkt eine konstruktive Zusammenarbeit an.

Lediglich die Grünen stören die weihevollen Stimmung dieser geschichtsträchtigen Stunde. Antje Vollmer verweist eindringlich auf die schwierige Lage, in die der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow durch die rasanten Entwicklungen der letzten Wochen im ganzen Ostblock und insbesondere in der DDR geraten sei. Man müsse die warnenden Töne aus der Sowjetunion, nicht über eine deutsche Wiedervereinigung zu reden, ernst nehmen.

Lesen Sie hier die gesamte Rede Helmut Kohls vom 28. November 1989, in der er zunächst die eigene Regierungspolitik lobt und im letzten Drittel seinen deutschlandpolitischen Plan vorstellt.

Moskau reagiert verschnupft

In der Tat erlebt Gorbatschows Position im sowjetischen Machtapparat eine dauernde Schwächung. Innenpolitisch unter Druck macht ihm auch der fortschreitenden Machtverlust der Sowjetunion in Osteuropa zu schaffen. Noch sind die Hardliner in der Partei nicht in der Lage, eine einheitliche Linie gegen die Reformpolitik zu entwickeln. Und es fehlt ihnen an Entschlossenheit, die Entwicklung zu stoppen.

Auf die Rede Helmut Kohls reagiert man in Moskau jedenfalls überrascht. Wadim Sagladin, als Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU engster Berater Gorbatschows und einer der Architekten der Glasnost-Politik, zeigt sich verärgert. Kohls Plan widerspreche früheren Äußerungen des Kanzlers.

KGB-General Nikolai Portugalow, führender Deutschland-Experte im sowjetischen ZK, meint, Europa könne unter den gegenwärtigen Umständen eine Konföderation der beiden deutschen Staaten nicht aushalten.

Auch aus Großbritannien und Frankreich ist Kritik an Kohls Vorgehen zu vernehmen. Es sei nicht mit den Verbündeten abgesprochen.

Erwartungsgemäß sieht auch DDR-Staatschef Egon Krenz die Einheit Deutschlands nicht auf der Tagesordnung stehen. Eine Konföderation kann er sich nur unter der Voraussetzung der Existenz zweier souveräner deutscher Staaten vorstellen.

Plädoyer für einen reformierten Sozialismus

Schriftsteller Stefan Heym stellt öffentlich einen Aufruf "Für unser Land" vor. Darin sprechen sich die Unterzeichner für den Erhalt der DDR als Alternative zur kapitalistischen Bundesrepublik aus. Sie verwahren sich gegen die Vereinnahmung der DDR durch die BRD. Bonn möge sich mit Bevormundungen zurückhalten. Solche habe man lange genug erdulden müssen.

Den Aufruf "Für unser Land" können Sie hier nachlesen.

Ihrer Rolle als Elite der Opposition scheinen die DDR-Intellektuellen aber bereits verlustig gegangen zu sein. Während sie noch von einem reformierten Sozialismus in Ostdeutschland träumen, macht die Mehrheit der DDR-Bürger ihre Zukunftsvorstellungen auf ganz eigene Weise deutlich. Zu Millionen sind sie über die Westgrenzen geströmt. Zurück in der Heimat haben sie relativ klare Vorstellungen darüber, was sie künftig nicht mehr wollen. Mangelwirtschaft und freiwilliger Verzicht auf Wohlstand scheinen ihnen jedenfalls wenig verlockend. In diesen für viele DDR-Bürger erstaunlichen Tagen, da sich ihnen die Wunderwelt westlicher Konsummöglichkeiten in ihrer ganzen Pracht offenbart, hat das sozialistische System schon verloren.

Bei der traditionellen Montagsdemo sind gestern (27.11.) wieder 200.000 Menschen für freie Wahlen, Meinungsfreiheit und die Bestrafung ehemals führender SED-Funktionäre in Leipzig auf die Straße gegangen. Doch die Stimmung hat eine neue Färbung angenommen. Statt "Wir sind das Volk" heißt es jetzt "Wir sind ein Volk." Riesige Sprechchöre fordern "Deutschland einig Vaterland." Auf einem Transparent steht "Einigkeit und Recht und Freiheit." Als Michael Arnold vom Neuen Forum von seinen Ängsten vor einer Wiedervereinigung spricht, wird er ausgepfiffen. Von einer Grußadresse an die Reformkräfte in der CSSR, an Dubček und Havel, will die Mehrheit der Demonstranten nichts wissen.

Enthüllungen

Für großes Aufsehen und breite öffentliche Empörung sorgen in diesen Tagen Enthüllungen über das luxuriöse Leben der alten Machtelite. Informationen aus Untersuchungsausschüssen gelangen in die Medien und erhitzen die Gemüter. Vor allem die Politbüro-Siedlung Wandlitz nördlich von Berlin steht im Fokus der Aufmerksamkeit. Dort hat sich die frühere Führung eine Art Versorgungsparadies erschaffen, das im völligen Gegensatz zum übrigen Land steht.

Zum Wendemythos steigt die Siedlung des früheren SED-Politbüros in Wandlitz bei Berlin auf. In für DDR-Bürger ungeahntem Luxus hätten die Parteifunktionäre dort gelebt. Im Rückblick erscheinen die spießigen Eigenheime eher bescheiden. Im Vergleich zu dem, was sich ein durchschnittlicher Bürger der DDR leisten konnte, waren sie aber in der Tat verhältnismäßig luxuriös.
Zum Wendemythos steigt die Siedlung des früheren SED-Politbüros in Wandlitz bei Berlin auf. In für DDR-Bürger ungeahntem Luxus hätten die Parteifunktionäre dort gelebt. Im Rückblick erscheinen die spießigen Eigenheime eher bescheiden. Im Vergleich zu dem, was sich ein durchschnittlicher Bürger der DDR leisten konnte, waren sie aber in der Tat verhältnismäßig luxuriös.
© Mike Wolff Tsp

Hochwertige Güter aus dem westlichen Ausland habe man dort für DDR-Mark erhalten. Inzwischen untersucht die Staatsanwaltschaft die Vorgänge und ist dabei auf ein Lager gestoßen, in das Waren derart luxuriöser Qualität, die nicht einmal in einschlägigen Fachgeschäften in West-Berlin zu finden sei, abtransportiert worden sind. Der Verwalter der Anlage glaubt im Fernsehen, die Kaufhalle habe nur ein "normales Angebot" geführt.

Reporter gelangen auch auf das private Jagdgebiet des früheren Ministerpräsidenten Willi Stoph. Das Anwesen mit seinen fünf Bädern, vielen Wohn- und Schlafzimmern, mehreren Küchen, prall mit westlichen Köstlichkeiten gefüllten Kühlschränken, dem Videoraum und der Bar im Keller hinterlässt den Eindruck, "als sei es panikartig verlassen worden."

Wie die CDU-Regionalzeitung Der Demokrat aus Rostock berichtet, haben bis vor kurzem noch MfS-Mitarbeiter im Hauptpostamt der Bezirksstadt Westpost kontrolliert. Eine ganze Etage im Postamt II hätte ihnen dafür zur Verfügung gestanden.

Empörung löst auch die Nachricht aus, auf persönlichen Wunsch Erich Honeckers habe die FDGB-Führung im Frühjahr eine erhebliche Summe zur Finanzierung des Pfingstfestivals der FDJ abgezweigt. Trotz des Protestes vieler Jugendlicher gegen ein solches Massenspektakel sind etwa 100 Millionen Mark aus den Solidaritätsspenden für die notleidenden Völker in den Entwicklungsländern zweckentfremdet worden. Jede junge Generation brauche "ihr emotionales Grunderlebnis" hatte der frühere Generalsekretär angeordnet.

Erste Auswirkungen der Empörung bekommen Angehörige der Volkspolizei zu spüren. Vereinzelt erhalten sie an Tankstellen kein Benzin mehr. Einige Mitarbeiter berichten auch, man würde ihre Kinder nicht mehr im Kindergarten aufnehmen.

Neues Reisegesetz eingebracht

Die Regierung legt den neuen Entwurf für ein Reisegesetz vor. Er geht im wesentlichen auf Vorschläge der Rechtsanwälte zurück, die unter Federführung von Dr. Gregor Gysi erarbeitet worden sind. Jeder DDR-Bürger soll zukünftig uneingeschränkt jederzeit reisen und in sein Land zurückkehren können. Den Bürgern wird das Recht "Reisezahlungsmittel" zu erwerben, eingeräumt. Der genaue Umfang der umtauschbaren Devisen, müsse aber noch festgelegt werden.

Neue Verwaltungsstruktur angedacht

Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer schlägt die drastische Reduzierung der Verwaltung in der DDR vor. Anstelle der 1952 eingeführten 15 Bezirke wird eine Rückkehr zu den früheren Ländern Sachsen, Thüringen, Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg diskutiert. Auf diese Weise würde die regionale Identität gestärkt.

In atemberaubenden Tempo haben die Tschechoslowaken mit ihrer so genannten Samtenen Revolution die Machtverhältnisse im Land umgekehrt. Sind die Sicherheitskräfte am 17. November noch brutal gegen die Demonstranten vorgegangen, knickt die Staatsführung nach wenigen Tagen vor den Massendemonstrationen ein. Schon am 24. November ist die KP-Führung zurückgetreten. Mit einem Generalstreik legen die Bürger am 27. November - dem Geburtstag von Alexander Dubček - das Land lahm. Bei den Verhandlungen mit dem Bürgerforum tags darauf erklärt sich die KP zum Machtverzicht bereit. Am 29. November wird ihr Führungsanspruch aus der Verfassung gestrichen. Vier Wochen später wird Václav Havel, der bekannteste Dissident der CSSR, zum neuen Staatspräsidenten gewählt.
In atemberaubenden Tempo haben die Tschechoslowaken mit ihrer so genannten Samtenen Revolution die Machtverhältnisse im Land umgekehrt. Sind die Sicherheitskräfte am 17. November noch brutal gegen die Demonstranten vorgegangen, knickt die Staatsführung nach wenigen Tagen vor den Massendemonstrationen ein. Schon am 24. November ist die KP-Führung zurückgetreten. Mit einem Generalstreik legen die Bürger am 27. November - dem Geburtstag von Alexander Dubček - das Land lahm. Bei den Verhandlungen mit dem Bürgerforum tags darauf erklärt sich die KP zum Machtverzicht bereit. Am 29. November wird ihr Führungsanspruch aus der Verfassung gestrichen. Vier Wochen später wird Václav Havel, der bekannteste Dissident der CSSR, zum neuen Staatspräsidenten gewählt.
© dpa

Verhandlungen in Prag

Einen Tag nach dem landesweiten Generalstreik in der Tschechoslowakei beginnen die Verhandlungen zwischen der Reformgruppierung Bürgerforum und der kommunistischen Regierung. Am Montag (27.11.) haben Millionen Menschen in der CSSR ab Mittag für zwei Stunden ihre Arbeit niedergelegt.

Auf Demonstrationen haben sie Reformen und den Rücktritt der Regierung gefordert. Auf dem zentralen Wenzelsplatz in Prag sind etwa 500.000 Menschen zusammengekommen. Auch in anderen Städten wie Plzen, Brno und der slowakischen Hauptstadt Bratislava sind Hunderttausende auf die Straße gegangen.

Währenddessen tobt in der KP-Führung ein Machtkampf. Schließlich werden personelle Änderungen angekündigt, Hardliner ins Abseits gestellt. Nachdem sich schon am Sonntag (26.11.) Vertreter des Bürgerforums wie Václav Havel und Alexander Dubček mit der Regierung Adamec getroffen haben, kommt es heute schon zu substantiellen Zugeständnissen.

Nur elf Tage nach Beginn der Massendemonstrationen in Prag am 17. November ist die Partei- und Staatsführung bereit, auf das in der Verfassung verankerte Machtmonopol der KP künftig zu verzichten. Einen Tag später (29.11.) wird es im Parlament aufgehoben.

Von allen friedlichen Revolutionen im Ostblock im Jahr 1989 legt die CSSR damit das erstaunlichste Tempo vor. In nur vier Wochen wird der jahrelang geächtete und noch im Frühjahr wegen "Rowdytums" inhaftierte Havel vom tschechoslowakischen Parlament zum neuen Staatspräsidenten gewählt werden.

Lesen Sie hier einen Nachruf des Tagespiegel auf den 2011 verstorbenen Václav Havel.

24. November 1989: KP-Führung in Prag tritt zurück

Alexander Dubček (li.) und Václav Havel (hier bei einer Demonstration im November) sind die Hauptfiguren der Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei. Die gewinnt erst nach dem Fall der Berliner Mauer im November an Zugkraft. Am 28. Oktober 1989, dem 71. Jahrestag der Staatsgründung der ersten tschechoslowakischen Republik 1918 demonstrieren in Prag über 10.000 Menschen für eine "andere Regierung." Dubček hatte 1968 als KP-Chef der CSSR den Prager Frühling eingeleitet und war nach dessen Niederschlagung in Ungnade gefallen. Der Autor und Bürgerrechtler Havel ist seit Jahren mit Berufs- und Aufführungsverbot belegt und saß insgesamt fünf Jahre im Zuchthaus, zuletzt im Sommer 1989 wegen "Rowdytums."
Alexander Dubček (li.) und Václav Havel (hier bei einer Demonstration im November) sind die Hauptfiguren der Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei. Die gewinnt erst nach dem Fall der Berliner Mauer im November an Zugkraft. Am 28. Oktober 1989, dem 71. Jahrestag der Staatsgründung der ersten tschechoslowakischen Republik 1918 demonstrieren in Prag über 10.000 Menschen für eine "andere Regierung." Dubček hatte 1968 als KP-Chef der CSSR den Prager Frühling eingeleitet und war nach dessen Niederschlagung in Ungnade gefallen. Der Autor und Bürgerrechtler Havel ist seit Jahren mit Berufs- und Aufführungsverbot belegt und saß insgesamt fünf Jahre im Zuchthaus, zuletzt im Sommer 1989 wegen "Rowdytums."
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Prager KP-Führung tritt geschlossen zurück

Eine Woche nach Beginn der täglichen Großdemonstrationen in Prag feiert die so genannte Samtene Revolution in der Tschechoslowakei einen ersten großen Erfolg. Während, wie in den vergangenen Tagen, wieder hunderttausende Menschen auf dem Prager Wenzelsplatz für Bürgerrechte und gegen den Machtanspruch der Kommunisten demonstrieren, findet in der Parteizentrale der KP ein mehrstündiges Krisentreffen statt.

Binnen weniger Tage hat die eben noch allmächtige Partei die Kontrolle über das Land verloren. Das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte bei der Demonstration am 17. November, bei dem es auch zu Todesopfern gekommen sein soll, hat die Menschen in der CSSR in einem lange nicht gesehenen Ausmaß mobilisiert.

Zuletzt hat es solche Massenproteste vor 21 Jahren, im Sommer 1968 bei der Niederschlagung des Prager Frühlings gegeben. Damals hatte sich die stalinistische Fraktion der tschechoslowakischen Kommunisten auf die militärische Unterstützung der Warschauer Pakt-Staaten verlassen können.

Doch Polen und Ungarn haben sich in den letzten Monaten vom orthodoxen Sozialismus verabschiedet. In Bulgarien wurde Staats- und Parteichef Todor Schiwkow am 10. November gestürzt. In der DDR bemüht sich die Parteiführung nach dem Fall der Berliner Mauer verzweifelt, einen Rest der alten Macht zu erhalten. Und dass Sowjetchef Michail Gorbatschow von seiner Linie, die Reformbewegungen im Ostblock nicht aufzuhalten, noch abrücken wird, glaubt auch in Prag niemand mehr.

Jeden Tag kommen nun mehr Menschen zu den Demonstrationen. Sie klappern mit ihren Schlüsselbunden oder mitgebrachten Küchenutensilien. Friedlich, aber selbstbewusst fordern sie KP-Chef Jakeš zum Rücktritt auf. Am Abend spricht Alexander Dubček zu den Demonstranten. Die Tschechoslowaken sollen ihren friedlichen Kampf für die Freiheit fortsetzen und der Welt beweisen, dass die Idee eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" in den Köpfen und Herzen der Menschen weiterlebt.

Im Frühjahr 1968 war der slowakische KP-Chef Dubček an die Spitze der Kommunisten in der CSSR gerückt und hatte mit vorsichtigen Reformbemühungen den Prager Frühling eingeläutet. Nach Wiederherstellung der alten, stalinistischen Verhältnisse musste Dubček als KP-Chef zurücktreten und wurde ins politische Abseits gestellt. Unter den Tschechoslowaken genießt er auch zwei Jahrzehnte später noch den Ruf eines mutigen Reformers.

Am Abend verkünden die Staatsmedien dann die Sensation: die Führung der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei erklärt geschlossen ihren Rücktritt, um den Weg zur Wahl eines neuen Parteipräsidiums und -sekretariats frei zu machen. Das ist der Anfang vom Ende der kommunistischen Herrschaft in der CSSR. Nun geraten die Regierung unter Ministerpräsident Ladislav Adamec und Staatspräsident Gustáv Husák - bis 1987 auch KP-Chef - unter Druck. Für Montag (27.11.) sind die Tschechoslowaken zum Generalstreik aufgerufen.

SED zu Verfassungsänderung bereit

Staatschef Egon Krenz erklärt im SED-Zentralorgan Neues Deutschland die Bereitschaft der Partei, einer Änderung der DDR-Verfassung zuzustimmen. Dabei gehe es nicht nur um den in Artikel 1 festgelegten Führungsanspruch der SED. Auch die Rechte der Volkskammer sollen dahingehend geändert werden, dass sie nie wieder durch die Vorgaben einer Partei beschnitten werden können. Nach wochenlangen Protesten und Demonstrationen gibt die SED-Führung damit einer der Hauptforderungen im Wendeherbst 1989 nach. Hoffnung auf einen Erhalt der Macht kann die Partei aber kaum länger in ihren Vorsitzenden Krenz setzen. Bei einer Umfrage nach dem beliebtesten Politiker des Landes kommt Krenz auf magere 9,6 Prozent. Für Ministerpräsident Hans Modrow sprechen sich dagegen 42 Prozent der Befragten aus. Vertrauen und Sympathie weckt Modrow durch seine ruhige und sachliche Art und seinen Verzicht auf hohle Phrasen und falsche Versprechungen. Allerdings geben 33 Prozent der Befragten an, derzeit gar keinen Politiker sympathisch zu finden.

Währenddessen emanzipiert sich die DDR-Jugendorganisation FDJ. Sie will sich zukünftig nicht mehr als Helfer und Kampfreserve der SED verstehen. Gleichzeitig wird der Vorsitzende Eberhard Aurich abgewählt. Aurich ist 1983 als Nachfolger von Egon Krenz an die Spitze der FDJ gerückt. Der Posten kann in der Politik der DDR als Sprungbrett für höhere Aufgaben betrachtet werden. Wie Krenz leitete auch sein Vorgänger als Staatsratsvorsitzender und SED-Generalsekretär, Erich Honecker, einst die FDJ. Aurichs politische Karriere endet dagegen mit seiner heutigen Abwahl.

Volkspolizist muss für Übergriffe ins Gefängnis

Dramatische Szenen spielen sich beim Prozess gegen den Volkspolizisten Horst L. ab. Es geht bei der Verhandlung um die Ereignisse in Berlin am 7. und 8. Oktober. Dem Angeklagten wird schwere Körperverletzung zur Last gelegt. Er hat gestanden, eine Person eine Treppe hinunter gestoßen zu haben. Im Gerichtssaal widerruft Horst L. sein Geständnis. Er habe bei den Vernehmungen "unter massivem psychischem Druck" gestanden. Viele Kollegen des Angeklagten sind im Saal. Schließlich ruft einer: "Sag doch endlich, dass sie uns verraten haben..." Als erster Vertreter der DDR-Sicherheitskräfte wird der Volkspolizist für die gewaltsamen Übergriffe rund um den 40. Jahrestag der Republikgründung zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Horst L. muss für vierzehn Monate ins Gefängnis und zudem Schadensersatz zahlen. Sein Verteidiger beantragt Revision.

Reisewelle setzt wieder ein

Am Nachmittag zieht die deutsch-deutsche Reisebewegung erneut an. Zum Wochenende stellt die Reichsbahn wieder Sonderzüge bereit. Verschärfte Zollbestimmungen, mit denen der Abfluss von DDR-Waren und Geld verhindert werden sollen, treten heute in Kraft. Noch begnügt sich der Zoll aber mit Stichproben. Noch immer gibt es viele Besucher, die sich ihr Begrüßungsgeld abholen. Auch vor den Filialen der DDR-Staatsbank bilden sich lange Schlangen, um die nach DDR-Recht möglichen 15 DM zum Kurs 1:1 umzutauschen. Wie Host Kaminsky, Präsident der Staatsbank, mitteilt, haben seit Öffnung der Grenzen am 9. November 12,8 Millionen DDR-Bürger von diesem Recht Gebrauch gemacht und 200 Millionen DM erworben. Man habe das Geld - vor allem in kleinen Scheinen - in Lastwagen von der West-Berliner Landeszentralbank abholen müssen.

Derweil wird die Bildung eines gemeinsamen Devisenfonds diskutiert, in den die DDR und die BRD gemeinsam einzahlen sollen. Künftig sollen so Reisezahlungsmittel gegen einen geeigneten Umtauschkurs zur Verfügung gestellt werden. Die Bundesregierung hat aber weiterhin Vorbehalte. Sie sieht die Reformen nicht weit genug vorangetrieben.

Gewerkschaftsvertrauensleute des Deutschen Theaters Berlin wenden sich in diesem Zusammenhang mit einem Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl. "Das Volk der DDR hat seine Reformen selbst erkämpft und wird das auch künftig tun", heißt es darin und in dem "hart geführten Dialog" mit Regierung und SED benötige man "keine politische Schützenhilfe von ihrer Regierung oder ihrer Partei." Kohl könne zwar "für frei Wahlen auf die Straße gehen." Er solle sich aber nicht unter die Trittbrettfahrer der Reformbewegung gesellen. Davon habe man im eigenen Lang genug.

Skepsis nimmt zu

Einer Umfrage Berliner Soziologen zufolge sprechen sich nur zehn Prozent der Befragten für eine Vereinigung mit der BRD aus. Die DDR weiterhin als souveränen sozialistischen Staat wünschen sich dagegen 83 Prozent. Die mit der Öffnung der Grenzen verbundene Euphorie sei verflogen. Die Soziologen führen aus, dass vor zehn Tagen noch 48 Prozent der Befragten mit der Erneuerung vor allem Hoffnungen verbanden. Nun, da Vielen der große Abstand zu den westlichen Ländern erst richtig bewusst geworden ist, tun dies nur noch 30 Prozent. Die Bürger erkennen allmählich die Vielfalt der bevorstehenden Probleme. Der Regierung Modrow trauen nur 35 Prozent der Befragten zu, die Probleme lösen zu können - 30 Prozent glauben das nicht.

20. November 1989: Samtene Revolution in der CSSR.

Samtene Revolution in der CSSR

Seit dem Vormittag ist ganz Prag in Bewegung. Menschengruppen sammeln sich. Demonstranten aus dem ganzen Land kommen angereist. Seit der blutigen Niederschlagung der Demonstration am Freitag (17.11.) ist das ganze Land auf den Beinen. Nachdem in Polen und Ungarn demokratische Reformen stattgefunden haben, in der Sowjetunion Glasnost und Perestroika gepredigt werden und sogar in der DDR die Zeichen auf radikale Veränderungen stehen, sind Tschechen und Slowaken nicht länger bereit, unter der Knute der Kommunistischen Partei zu leben.

Schon 1968 hatte die CSSR den Versuch unternommen, einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu verwirklichen. Der Prager Frühling wurde von den Truppen des Warschauer Pakts niedergeschlagen. Nachdem nun wichtige Länder des Ostblocks selbst einen Reformkurs eingeschlagen haben, wollen auch die Bürger in der Tschechoslowakei ihre Freiheit erlangen.

Bis zum Abend haben sich etwa 200.000 Demonstranten in Prag gesammelt. Es ist die größte Kundgebung, die das Land je erlebt hat. Die Sicherheitskräfte halten sich diesmal zurück. Nur die Wege hinauf zum Hradschin - der Prager Burg, dem Sitz der Regierung - haben sie vorsichtshalber abgesperrt. Gegen die schiere Masse an Demonstranten wäre ein Polizeieinsatz ohnehin aussichtslos.

Während die Demonstranten ihre Forderungen nach Reformen und dem Rücktritt der KP-Führung bekräftigen, sind auch einige Organisationen, die bislang die Politik und Macht der Kommunisten stützten, auf Abstand zu den Machthabern gegangen. Scharfe Kritik an dem blutigen Polizeieinsatz vom Freitag wird laut, bei dem es auch Tote gegeben haben soll. Parteispitze und Regierung sind derweil zu einer Krisensitzung zusammengetreten.

Der Dramatiker und Bürgerrechtler Václav Havel, ein Gründungsmitglied des oppositionellen Bürgerforums, vermutet einen Machtkampf an der Spitze der KP. Havel, ohnehin der bekannteste tschechische Dissident, wird in den nächsten Tagen zur Hauptfigur der Reformbewegung aufsteigen.

Es ist die größte Demonstration in der Geschichte der Tschechoslowakei. Am 20. November 1989 fordern mehr als 200.000 Menschen in Prag Reformen und den Rücktritt von KP-Chef Miloš Jakeš. In der CSSR beginnt in diesen Tagen die so genannte Samtene Revolution.
Es ist die größte Demonstration in der Geschichte der Tschechoslowakei. Am 20. November 1989 fordern mehr als 200.000 Menschen in Prag Reformen und den Rücktritt von KP-Chef Miloš Jakeš. In der CSSR beginnt in diesen Tagen die so genannte Samtene Revolution.
© dpa

Auf den Straßen rufen die Menschen: "Wir wollen euch nicht! Wir wollen Masaryk!" und erinnern damit an den Republikgründer Tomáš Garrigue Masaryk. Der tschechische Philosoph und Schriftsteller hatte gemeinsam mit Edvard Beneš während des Ersten Weltkriegs von den Entente-Staaten die Unterstützung für die Gründung der Tschechoslowakei organisiert und regierte das Land als dessen erster Präsident von 1918 bis 1935. Masaryk ist das Symbol der ersten tschechoslowakischen Republik, jener Phase in der Geschichte des Landes, in der man wirklich souverän war.

Während die Demonstranten durch die Straßen von Prag ziehen, lassen sie ihre Schlüsselbunde klingeln, um damit symbolisch das Ende der kommunistischen Herrschaft einzuläuten. Es ist der Beginn der Samtenen Revolution in der CSSR. Von nun an werden die Bürger des Landes jeden Tag und nicht nur in Prag demonstrieren. Für den 27. November wird zum Generalstreik aufgerufen.

FORSA sieht Neues Forum an der Spitze

Das Dortmunder Meinungsforschungsinstitut FORSA macht an sechs Grenzübergängen eine stichprobenartige Befragung unter einreisenden DDR-Bürgern. Würden heute Wahlen stattfinden, wäre das Neue Forum mit 22 Prozent der Stimmen stärkste Kraft in der Volkskammer. Die LDPD könnte mit 15 Prozent, die SED mit nur noch 14 Prozent rechnen. Die CDU käme auf 12, die ostdeutschen Sozialdemokraten auf 10 Prozent. Weit abgeschlagen würden die Bauernpartei bei einem Stimmenanteil von 3, die NDPD bei 2 Prozent landen. Den Gründungsaufruf des Neuen Forums haben mittlerweile 200.000 Menschen unterschrieben. Für Januar setzt die Gruppe in Leipzig ein Koordinierungstreffen an. Eine Gründungskonferenz solle bald folgen.

Neues Forum Rostock plädiert für "entmilitarisierte DDR"

Bis zu eine Billion Mark werden notwendig sein, um die marode Wirtschaft der DDR zu sanieren. Auf diese Summe kommt der Sprecherrat des Neuen Forums Rostock. Die Gruppe der auch der Pastor Joachim Gauck angehört, plädiert deshalb für die Abschaffung der Armee. In einer "entmilitarisierten DDR" soll es nur noch Polizei, Grenz- und Zolldienst sowie eine Antiterror- und eine Spionageabwehreinheit geben.

Seiters sondiert in Ost-Berlin

In Ost-Berlin trifft Kanzleramtsminister Rudolf Seiters zu Sondierungsgesprächen mit der DDR-Führung zusammen. Er soll den Besuch von Bundeskanzler Kohl organisieren. In dem dreistündigen Gespräch macht Seiters den DDR-Politikern klar, dass das Ausmaß der wirtschaftlichen Hilfe der Bundesrepublik von der weiteren Entwicklung in der DDR abhänge. Vor allem bekräftigt er die Forderung der Bundesregierung, den Führungsanspruch der SED aus Artikel 1 der DDR-Verfassung streichen zu lassen und bis zum Frühjahr 1990 ein neues Wahlgesetz zu erlassen. Zudem wünscht er Erleichterungen für Reisen von BRD-Bürgern in die DDR. Seiters kommt auch zu einem Gespräch unter sechs Augen mit Staatschef Krenz und Ministerpräsident Modrow zusammen.

Montagsdemos im ganzen Land

Hunderttausende DDR-Bürger gehen am Abend auf die Straße. Allein in Leipzig sind es wieder eine Viertelmillion Menschen, die der SED vorwerfen, das Volk "30 Jahre lang betrogen und belogen" zu haben. Ein Spruchband verkündet: "Eine Schlange häutet sich, aber sie bleibt eine Schlange". Während ein Sprecher des Neuen Forums vor einer Wiedervereinigung warnt ("Wir wollen nicht das Armenhaus Großdeutschlands werden"), bekommt der Werkzeugmacher Hans Teschnau lang anhaltenden Beifall.

Unter der Losung: "Keine Experimente mehr! Wir sind keine Versuchskaninchen!" erklärt er, nachdem er 40 Jahre Sozialismus ertragen habe, keine Lust mehr auf neue Varianten zu haben. Schließlich gebe es vor der Tür ein funktionierendes Gegenmodell. Wie Teschnau sehen viele Teilnehmer in freier Marktwirtschaft und Wiedervereinigung den einzigen Ausweg. Sprechchöre "Deutschland einig Vaterland" erklingen.

Auch in Halle und Karl-Marx-Stadt demonstrieren jeweils 50.000 Menschen.

19. November 1989: Demokratischer Aufbruch wird Partei.

Kritik an "Wendehälsen"

Die Bereitschaft der DDR-Bürger, für Reformen und freie Wahlen auf die Straße zu gehen, hat auch nach dem Fall der Mauer nicht nachgelassen. Immer häufiger fordern die Demonstranten nicht mehr nur die Abschaffung des in der Verfassung verankerten Führungsanspruchs der SED. Viele fordern jetzt auch die Bestrafung der an der Krise Schuldigen. Im Fokus steht vor allem Staatschef Egon Krenz, der in der Bevölkerung kein Vertrauen genießt. Die angekündigte "Wende" sei kaum glaubhaft, solange sie von diesem Staatsratsvorsitzenden proklamiert werde. Auch das Verhältnis der Regierung zu Krenz steht unter genauer Beobachtung.

Bei den Demonstrationen, an denen zum Beispiel in Frankfurt/Oder 10.000 und in Dresden sogar 100.000 Menschen teilnehmen, wird auch scharfe Kritik an so genannten "Wendehälsen" geübt - Politikern, die vor kurzem noch stramm auf Parteilinie lagen, nun aber schon seit langem Reformen gefordert haben wollen.

In Ost-Berlin gehen Tausende auf die Straße und demonstrieren für freie Wahlen, eine neue Verfassung und demokratische Reformen. Auf Transparenten stehen Losungen wie: "Die Mauer hat Löcher, aber die Bretter vor dem Kopf bleiben" und "Wo kämen denn die Reformen her, wenn das Volk nicht auf den Straßen wär". Die Vereinigte Linke fordert die "Aufdeckung aller Stasi-Spitzel". Die Umbenennung des MfS in ein Amt für Nationale Sicherheit bedeute noch keine neuen Inhalte.

Demokratischer Aufbruch wird Partei

Wie ihr Vorsitzender Wolfgang Schnur mitteilt, plant die Bürgervereinigung Demokratischer Aufbruch für den 16. und 17. Dezember einen Gründungskongress als politische Partei in Leipzig. Die Bürgerrechtler wünschen die Abhaltung freier und geheimer Wahlen in der DDR im September 1990.

Acht Millionen DDR-Bürger sind in den vergangenen zehn Tagen in den Westen gereist. Allein an diesem Wochenende (18. und 19.11.) kamen drei Millionen Besucher in die Bundesrepublik und nach West-Berlin.
Acht Millionen DDR-Bürger sind in den vergangenen zehn Tagen in den Westen gereist. Allein an diesem Wochenende (18. und 19.11.) kamen drei Millionen Besucher in die Bundesrepublik und nach West-Berlin.
© dpa

Acht Millionen Besucher in zehn Tagen

Der Besucherstrom aus der DDR reißt nicht ab. Zehn Tage sind seit dem Fall der Mauer vergangen und bereits mehr als acht Millionen Ostdeutsche waren auf Stippvisite in der Bundesrepublik oder in West-Berlin. Das ist fast die Hälfte der Bevölkerung der DDR. Zwischenzeitlich wurden 70 Übergänge an der innerdeutschen Grenze geöffnet. West-Berlin ist über 22 Übergänge erreichbar. Die Erwartungen für die einstige Frontstadt des Kalten Krieges sind am Wochenende noch übertroffen worden. Fast zwei Millionen der knapp drei Millionen Grenzgänger der letzten beiden Tage haben den Weg nach West-Berlin gesucht. Die Innenstadt ist voller Menschen. Der Ladenschluss wurde aufgehoben. Im Unterschied zur Vorwoche haben diesmal viele Besucher den öffentlichen Nahverkehr genutzt.

NVA wird entpolitisiert

In Zukunft sollen Verantwortung und Kompetenzen der SED-Parteiorganisationen klar von den staatlichen Führungsgremien getrennt sein. Das Verteidigungsministerium beschließt, die Sekretariate der Partei in der Verwaltung der Nationalen Volksarmee aufzulösen.

Großdemo in Prag

Trotz massiven Polizeiaufgebots haben sich in der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag wieder Zehntausende auf die Straße gewagt. Sie protestieren vor allem gegen den brutalen Polizeieinsatz vom Freitag (17.11.), bei dem gerüchteweise eine oder vier Personen ums Leben gekommen sein sollen. Zwar wird der Tod von Demonstranten von den staatlichen Medien dementiert. Deren Glaubwürdigkeit hat allerdings einen Tiefststand erreicht. Öffentlich wird für die Toten gebetet.

Die Demonstranten fordern das Ende der Einparteienherrschaft in der CSSR und den Rücktritt von KP-Chef Miloš Jakeš. Öffentlich wird zu einem Generalstreik am 27. November aufgerufen. Künstler und Belegschaft der Prager Theater befinden sich schon in einem einwöchigen Streik. Ihre Bühnen werden für offene Diskussionen geöffnet.

Nach den Vorfällen vom Freitag herrscht unter den Demonstranten hohe Angespanntheit. In den Seitenstraßen sind die Sicherheitskräfte konzentriert.

Währenddessen schließen sich mehrere unabhängige Bürgerrechtsgruppen zusammen. In der tschechischen Landeshälfte bilden sie die Sammlungsbewegung Bürgerforum. In der Slowakei wird als Äquivalent die Bewegung "Öffentlichkeit gegen Gewalt" ins Leben gerufen. Beide Gruppen bieten der Regierung Gespräche über Reformen an. Zuvor müssen aber erst alle Politiker zurücktreten, die an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 beteiligt waren.

Das trifft unter anderem auf KP-Chef Jakeš zu. Alexander Dubček dagegen, KP-Chef in der Zeit des Prager Frühlings, wird zum Nestor der so genannten Samtenen Revolution, die in den nächsten Tagen durch das Land rollt.

18.November 1989: Bundesrepublik bekennt sich zur Westbindung.

Bundesrepublik bekennt sich zur Westbindung

Am Abend endet das Gipfeltreffen der Europäischen Gemeinschaft (EG) in Paris. Alle Beteiligten sprechen einmütig von einem "historischen Treffen." Die zwölf Mitgliedstaaten der EG erklären sich bereit, den Staaten des Warschauer Pakts wirtschaftlich helfen zu wollen. Diese müssten aber zunächst zur Demokratie zurückkehren, freie und geheime Wahlen abhalten und die Menschenrechte respektieren.

Bislang haben in den Augen der EG nur Polen und Ungarn diese Bedingungen erfüllt. Die Regierung der DDR muss ihren nachhaltigen Reformwillen erst noch unter Beweis stellen.

Obgleich nicht offiziell auf der Agenda stehend, beschäftigen sich die Teilnehmer auch mit der Frage einer deutschen Wiedervereinigung. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und sein Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) versichern, dass für sie keine Alternative zur europäischen Einigung und zur Westbindung der Bundesrepublik existiere.

In sämtlichen Mitgliedstaaten der EG gibt es zum Teil heftige Bedenken gegen eine deutschen Wiedervereinigung. Ein vereinter deutscher Nationalstaat würde Europa nicht nur wirtschaftlich dominieren. Er wäre auch der mit Abstand bevölkerungsreichste Staat.

Fürs Erste kommen die EG-Staaten aber überein, dass eine Wiedervereinigung zum jetzigen Zeitpunkt nicht in Frage komme. Die europäischen Grenzen sollen bestehen bleiben und an den militärischen Blöcken - Warschauer Pakt und NATO - nicht gerüttelt werden.

Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) werben beim EG-Gipfel in Paris für eine rasche Wiedervereinigung. Doch die Partner sind skeptisch und so müssen Genscher und Kohl zunächst ihr unbedingtes Festhalten am europäischen Einigungsprozess und an der Westbindung der Bundesrepublik bekräftigen. Kohl, dessen Kanzlerschaft nur wenige Monate zuvor noch auf der Kippe stand - seine Beliebtheitswerte waren im Keller und im CDU-Vorstand wurde schon ein parteiinterner Putsch vorbereitet - erreicht in den Jahren 1989 bis 1991 den Zenit seiner politischen Karriere. Der studierte Historiker beweist ausgesprochenes Verhandlungsgeschick. Die diplomatische Organisation der deutschen Einheit wird sein Meisterstück.
Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) werben beim EG-Gipfel in Paris für eine rasche Wiedervereinigung. Doch die Partner sind skeptisch und so müssen Genscher und Kohl zunächst ihr unbedingtes Festhalten am europäischen Einigungsprozess und an der Westbindung der Bundesrepublik bekräftigen. Kohl, dessen Kanzlerschaft nur wenige Monate zuvor noch auf der Kippe stand - seine Beliebtheitswerte waren im Keller und im CDU-Vorstand wurde schon ein parteiinterner Putsch vorbereitet - erreicht in den Jahren 1989 bis 1991 den Zenit seiner politischen Karriere. Der studierte Historiker beweist ausgesprochenes Verhandlungsgeschick. Die diplomatische Organisation der deutschen Einheit wird sein Meisterstück.
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Die Reformen im Ostblock und der Fall der Mauer haben ein seit vier Jahrzehnten festgezurrtes Kräfteverhältnis in Europa gehörig durcheinander gewirbelt. Die bedrohliche, aber in ihrer Bedrohung auch relativ sichere Ordnung der Welt im so genannten Kalten Krieg steht plötzlich zur Disposition. Nicht jeder Politiker ist sogleich bereit, sich und seinen Landsleuten die Herausforderungen einer sich rasant verändernden geopolitischen Weltordnung zuzumuten. Margaret Thatcher, die streitbare Premierministerin Großbritanniens, hofft noch immer, dass alles so bleibt wie es ist. Schließlich sei man damit in der Vergangenheit gut gefahren. Die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang haben dazu freilich eine ganz andere Meinung.

Demonstration in Leipzig

In Leipzig findet an diesem Sonnabend eine erste offiziell genehmigte Kundgebung auf Initiative des Neuen Forums statt. Dabei fordern etwa 20.000 Teilnehmer die Einführung von Formen direkter Demokratie sowie freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahlen. Die Initiatoren warnen die Bürger, sich nicht von halbherzigem Entgegenkommen einlullen zu lassen. Der Prozess der Demokratisierung habe gerade erst begonnen. Für eine nachhaltige Veränderung der Gesellschaft müsse der Bürger weiterhin durch Wachsamkeit und die beherzte Artikulation der eigenen Vorstellungen eintreten. Weitere Demonstrationen finden in Plauen (10.000 Teilnehmer), Suhl (5.000) und Eberswalde-Finow (7.000) statt. In Dresden gehen 50.000 Menschen für die Rettung der Baudenkmäler der Stadt und die Beendigung des Ausverkaufs von nationalen Kunst- und Kulturgütern auf die Straße.

Auch in anderen Ländern des Warschauer Pakts begehren die Bürger auf. In Riga, der Hauptstadt Lettlands, beteiligen sich über 500.000 Menschen an einer Demonstration für staatliche Unabhängigkeit. In der bulgarischen Hauptstadt Sofia kommen 100.000 Teilnehmer zu einer Demonstration pro Demokratie.

Trotz unterschiedlicher politischer Ausrichtung ist das Arbeitsverhältnis von Bundeskanzler Helmut Kohl (links) und Frankreichs Staatspräsidenten François Mitterrand relativ harmonisch. In den wichtigsten europäischen Fragen zieht man an einem Strang. Obgleich Mitterand Vorbehalte gegen ein vereintes Deutschland nicht verhehlen kann, stellt er sich neutral zur Entwicklung. Die Angst vor dem einstigen "Erbfeind" sitzt dem Franzosen auch vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch in den Knochen. Als geschickter Diplomat erweist er sich, als er die Festlegung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze zur Vorbedingung der deutschen Einheit macht. Auch die Einbindung des deutschen in den europäischen Einigungsprozess geht im Wesentlichen auf sein Konto.
Trotz unterschiedlicher politischer Ausrichtung ist das Arbeitsverhältnis von Bundeskanzler Helmut Kohl (links) und Frankreichs Staatspräsidenten François Mitterrand relativ harmonisch. In den wichtigsten europäischen Fragen zieht man an einem Strang. Obgleich Mitterand Vorbehalte gegen ein vereintes Deutschland nicht verhehlen kann, stellt er sich neutral zur Entwicklung. Die Angst vor dem einstigen "Erbfeind" sitzt dem Franzosen auch vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch in den Knochen. Als geschickter Diplomat erweist er sich, als er die Festlegung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze zur Vorbedingung der deutschen Einheit macht. Auch die Einbindung des deutschen in den europäischen Einigungsprozess geht im Wesentlichen auf sein Konto.
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Generalstaatsanwalt übernimmt Verantwortung

In der fortgesetzten Aussprache in der Volkskammer stellt sich Generalstaatsanwalt Günter Wendland seiner Verantwortung. Zunächst trägt er die vorläufigen Ergebnisse der Untersuchung zu den Vorkommnissen vom 7. und 8. Oktober vor.

Wendland stellt fest, dass sich im Spätsommer 1989 die "inneren Widersprüche in unserem Land" verschärften, aber "von den dafür Verantwortlichen nicht rechtzeitig erkannt und gelöst wurden." Insgesamt seien bei den Übergriffen der Sicherheitskräfte bei den Demonstrationen rund um den 40. Jahrestag der Republikgründung landesweit 3456 Personen "zugeführt" worden. Gegen 630 Personen sei ermittelt worden, 296 seien kurzzeitig in Haft gewesen. Zahlreiche Festgenommene seien in Polizeigewahrsam verprügelt oder anders misshandelt worden. 480 Anzeigen wegen Misshandlungen und Beleidigungen würden derzeit überprüft.

Doch politische Konflikte können "nicht mit dem Strafrecht gelöst" werden, bedauert Wendland. Dafür, dass "nicht rechtzeitig genug erkannt" zu haben, übernimmt er die Verantwortung, "auch im Sinne der Staatsanwälte, die unter meiner Leitung gearbeitet haben." Sie werde ihm auch "nicht dadurch leichter, dass nach wenigen Tagen Maßnahmen eingeleitet wurden, die Schaden und Leid begrenzten."

Die noch immer von Altkadern dominierte Volkskammer verzichtet in der anschließenden, zum Teil sehr emotional geführten Debatte darauf, hart nachzufragen oder die Nöte der Betroffenen zur Sprache zu bringen. Die in einigen Städten eingesetzten unabhängigen Untersuchungsausschüsse zu den Übergriffen zeigen sich unter diesem Aspekt deutlich sensibler. Die Abgeordneten der Volkskammer bescheinigen Wendland dagegen gute Arbeit. Manche sorgen sich vor allem um Angriffe auf Familienangehörige der alten Führung und höherer SED-Funktionäre.

Sorge über Währungsverfall

In der Volkskammer wird die Regierung Modrow en bloc bestätigt. Es gibt fünf Gegenstimmen und sechs Enthaltungen. Anschließend wird sie im Staatsrat von Staatschef Egon Krenz mit einem einfachen Handschlag vereidigt. Auch wenn erstmals eine Koalition gebildet wurde, handelt es sich nicht um eine demokratisch legitimierte Regierung. Sie ist nicht aus freien Wahlen hervorgegangen. Neue politische Kräfte sind nicht vertreten. Die Regierung Modrow ist eine Übergangsregierung.

Mit Sorge nehmen Regierung und Parlament den rapiden Verfall der Ostwährung zur Kenntnis. Als Sofortmaßnahme sollen die Zoll-Kontrollen wieder verschärft werden.

Des Weiteren beschließt das Parlament die Einsetzung verschiedener Ausschüsse. Sie sollen unter anderem die weit verbreitete Korruption untersuchen, ein neues Wahlgesetz vorbereiten und die Änderung der Verfassung vorbereiten. Dabei geht es vor allem um die Streichung des festgeschriebenen Machtmonopols der SED in Artikel 1 der Verfassung.

Kompliziert gestaltet sich das Arbeitsverhältnis von Bundeskanzler Kohl zur britischen Premierministerin Margaret Thatcher. Die "Eiserne Lady" genannte Tory-Politikerin erlebt als junge Frau die deutschen Bombenangriffe auf England, was zeitlebens zu einer reservierten Haltung gegenüber Deutschland führt. Einer Wiedervereinigung Deutschlands steht sie ausgesprochen ablehnend gegenüber. Ihren Widerstand wird sie schließlich erst nach Anerkennung der deutschen Nachkriegsgrenzen im Zwei-Plus-Vier-Vertrag aufgeben.
Kompliziert gestaltet sich das Arbeitsverhältnis von Bundeskanzler Kohl zur britischen Premierministerin Margaret Thatcher. Die "Eiserne Lady" genannte Tory-Politikerin erlebt als junge Frau die deutschen Bombenangriffe auf England, was zeitlebens zu einer reservierten Haltung gegenüber Deutschland führt. Einer Wiedervereinigung Deutschlands steht sie ausgesprochen ablehnend gegenüber. Ihren Widerstand wird sie schließlich erst nach Anerkennung der deutschen Nachkriegsgrenzen im Zwei-Plus-Vier-Vertrag aufgeben.
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Massenansturm an den Grenzen

Millionen DDR-Bürger sind unterwegs, um nahe gelegene Städte in der Bundesrepublik oder West-Berlin zu besuchen. Weit mehr als eine Million Menschen passiert heute die Grenze. Allein West-Berlin sieht 700.000 Besucher. Mittlerweile haben zehn Millionen der knapp 16 Millionen DDR-Bürger ein Visum für die Reise in den Westen erhalten. Auf den Bahnhöfen im Osten kommt es zu tumultartigen Szenen. Die von der Reichsbahn eingesetzten Sonderzüge sind bis zu 400 Prozent überbelegt. An den Autobahnübergängen kommt es trotz zügiger Abfertigung zu Staus, die bis zu 80 Kilometer Länge erreichen. Neben dem Neuen lockt vor allem der Konsum. Vielen reichen die 100 DM Begrüßungsgeld und die auf 15 DM pro Person und Jahr begrenzte Umtauschmöglichkeit in der DDR nicht aus. Die übervollen Schaufenster im Westen sind doch zu verlockend. Und so landen Unsummen von DDR-Mark bei anhaltend schlechten Kursen von 12:1 bis 20:1 in den westdeutschen Wechselstuben und heizen den Verfall der Ostwährung noch an. Ministerpräsident Modrow sieht sich daher genötigt, seine Landsleute zu warnen, ihr hart verdientes Geld "im Westen nicht wegzuwerfen."

Luxusbauten für Bonzenkinder

Der VEB Spezialbau Potsdam ist eigentlich für die Erhaltung der Bausubstanz für die sowjetischen Truppen zuständig. In strikter Geheimhaltung geübt, ist er in letzter Zeit aber auch häufiger für andere Aufträge herangezogen worden. Wie die Berliner Zeitung recherchiert hat, musste er für die Führung der DDR und ihre Angehörigen Luxusbauten errichten.

In den "noblen Einfamilienhäusern mit sehr großer Wohnfläche" wohnen unter anderem die Kinder des früheren Volkskammer-Präsidenten Horst Sindermann oder des ZK-Wirtschaftssekretärs Günter Mittag. Ob "kanadisches Holz, italienisches Fußbodenmosaik, westdeutsche Sanitärkeramik", wird ein ehemaliger Mitarbeiter zitiert, " wir bekamen einfach alles, woher auch immer." Die Betriebsleitung lehnt eine Stellungnahme unter Hinweis auf "absolute Geheimhaltung" ab.

Im Zentralorgan der Ost-CDU Neue Zeit wird vor derartiger Berichterstattung gewarnt, da sie Formen der Selbstjustiz provozieren könnte. Nach Anschuldigungen, Verdächtigungen und Unterstellungen sollten die Bürger die betreffenden Personen nicht wie ein "Wolfsrudel" oder als "Hilfs-Sheriff mit locker sitzenden Colt" zur Verantwortung ziehen. Dafür seien ordentliche Gerichte oder demokratisch gewählte Kommissionen zuständig. Die Menschen sind für den Rechtsstaat auf die Straße gegangen - "nun sollten wir uns seiner bedienen."

17. November 1989: DDR-Künstler wollen Mauer bemalen.

DDR-Jugend will nicht im Kapitalismus leben

Dem neuesten ZDF-Politbarometer zufolge spricht sich eine knappe Mehrheit von 55 Prozent der Bundesbürger für die Bildung eines gemeinsamen deutschen Staates aus. Dagegen sind 45 Prozent der Ansicht, es sollten weiterhin zwei voneinander unabhängige deutsche Staaten existieren. Dies korrespondiert zumindest teilweise mit den Vorstellungen der jungen DDR-Bürger. Auf die Frage des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig, welchen Entwicklungsweg das Land in Zukunft nehmen solle, bevorzugen 86 Prozent einen reformierten Sozialismus. Lediglich fünf Prozent wünschen einen kapitalistischen Weg. Weitere neun Prozent können sich einen Dritten Weg vorstellen.

Interessante Ergebnisse bringt auch die Sonntagsfrage. Die bislang dominierende SED würde zwar stärkste Kraft in der Volkskammer bleiben, müsste aber bei einem Stimmenanteil von nur noch 33 Prozent empfindliche Verluste hinnehmen und würde vermutlich ohne Partner in der Opposition landen. Zweitstärkste Kraft wären die Liberaldemokraten mit 21 Prozent, die von ihrem frühzeitigen Umschwenken auf einen Reformkurs profitieren würden. Auf dem dritten Platz würde das Neue Forum folgen (17 %), das damit seine führende Rolle unter den neuen Gruppierungen unterstreicht. Die CDU würde bei zehn Prozent landen, abgeschlagen die Bauernpartei (5 %) und die NDPD (3 %) folgen. Auf alle Anderen würden elf Prozent entfallen.

Noch sind Volkskammerneuwahlen keine beschlossene Sache, nach Darstellung der SED-Koalitionspartner in der Volkskammer scheinen sie aber nur noch eine Frage der Zeit zu sein.

Der Massenansturm von DDR-Bürgern setzt schon in den frühen Morgenstunden ein. An den Autobahnübergängen bilden sich zum Teil kilometerlange Staus. Es locken das Neue, das Begrüßungsgeld und die für die Ostdeutschen noch immer märchenhafte Konsumwelt des Westens. An den nächsten beiden Tagen werden bis zu zwei Millionen Besucher aus der DDR erwartet.
Der Massenansturm von DDR-Bürgern setzt schon in den frühen Morgenstunden ein. An den Autobahnübergängen bilden sich zum Teil kilometerlange Staus. Es locken das Neue, das Begrüßungsgeld und die für die Ostdeutschen noch immer märchenhafte Konsumwelt des Westens. An den nächsten beiden Tagen werden bis zu zwei Millionen Besucher aus der DDR erwartet.
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DDR-Studenten verlangen Mitbestimmung

In Ost-Berlin findet am Abend eine Studentendemonstration statt. Mehr als 10.000 Studenten fordern "Tiefenreinigung statt Wiedervereinigung." Der obligatorische Marxismus-Leninismus-Unterricht soll abgeschafft werden. Die mittlerweile an vielen Universitäten und Hochschulen gebildeten unabhängigen Studentenräte sollen anerkannt und den Studenten umfassende Mitbestimmung in allen Hochschulangelegenheiten gewährt werden.

In Greifswald entschuldigt sich eine Studentin öffentlich bei ihren chinesischen Kommilitonen für das Schweigen der Universitäten und der Studentenschaft nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.

Großdemonstration in Prag

Die Ereignisse in der DDR beflügeln auch den Wunsch der tschechoslowakischen Bevölkerung nach Reformen. Seit dem Sturz des Prager Frühlings 1968 durch Truppen des Warschauer Pakts regiert in der CSSR ein besonders schwerfälliges kommunistisches Regime. Die Beton-Sozialisten auf dem Hradschin nehmen mit Staunen den Verfall der Macht der ostdeutschen Genossen zur Kenntnis.

Der Funke der Freiheitsbewegung ist indes längst auf die eigene Bevölkerung übergetreten. Nicht nur in den schon seit längerem mit nichtsozialistischen Praktiken experimentierenden Nachbarländern Polen und Ungarn gewinnen die Menschen eine ganz neue Denk- und Bewegungsfreiheit. Ausgerechnet in der DDR, die trotz ihres vergleichsweise hohen Lebensstandards eines der am strammsten marschierenden Mitglieder der sozialistischen Gemeinschaft war, haben die Menschen auf friedliche Weise die Regierung in die Knie gezwungen und die auf lange Sicht unverrückbar erscheinende Grenze aufgebrochen.

Nun fordern auch Tschechen und Slowaken weitere politische Reformen. In Prag demonstrieren am Abend etwa 30.000 Menschen. Noch wird auch diese Kundgebung gewaltsam aufgelöst. Doch lange wird sich das Regime nicht mehr halten.

Ladenschlusszeit wird vielerorts aufgehoben

Angesichts des erneuten Massenansturms von DDR-Bürgern am zweiten Wochenende nach dem Fall der Mauer, plant die Bundesregierung, den innerdeutschen Reiseverkehr neu zu regeln. Kanzleramtsminister Seiters, der am Montag (20.11.) zu Gesprächen in die DDR reist, soll unter anderem die erleichterte Einreise von Westdeutschen in die DDR regeln. Bislang benötigen Bürger aus der BRD und aus West-Berlin ein Einreisevisum und müssen weiterhin 25 DM zwangsweise umtauschen. Die Ausstattung der Ostdeutschen mit Devisen soll verbessert, das Begrüßungsgeld neu geregelt werden.

Währenddessen sind viele westdeutsche Kommunen dazu übergegangen, die Ladenschlusszeiten am Wochenende auszuweiten oder gar ganz aufzuheben. An den nächsten beiden Tagen werden bis zu zwei Millionen konsumfreudige DDR-Bürger erwartet. In West-Berlin bilden sich lange Warteschlangen in den Billig-Einkaufsketten. DDR-Mark überschwemmen derweil die Wechselstuben der Stadt. Der Umtauschkurs fällt zwischenzeitlich bis auf 20:1.

Die von der Reichsbahn eingesetzten Sonderzüge sind zum Bersten überfüllt. An den innerdeutschen Grenzübergängen staut sich der Verkehr auf bis zu 70 Kilometern.

DDR geht auf EG zu

Die DDR sucht die Zusammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) zu vertiefen. Man strebt dabei nicht nur engere Handelsbeziehungen an. Auch Verträge über breit gefächerte wirtschaftliche Kooperationen werden angestrebt.

DDR-Künstler wollen die Mauer bemalen

Die Mitglieder des Verbandes Bildender Künstler beschließen mit Unterstützung des Kulturministeriums, die Berliner Mauer nun auch auf DDR-Seite großflächig zu bemalen. Bislang waren derartige Aktionen im gesperrten Grenzgebiet nicht möglich. Nach einem ersten Versuch am Potsdamer Platz wurde der Beton nachts von den Grenztruppen grau überstrichen. Schon bald werden zahlreiche Künstler aus aller Welt beginnen, die Mauer künstlerisch aufzuwerten - am prominentesten und bis heute erhalten am Teilstück in der Mühlenstraße, der mittlerweile weltberühmten East Side Gallery.

Der Grenzübergang in der Invalidenstraße (hier am 10. November) ist für den Massenansturm von DDR-Bürgern zu klein. Seit dem Morgen des 17. November wird er deutlich verbreitert. Dafür müssen auch die Mauern links und rechts des Durchgangs weichen.
Der Grenzübergang in der Invalidenstraße (hier am 10. November) ist für den Massenansturm von DDR-Bürgern zu klein. Seit dem Morgen des 17. November wird er deutlich verbreitert. Dafür müssen auch die Mauern links und rechts des Durchgangs weichen.
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Zahlreiche Vereinigungen gegründet

Rasant verändert sich das gesellschaftliche Antlitz der DDR. Wie das Innenministerium in einem Zwischenbericht feststellt, bestehen mittlerweile 154 Vereinigungen im Land. Für weitere 37 beabsichtigte Gründungen liegen bereits Anträge vor.

Derweil muss Kurt Tiedke, Rektor der Parteihochschule des ZK der SED - dem bisherigen Zentrum des altstalinistischen Denkens in der DDR - zurücktreten. Auch die Abschaffung oder zumindest generelle Umstrukturierung der Einrichtung wird gefordert.

Koalitionspartner fordern Neuwahlen

Im Anschluss an Modrows Regierungserklärung findet am frühen Nachmittag in der Volkskammer eine Aussprache zum Regierungsprogramm statt. Wolfgang Herger erklärt als Fraktionssprecher der SED, man werde künftig die Trennung von Partei und Staat akzeptieren. Herger verspricht, dass sich weder Politbüro noch ZK der SED in die Regierungsarbeit einmischen werden. Manfred Gerlach, Vorsitzender der nun eigenständig mitregierenden LDPD, macht deutlich, dass die Liberaldemokraten trotz Regierungsbeteiligung die Durchführung allgemeiner, freier und geheimer Wahlen im nächsten Jahr anstrebt.

Deutsch-deutsche Kooperation als Teil einer neuen internationalen Ordnung

In der überregionalen Wochenzeitschrift Die Zeit beschäftigt sich Chefredakteur Theo Sommer mit dem deutsch-deutschen Verhältnis. Sollten in der DDR Reformen gelingen, ein Mehrparteiensystem etabliert und die Wirtschaft entkalkt werden und die Herrschaft des Rechts unbezweifelbar sein, würde die DDR der BRD gleichen, "wiewohl ein paar Zoll nach links versetzt." Eine Wiedervereinigung müsse dann nicht automatisch folgen.

Die Idee von Günter Gaus, nach der sich eine deutsch-deutsche Sachkonföderation in einem größeren westeuropäisch-osteuropäischen Kooperationsverbund eingliedern würde, der wiederum Teil einer amerikanisch-sowjetischen Kooperation sei, wird auch in der DDR von Vielen aufgegriffen. Danach würden die beiden deutschen Staaten in den Bereichen Umwelt, Verkehr, Energie und Wirtschaft gemeinsam agieren als ein Art funktionale Einheit bei fortdauernder Teilung. Dieser Gedanke wird zum außenpolitischen Leitmotiv der Regierung Modrow.

Sorge vor Ausverkauf

In der Presse findet derweil eine rege Auseinandersetzung über die Frage statt, wie Wirtschaft und Währung der DDR reformiert werden sollen. Im LDPD-Organ Der Morgen schlägt ein Vertreter des Akademieinstituts für Wirtschaftswissenschaften eine Währungsreform als unverzichtbaren Bestandteil der Wirtschaftsreformen vor. Als Ergebnis müsse eine "neue, frei konvertierbare Mark der DDR mit einem stabilen Wechselkurs zu den westeuropäischen Leitwährungen" anvisiert werden. Diesem Gedanken schließt sich auch die designierte Wirtschaftsministerin an - Prof. Dr. Christa Luft (SED) amtierte zuvor als Rektorin der Hochschule für Ökonomie Berlin.

Die Konvertibilität der DDR-Markt lehnt der Nestor der DDR-Wirtschaftswissenschaften Jürgen Kuzcynski in der Wirtschaftswoche dagegen ab. Die überstürzte Grenzöffnung habe für die Wirtschaft der DDR gefährliche Folgen. Der unkontrollierte Tausch von DDR-Mark in Westgeld könne ganz real zum Ausverkauf der DDR führen. Vor der Einführung einer konvertiblen Währung müsse man "erst ein neues wissenschaftlich-technisches Niveau erreichen." Unter den derzeitigen Umständen hat Kuzcynski aber auch keine Idee, wie man dies umsetzen könne. Er sei "in Sorge um die DDR."

Auch der 1979 ausgebürgerte SED-Reformer Rudolf Bahro hofft in der taz, dass der Teil Deutschlands, der "eine demokratisch-politische Revolution zustande gebracht hat, nicht gleich aufgesogen wird von dem ökonomisch fürchterlich überlegenen und zugleich selbstmörderischen westlichen System."

Bahro hat 1977 mit "Die Alternative", einer kritischen Analyse des real existierenden Sozialismus, vor allem im Westen für Aufsehen gesorgt. Wegen „landesverräterischer Sammlung von Nachrichten“ und „Geheimnisverrats“ zu acht Jahren Haft verurteilt, wird Bahro nach internationalen Protest- und Solidaritätsbekundungen freigelassen. In der BRD engagiert er sich auf dem linken Flügel der Grünen.

In diesen Tagen kündigt er seine Rückkehr in die DDR an, um die er ernsthaft besorgt ist. Die "Autonomie des politischen Prozesses" müsse erhalten werden. Bahro hält es für "absurd, in dem Augenblick, wo die DDR endlich volkseigen wird," ihren Ausverkauf bilanzieren zu müssen.

Modrow kündigt radikale Reformen an

Mit Spannung wird die Regierungserklärung des neuen Ministerpräsidenten Hans Modrow erwartet. Ist eine neue Politik vor Neuwahlen überhaupt möglich? In der Volkskammer kündigt Modrow am Vormittag weitreichende Reformen an. Man wolle die zentrale Planung der Wirtschaft abbauen und die Zusammenarbeit mit dem Westen vertiefen.

Modrow erklärt, die alte Staatsführung habe die DDR in eine tiefe Krise geführt. Sie sei nur durch radikale Reformen zu überwinden. Modrow bittet um Vertrauen. Mit Ehrlichkeit und Kompetenz wolle die Regierung dafür sorgen, dass der Geist der Erneuerung in nahezu alle Lebensbereiche einzieht. Der Reformprozess, das stellt der Regierungschef klar, sei unumkehrbar.

Ein neues Wahl-, Medien- und Reisegesetz werden angekündigt. Das Strafrecht wird reformiert, ein ziviler Wehrersatzdienst eingeführt.

Ihr Hauptaugenmerk wird die Regierung aber der Sanierung der maroden Volkswirtschaft widmen müssen. Dies soll auch mit der Einführung marktwirtschaftlicher Elemente erreicht werden. Die nach wie vor dominierende Planwirtschaft soll entbürokratisiert, aber nicht abgeschafft werden. In diesem Zusammenhang soll eine Vertragsgemeinschaft mit der Bundesrepublik geschaffen werden.

Einen Volkswirtschaftsplan und einen Haushalt aufzustellen, ist gegenwärtig nicht möglich Dazu müsse die Regierung erst Einnahmen und Ausgaben realistisch durchrechnen.

Die Souveränität und Eigenständigkeit der DDR aber, auch das macht Modrow klar, bleibt unantastbar.

Anschließend stellt Modrow sein neues Kabinett vor. Ihm gehören 28 Minister an - statt wie bisher 44 - von denen 17 von der SED kommen und elf von den Koalitionspartnern. Vier Ministerien gehen an die LDPD, drei an die CDU. Mit je zwei Ministern sind die NDPD und die Bauernpartei vertreten. Neun Minister dienten schon in der alten Regierung. Das bei der Bevölkerung verhasste Ministerium für Staatssicherheit wird aufgelöst und durch ein kleineres Amt für Nationale Sicherheit ersetzt. Die neue Regierung soll sich am Samstag (18.11.) der Bestätigung durch die Volkskammer stellen.

Besucheransturm setzt ein

Der für das Wochenende erwartete Besucheransturm aus der DDR setzt in den Morgenstunden ein. Bis zum frühen Nachmittag sind schon 400.000 Ostdeutsche in das Bundesgebiet und nach West-Berlin gereist. Zur Feierabendzeit, vor allem aber für morgen wird eine deutliche Zunahme des Reiseverkehrs erwartet. Allein in West-Berlin rechnet man mit zwei Millionen Besuchern aus der DDR. Zahlreiche neue Grenzübergänge sind inzwischen an der innerdeutschen Grenze und an der Berliner Mauer geöffnet worden, alte Übergänge werden ausgebaut. So wird zum Beispiel seit dem Morgen der Grenzübergang in der Invalidenstraße verbreitert.

Markus Wolf rechnet mit Prozess gegen Honecker

Der ehemalige Chef der DDR-Auslandsspionage Markus Wolf rechnet in einem Interview mit der BILD-Zeitung damit, dass der frühere SED-Generalsekretär Erich Honecker und der abgesetzte ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen Günter Mittag als Hauptverantwortliche für die Krise der DDR schon bald vor Gericht gestellt werden. Dies sei schon notwendig, um das Vertrauen des Volkes zurückgewinnen zu können. Nach einer Verurteilung rechnet Wolf aber mit der Aussetzung der Strafen zur Bewährung.

16. November 1989: Bundestag will sich nicht einmischen.

Koalitionsgespräche

Im Ost-Berliner Staatsratsgebäude finden den ganzen Tag bis in die späten Abendstunden Verhandlungen zur Regierungsbildung statt. Die Regierung Modrow soll von  44 auf 27 Minister verkleinert werden und als Koalition mit anderen Parteien ihre Arbeit aufnehmen.

Hat sich das Kabinett bisher als ein rein wirtschaftsleitendes Organ begriffen – etwa 20 Ministerien sind allein für die Industriesparten zuständig – bestehen die als Koalitionspartner vorgesehenen Blockparteien auf die Ausrichtung der Regierung als ein auch politisch führendes Instrument. Ihre Regierungsbeteiligung machen sie auch von der Änderung des Artikels 1 der DDR-Verfassung abhängig, der den Führungsanspruch der SED festlegt.

In den Verhandlungen kristallisieren sich unterschiedliche Verhandlungspositionen zwischen Generalsekretär Egon Krenz und Ministerpräsident Hans Modrow heraus. Während Modrow auf eine deutliche Liberalisierung setzt, die auf möglichst breite Schultern verteilt werden soll, will Krenz den Führungsanspruch der SED auch personell durchsetzen. 

Die neuen Koalitionspartner der Partei bestehen aber auch auf die Besetzung strukturbestimmender Ministerien. Schließlich einigt man sich auf elf Ministerposten, die nicht mehr von der SED bekleidet werden.

FDJ demonstriert gegen SED-Führung

Am Abend demonstriert die Basis der Freien Deutschen Jugend im Lustgarten von Ost-Berlin gegen ihre eigene Führung und die der SED.

Havemann und Bloch rehabilitiert

In der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften werden die ehemaligen Akademie-Mitglieder Ernst Bloch und Robert Havemann rehabilitiert.

Der Neomarxist Bloch wurde nach seiner Kritik an der Niederschlagung des Volksaufstands in Ungarn 1956 als Professor an der Universität Leipzig zwangsemeritiert und blieb nach dem Bau der Mauer 1961 im Westen.

Robert Havemann, Direktor des Instituts für Physikalische Chemie an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, gehörte zu den bekanntesten Regimekritikern in der DDR. Der überzeugte Kommunist war nach einem kritischen Zeitungsinterview in den West-Medien 1964 aus der SED ausgeschlossen. Sein Lehrauftrag wurde ihm entzogen. Jahrelang unter Hausarrest gestellt, wurde er rund um die Uhr von der Stasi überwacht.

Weder Bloch noch Havemann erleben ihre Rehabilitierung noch. Sie sind bereits vor Jahren verstorben.

Moskau hofft weiter auf Krenz

SED-Generalsekretär Egon Krenz erhält durch die sowjetische Botschaft einige "Ratschläge" des ZK der KPdSU, die auf fortgesetztes Betondenken in Moskau verweisen. 

Krenz möge die emotionale Hochstimmung nach der Öffnung der Grenze zu einer Fernsehansprache nutzen, um "unter der Bevölkerung die Vorstellung von Ihnen als einer Person zu verbreiten, die das Volk eint und auf die man sich in einer schwierigen Situation verlassen kann." 

Seine Rede solle den westdeutschen Politikern unzweideutig klar machen, "dass jeder Versuch, die entstandenen Schwierigkeiten auszunutzen oder Ihnen Forderungen und 'Ratschläge' im Sinne von Schritten zur Wiedervereinigung Deutschlands oder zur Revision der territorialen Ordnung in Europa aufzudrängen, absolut zum Scheitern verurteilt sind."

Bundestag will sich in DDR-Reformprozess nicht einmischen

Im Bonner Bundestag bekennen sich am Vormittag alle Bundestagsfraktionen zur Nichteinmischung in die Politik der DDR. Man werde die Reformen akzeptieren, auch wenn sich die Ostdeutschen für die weitere Existenz zweier deutscher Staaten und gegen deren Vereinigung entscheiden sollten.

Nach allgemeinem Tenor sollen die Landsleute im Osten selbst über ihre künftige Staats- und Gesellschaftsform entscheiden. Die Bürger der DDR hätten keine Belehrungen nötig – eine Wiedervereinigung soll ihnen nicht aufgedrängt werden. Hilfe wird der DDR auch bei jenen Problemen angeboten, die durch die Flüchtlingswelle kurzfristig entstanden sind.

Alle Abgeordneten sind sich darin einig, dass echte Reformen in der DDR wirtschaftlich und finanziell unterstützt werden sollen. Umstritten bleibt allerdings, ob die Hilfestellungen der Bundesrepublik vom gesellschaftlichen Wandel in der DDR abhängig gemacht werden sollen.

Bundeskanzler Kohl (CDU) betont in seiner Regierungserklärung: „Wer die Landsleute nicht bevormunden möchte, sollte ihnen auch nicht einreden, das Beste sei die staatliche Teilung unseres Vaterlandes.“

Der frühere Bundeskanzler und Regierende Bürgermeister von West-Berlin zur Zeit des Mauerbaus, Willy Brandt, sieht für die SPD die Einheit Deutschlands von unten wachsen.

Viel Respekt ernten die DDR-Bürger von den Bundestagsabgeordneten. Sie seien dabei, eine neue politische Kultur zu schaffen. Antje Vollmer von den Grünen schlägt die Abhaltung gleichzeitig stattfindender Parlamentswahlen in der BRD und der DDR vor. Sie könnten im Dezember 1990 stattfinden.

Peking skeptisch über Mauerfall

Auf seinem Staatsbesuch in Pakistan äußert sich Chinas Premierminister Li Peng skeptisch zu den Entwicklungen in der DDR. Peking fragt sich, ob die jüngsten Veränderungen in den sozialistischen Staaten Osteuropas und vor allem in der DDR zu Frieden und Stabilität in der Region und in der Welt beitragen werden. Für ein Urteil sei es aber noch zu früh. Grundsätzlich bleibe China dabei, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen.

Erst im Sommer hat Peking eine Demokratiebewegung im eigenen Land auf ganz andere Weise aufgelöst. In der so genannte „chinesische Lösung“ beginnt die Volksbefreiungsarmee in der Nacht vom 2. auf den 3. Juni 1989 brutal die friedlichen Demonstranten auf dem Platz des himmlischen Friedens, dem Tian’anmen-Platz, auseinander zu treiben. Bei den folgenden blutigen Unruhen verlieren geschätzt mehrere tausend Menschen ihr Leben.

Egon Krenz, seit kurzem Staats- und Parteichef der DDR, hatte dieses Vorgehen bei einem Besuch in China im Juni ausdrücklich gelobt. Es sei „etwas getan worden, um die Ordnung wieder herzustellen.“

Zu den Politikern und Funktionären, die in Folge der Ereignisse mit Besuchen die engen Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik China unterstreichen, gehört neben Günter Schabowski auch der neue Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow.

Reichsbahn stellt mehr Züge

Für das Wochenende (18. Und 19.11) wird ein erneutes starkes Anschwellen des Reiseverkehrs erwartet. Das DDR-Verkehrsministerium stellt auf einer Pressekonferenz Sonderfahrpläne der Deutschen Reichsbahn zur Regelung des freien Grenzverkehrs in Richtung Westen vor.

Im Fernverkehr werden 24 und im grenznahen Bereich 20 zusätzliche Züge eingesetzt. Je eine Verbindung wurde unter anderem von Berlin nach Hamburg, Köln,  Frankfurt am Main und München geschaffen.

DDR-Mark wird nicht abgewertet

Noch-Finanzminister Ernst Höfner versucht die Gemüter zu beruhigen. Im SED-Zentralorgan Neues Deutschland erklärt er, es sei keine Währungsreform vorgesehen. Die Sparer müssten keine Verluste fürchten. Die in der Volkskammer besprochenen Kreditverbindlichkeiten werde der Staat tragen.

Gründung liberaldemokratischen Jugendorganisation

Die bislang in der Jugendpolitik dominierende FDJ bekommt weitere Konkurrenz. In der LDPD-Zeitung Der Morgen wird der Gründungsaufruf einer neuen Jugendorganisation „LILA“ veröffentlicht, die liberaldemokratisch organisiert sein soll.

Der Aufruf spricht sich für eine Jugendpolitik von unten, Antifaschismus und die freie Entfaltung der Individualität aus. „LILA“ soll sich für eine offene Weltsicht und einen „gesunden Biotop Europa“ einsetzen.

15. November 1989: Gorbatschow warnt vor Wiedervereinigung.

DDR-Fußballer verlieren gegen Österreich

In Wien unterliegt am Abend die Nationalmannschaft der DDR im Qualifikationsspiel zur Fußballweltmeisterschaft 1990 in Italien der Mannschaft aus Österreich 0:3.

Gerüchte um Mauerdurchbruch am Brandenburger Tor

Seit gestern häufen sich Berichte über einen baldigen Mauerdurchbruch am Brandenburger Tor. Fieberhaft warten Nachrichtenteams aus aller Welt auf das erste Bild. Das symbolträchtigste Gebäude der deutschen Teilung bleibt aber vorerst verschlossen.

Demokratisierungsprozess in der DDR

In der DDR nimmt die Diskussion über den Demokratisierungsprozess weiter Form an. Auf der Volkskammersitzung am Freitag (17.11.) will die Fraktion der Liberaldemokraten eine Verfassungsänderung beantragen. Das Machtmonopol der SED soll aus dem Artikel 1 der Verfassung gestrichen werden. Dafür sprechen sich immer mehr Abgeordnete der Volkskammer aus. In der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin diskutieren Vertreter der Evangelischen Kirche und des Ministerium für Volksbildung erstmals über die DDR-Bildungspolitik. Derweil beschließt die DDR-Regierung die Auflösung der Staatsjagdsondergebiete für führende Vertreter der Partei.

Internationaler Diskurs zur möglichen deutschen Einheit

Frankreichs Außenminister Roland Dumas sieht die deutsche Wiedervereinigung nicht auf der aktuellen Tagesordnung. Den Fall der Mauer bezeichnet er aber als das "glücklichste Symbol der Geschichte Europas in den letzten 40 Jahren.

Der ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger erwartet dagegen eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten in den nächsten drei bis vier Jahren. Frei Wahlen in der DDR würden ein vergleichbares Parteienspektrum wie in der Bundesrepublik etablieren. Auch die beiden deutschen Volkswirtschaften würden sich angleichen. Angesichts dessen hält er eine Wiedervereinigung für "unvermeidlich."

Gorbatschow warnt vor Diskussion um deutsche Wiedervereinigung

Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow warnst in einem eindringlichen Appell vor jeglicher Propagierung der in seinen Augen "unaktuellen Frage" der deutschen Einheit. Von der Europäischen Gemeinschaft (EG) fordert er, auf ihrem Gipfel am Samstag (18.11.) in Paris die Unverrückbarkeit der deutschen grenzen festzuschreiben. Die sowjetische Politik sieht ihre Interessen zunehmend von den Ereignissen in Deutschland berührt.

14. November 1989: Grenzöffnung offenbart auch Probleme.

Der Bundestag in Bonn. Seit 1986 tagt das deutsche Parlament im Gebäude des ehemaligen Wasserwerkes. Am Gebäudekomplex des Bundeshauses wird der alte Plenarsaal, das baufällig gewordene ehemalige Turnhallengebäude, abgerissen und anschließend durch einen Neubau ersetzt. Erst 1992 wird er in den neuen Plenarsaal in Bonn ziehen. Ab Sommer 1999 bezieht er dann seinen Platz im Berliner Reichstagsgebäude.
Der Bundestag in Bonn. Seit 1986 tagt das deutsche Parlament im Gebäude des ehemaligen Wasserwerkes. Am Gebäudekomplex des Bundeshauses wird der alte Plenarsaal, das baufällig gewordene ehemalige Turnhallengebäude, abgerissen und anschließend durch einen Neubau ersetzt. Erst 1992 wird er in den neuen Plenarsaal in Bonn ziehen. Ab Sommer 1999 bezieht er dann seinen Platz im Berliner Reichstagsgebäude.
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Schabowski ist nicht mehr Berliner Bezirkschef der SED

Ohne nähere Angabe von Gründen ist der SED-Bezirkschef von Berlin Günter Schabowski von seinem Amt entbunden worden. Er bleibt aber Mitglied des Politbüros. Außerdem wird erwartet, das Schabowski eine wichtige Funktion in der neuen Regierung Modrow übernehmen wird.

Derweil laufen die Vorbereitungen für den Sonderparteitag der SED vom 15. bis 17. Dezember an. Bis zum 3. Dezember sollen die Delegierten bestimmt werden. Auf dem Parteitag wird die gesamte Führung der Partei neu gewählt. Zudem soll ein neues Parteistatut und ein neues Programm bestimmt werden.

Auch der verfassungsmäßige Führungsanspruch der Partei steht zur Disposition. So hat sich der neue Volkskammerpräsident Günther Maleuda für die Aufgabe des Machtmonopols der SED ausgesprochen.

DDR erwartet Rückkehrer

Immer mehr vor kurzem in die BRD übergesiedelte DDR-Bürger geben an, nach den neuesten Ereignissen in ihre Heimat zurückkehren zu wollen. Das Rote Kreuz erwartet bis zu 10.000 Rückkehrer in den nächsten Tagen. Man werde Aufnahmelager in der DDR einrichten, in denen sich die Rückkehrer aber nur zwei bis drei Tage aufhalten müssen.

DDR-Bürgerrechtlerin geehrt

Bärbel Bohley, Gründungsmitglied des Neuen Forum, erhält in der Akademie der Künste in West-Berlin den Karl-Hofer-Preis.

Marxismus-Leninismus soll ernsthaft diskutiert werden.

Die marxistisch-leninistische Theorie soll an den Universitäten der DDR künftig nicht mehr als Pflichtfach gelehrt werden. Statt Instrument einer herrschenden Partei zu sein, soll sie Grundlage einer breiten Gesellschaftsdiskussion werden. Das fordern 46 Hochschulen und Universitäten in einem offenen Brief an die Regierung.

Unterschiedliche Gedanken zur Wende

Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer bezeichnet die jüngsten Veränderungen in der DDR gegenüber der Wochenzeitschrift Sonntag als eine einmalige historische Chance für die Demokratie, für die Demokratie in Europa überhaupt. Dass sich Politiker "auf die Bühne stellen und mit Hunderttausenden reden und nicht Reden halten", zeuge seiner Ansicht nach von einer ungeheuren politischen Kultur, die im Land vorhanden sei.

In der taz bescheinigt Pfarrer Friedrich Schorlemmer vom Demokratischen Aufbruch der SED ein intellektuelles Potential, über das man nur staunen könne. Sie sei grundsätzlich erneuerungsfähig. Wie sie aber nach 40 Jahren das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen solle, sei eine ganz andere Frage. Zuviel wäre geschehen, wie gerade in diesen Tagen immer deutlicher werde.

Die Neue Berliner Illustrierte konstatiert dagegen unter der Überschrift "Wandlitzer Perspektiven", dass die alte Garde mit ihrer als "unbeirrt" bezeichneten Politik den Blick für die Realitäten im Land verlor und ihr so das Volk abhanden gekommen sei.

Friedensforscher bleiben skeptisch

Das Stockholmer Institut für Friedensforschung SIPRI empfiehlt mit Blick auf das Tempo der politischen Annäherung beider deutscher Staaten Realismus statt Spekulation. In "absehbarer Zeit" sei weder mit einem entmilitarisierten Deutschland noch mit einer Auflösung der Blöcke als Folge des Wandels in der DDR zu rechnen.

Ehrendoktor für Stolpe

Der Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche Manfred Stolpe erhält an der Universität Greifswald die Ehrendoktorwürde.

Scharfe Kritik am Wohnungsbauprogramm der DDR

Das Kollektiv des Lehrstuhls für Bauklimatik der Technischen Universität Dresden übt scharfe Kritik am zurückgetretenen Minister für Bauwesen Wolfgang Junker. In Anbetracht des "unübersehbaren volkswirtschaftlichen Schadens" der von ihm zu verantwortenden Baupolitik sei er vor Gericht zu stellen. Er habe "zur Zerstörung unserer Städte durch den Zerfall der vom Krieg verschonten Altbausubstanz" und damit "zum Identitätsverlust der Bürger in ihren Städten" beigetragen.

Nie sei der "Vorrang des Neubaus 'auf der grünen Wiese' vor der Reparatur eines vorhandenen Gebäudes" in Frage gestellt worden. Mit der Präferenz auf den Neubau von Wohnungen habe Junker ökonomische Grundgesetze missachtet, denn der Verfall der Altbausubstanz habe damit nie aufgewogen werden können. Mehr noch: da man "billigem Bauen" den Vorrang gab, habe sich für die Neubauten ein unvertretbar hoher Reparaturaufwand ergeben. So stehe zum Beispiel der hohe Heizenergiebedarf in keinem Verhältnis zu den Investitionseinsparungen, die durch das "billige Bauen" angestrebt worden waren.

Grenzöffnung offenbart auch Probleme

Während die Freude über die neu gewonnene Reisefreiheit der DDR-Bürger anhält - in den vergangenen fünf Tagen sind dutzende neue Grenzübergänge eröffnet worden, in Berlin allein zehn - werden auch kritische Stimmen laut. In ihrem Zentralorgan Neue Zeit warnt die Ost-CDU, im Jubel "dürften keineswegs die wirtschaftlichen Probleme außer Acht gelassen werden." Die gefüllten Regale im Westen aber auch der hohe Umtauschkurs von DDR-Mark in Westgeld sollten den Blick für die mangelnde Effizienz der eigenen Ökonomie schärfen.

Mit den offenen Grenzen entwickelt sich die DDR in ein Paradies für Schieber und Spekulanten. Franz Steinkühler, Chef der bundesdeutschen IG-Metall, warnt zudem vor einem Ausverkauf der DDR. Um zu Devisen zu kommen, könnte die DDR "alles, was nicht niet- und nagelfest ist", im Westen verkaufen. Außerdem sieht Steinkühler die Gefahr, Verleihfirmen könnten sich darauf spezialisieren, DDR-Arbeitskräfte günstig an bundesdeutsche Firmen zu vermitteln.

Währenddessen gibt es im Außenhandelsministerium der DDR ganz neue Überlegungen. Wie Staatssekretär Christian Meyer dem Pariser Wirtschaftsblatt La Tribune de l'Expansion mitteilt, schließt man den Gedanken eines Beitritts der DDR zur Europäischen Gemeinschaft langfristig nicht aus. Zuvor müssten aber andere Formen der Kooperation gefunden werden.

Lübecker Zahnärzte reagieren derweil auf den von der Ausreisewelle ausgelösten Fachkräftemangel im Osten. Sie bieten einen Notdienst für Besucher aus der DDR an.

13. November 1989: Modrow ist neuer Regierungschef.

Modrow ist neuer Regierungschef

Der bisherige 1. Sekretär der Bezirksleitung Dresden hat den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreicht. Hans Modrow wird 20:00 Uhr bei nur einer Gegenstimme zum neuen Ministerpräsidenten der DDR gewählt.

Der 1928 als Arbeitersohn in Ueckermünde geborene Modrow hat eine lange Parteikarriere hinter sich. Von 1953 bis 1961 FDJ-Sekretär von Berlin, leitet er danach die SED im Kreis Berlin-Köpenick . 1967 wird er Mitglied des ZK und ist in der SED-Bezirksleitung von Berlin für Propaganda und Agitation zuständig. In seiner Funktion als SED-Bezirkschef von Dresden gibt er sich reformfreudig und aufgeschlossen. Sein selbstbewusstes Auftreten verschafft ihm nicht nur Freunde im Zentrum der Macht.

Das Politbüro bleibt ihm bis zum Herbst 1989 verschlossen. Noch im Frühjahr hat ihn ZK-Sekretär Günter Mittag öffentlich wegen "schlechter Parteiarbeit" gerüffelt. Seinem Ruf als "Hoffnungsträger" der SED hat das eher genützt. Dabei bemüht er sich noch im Herbst, die Reformbewegung in Dresden abzuwürgen. Früher als andere Genossen hat Modrow allerdings erkannt, dass ohne beherzte Niederschlagung der Demonstrationen, die Machterosion der Partei nicht aufzuhalten ist.

Bananen! Für manchen Bundesbürger ein gewöhnungsbedürftiger Anblick - DDR-Bürger, die, nach zum Teil jahrelangem Verzicht, selbst Regale mit alltäglichsten Waren leer kaufen. Vor allem die Banane wird zum Symbol der neu gewonnenen Konsumfreude der Ostdeutschen.
Bananen! Für manchen Bundesbürger ein gewöhnungsbedürftiger Anblick - DDR-Bürger, die, nach zum Teil jahrelangem Verzicht, selbst Regale mit alltäglichsten Waren leer kaufen. Vor allem die Banane wird zum Symbol der neu gewonnenen Konsumfreude der Ostdeutschen.
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Mit Reformdialektik kann er sich erfolgreich als Alternative zum verkrusteten Machtapparat der SED stilisieren. In den nächsten Monaten wird er dennoch nur zum Verwalter des unaufhaltsamen Niedergangs der alten Machtverhältnisse in der DDR.

Nicht aufgeben, nicht zufrieden geben - eine Million Menschen demonstrieren im ganzen Land

Hunderttausende gehen auch an diesem Montagabend demonstrieren. Unter anderem in Dresden (100.000), Karl-Marx-Stadt (50.000), Cottbus (10.000), Magdeburg (10.000), Neubrandenburg(3.000), Bautzen (10.000), Heiligenstadt (9.000), Halle (8.000), Sonneberg (7.000), Apolda (5.000), Pößneck (4.000), Zwickau (3.000) und Schwerin (10.000) sprechen sie sich für freie Wahlen und eine dauerhaft verbriefte Reisefreiheit aus.

In Leipzig, wo die Demonstrationen ihren Anfang nahmen, sind auch heute wieder bis zu 300.000 Leute auf der Straße. Vier junge Leute tragen einen Sarg mit der Aufschrift "Machtanspruch der SED." Ein Transparent stellt fest: "Die Mauer hat ein Loch, aber weg muss sie doch!"

Im Vorfeld der Montagsdemo haben sich Leipziger Vertreter mehrerer Oppositionsgruppen auf eine "Koalition der Vernunft" verständigt. Ihr gehören unter anderem das Neue Forum, Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt, die SDP und einige ökologische Basisgruppen an. In einer gemeinsamen Erklärung fordern sie die Zulassung der SDP und aller basisdemokratischen Gruppen, Beteiligung an der Ausarbeitung eines Wahlgesetzes und auf dessen Basis freie Wahlen. Für ihre "politikfähigen Vertreter" wird ein Podium in den Medien gefordert. Wahlen sollen erst dann abgehalten werden, wenn die Opposition Gelegenheit hatte, sich zu profilieren. Ein Volksentscheid für Neuwahlen solle durchgeführt werden. Schließlich sprechen sie sich gegen Gewalt in Wort und Tat aus. "Schmährufe sind nicht unser politischer Umgangston!"

Auch wenn Beobachter von einer insgesamt ruhigen und entspannten Atmosphäre sprechen, werden die Töne schärfer. Der neue Volkskammerpräsident Maleuda wird als Vasall der SED beschimpft. Die Schuldigen an der Krise solle man bestrafen. Erstmals ist ein weißes Transparent zu sehen, auf dem in schwarz-rot-goldener Schrift "Deutschland einig Vaterland" zu lesen ist. Bald werden auch dementsprechende Sprechchöre zu hören sein. Und Neid macht sich breit - auf die Berliner, die - so sehen das viele hier - schon in einer wiedervereinigten Stadt leben würden. "Die Berliner haben's gut - die haben erreicht, was sie wollten", steht auf einem handgeschriebenen Zettel, der an einem Baum klebt. "Aber unser Leipzig ist immer noch kaputt!"

Mielke macht sich lächerlich

Der bisherige Minister für Staatssicherheit Erich Mielke lässt sich in der Volkskammer zu den Praktiken seiner Behörde befragen. Zuvor hat die Volkskammer einen zeitweiligen Ausschuss eingesetzt, der Fälle von Amtsmissbrauch prüfen soll. Es geht um Korruption, persönliche Bereicherung und andere "Handlungen, bei denen der Verdacht auf Gesetzesverletzungen besteht." In ihm sind alle Fraktionen mit zwei Abgeordneten vertreten.

Hans Modrow ist neuer Ministerpräsident der DDR. Der langjährige SED-Funktionär hat sich in seinem Dresdner Sprengel einen Namen als aufgeschlossener Reformpolitiker gemacht. Im In- und Ausland wird er seit längerem als "Hoffnungsträger" der SED bezeichnet. In seinen 6 Monaten als Regierungschef kann er aber nur den weiteren Verfall der Macht seiner Partei verwalten.Das Bild zeigt Modrow während seines Prozesses im Jahr 1995. Er hatte sich unter anderem wegen der Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen 1989 zu verantworten und wurde zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.
Hans Modrow ist neuer Ministerpräsident der DDR. Der langjährige SED-Funktionär hat sich in seinem Dresdner Sprengel einen Namen als aufgeschlossener Reformpolitiker gemacht. Im In- und Ausland wird er seit längerem als "Hoffnungsträger" der SED bezeichnet. In seinen 6 Monaten als Regierungschef kann er aber nur den weiteren Verfall der Macht seiner Partei verwalten.Das Bild zeigt Modrow während seines Prozesses im Jahr 1995. Er hatte sich unter anderem wegen der Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen 1989 zu verantworten und wurde zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.
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Als Mielke in seinem Statement versucht, die Arbeit der Stasi zu verharmlosen, kommt es zu lauten Unmutsäußerungen von allen Seiten im Parlament. Mit Verwunderung muss der bisher meistgefürchtete (und meistgehasste) Mann des Landes erleben, dass Abgeordnete ihm Widersprechen. Der Lächerlichkeit gibt er sich indes mit der Bemerkung, seine Mitarbeiter hätten "einen außerordentlich hohen Kontakt zu allen werktätigen Menschen" selbst preis. Nach weiteren Einwürfen ruft Mielke verzweifelt: "Aber ich liebe euch doch, ich liebe doch alle Menschen!"

Mit seinem zehnminütigen Auftritt demontiert sich der zunehmend verunsicherte Mielke selbst und trägt nachhaltig zur Demoralisierung der Mitarbeiter des MfS bei. Wie unwirklich muss den Abgeordneten die eisige Atmosphäre der Angst erscheinen, die bis vor kurzem noch von diesem kleinen, lächerlichen und Phrasen stammelndem Mann ausging.

Schon am Morgen hat ein Mielke-Stellvertreter, Generalleutnant Wolfgang Schwanitz, in dem NDPD-Organ "National Zeitung" vorsichtige Selbstkritik an der bisherigen Arbeit des MfS geübt. "Andersdenkende", verspricht er, würden in Zukunft nicht mehr verfolgt.

Eine Tonabschrift von Mielkes absurden Auftritt, können Sie hier lesen.

Mehrheit der DDR-Bürger wünscht einen demokratischen Sozialismus

Wie das Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften mitteilt, wünschen 93 Prozent der DDR-Bürger ein verändertes Wahlsystem. 87 Prozent möchten in ihrer Heimat bleiben. Immer noch 55 Prozent der Menschen halten den Aufbau eines demokratischen Sozialismus für möglich.

In der BBC erklärt Prof. Jens Reich vom Neuen Forum, die meisten Anhänger der Reformbewegung würden den Wiederaufbau eines Sozialismus befürworten, der für die Mehrheit der Bevölkerung akzeptabel wäre. Eine kapitalistische Gesellschaft sei nicht das Ziel. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten käme für ihn deshalb vorerst nicht in Frage.

"Aber ich liebe euch doch alle!" Fassungslos und sichtbar verunsichert nimmt Erich Mielke, ehemaliger Minister für Staatssicherheit, die über in hereinbrechenden Unmutsbekundungen von allen Seiten der Volkskammer entgegen. Die meist gehasste Person der DDR wurde bislang - freilich aus Furcht - von allen hofiert. Als er bei seiner Rücktrittsrede in der Volkskammer die Arbeit der Stasi verharmlost, mischt sich in die allgemeine Erleichterung der Abgeordneten auch jahrelang aufgestauter Zorn. Der zweitmächtigste Mann des Staates hat plötzlich seinen Schrecken verloren.
"Aber ich liebe euch doch alle!" Fassungslos und sichtbar verunsichert nimmt Erich Mielke, ehemaliger Minister für Staatssicherheit, die über in hereinbrechenden Unmutsbekundungen von allen Seiten der Volkskammer entgegen. Die meist gehasste Person der DDR wurde bislang - freilich aus Furcht - von allen hofiert. Als er bei seiner Rücktrittsrede in der Volkskammer die Arbeit der Stasi verharmlost, mischt sich in die allgemeine Erleichterung der Abgeordneten auch jahrelang aufgestauter Zorn. Der zweitmächtigste Mann des Staates hat plötzlich seinen Schrecken verloren.
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Estland löst sich von der Sowjetunion

Das Parlament von Estland erklärt den Anschluss an die Sowjetunion 1940 für "nichtig." Er sei auf militärischen Druck hin erfolgt. Die kleine baltische Republik - bis 1918 Teil des Russischen Reiches und danach selbstständig - ist im Hitler-Stalin-Pakt der Interessensphäre der Sowjetunion zugeschlagen worden. Massendeportationen sind die Folge. Zahlreiche Esten landen im Gulag. Während des Russlandfeldzugs von 1941 an von den Deutschen besetzt, erfolgt nach Besetzung durch die Rote Armee 1944 die erneute Eingliederung ins Sowjetreich. In einem stattlich organisierten Bevölkerungsaustausch werden vermehrt Russen in Estland angesiedelt.

Die schlechten Erfahrungen mit Russland lassen Ende der 1980er Jahre im ganzen Baltikum den Wunsch nach Unabhängigkeit wachsen. Estland führt heute auch eine neue Währung ein. Die vollständige Souveränität erlangt die kleine Nation erst 1991.

Scheidender Finanzminister: DDR ist faktisch pleite

Tumultartige Szenen spielen sich am frühen Nachmittag bei der Rücktrittsadresse von Finanzminister Ernst Höfner ab. Seit Jahren hat er den Staatshaushalt der DDR als ausgeglichen dargestellt. Nun müssen die Abgeordneten zur Kenntnis nehmen, dass man schon seit den 1970er Jahren nur durch die Aufnahme von Krediten überlebt habe.

Die Inlandsverschuldung beträgt 130 Milliarden Mark. Höfner äußert sich zur Verschlechterung der Exportleistung in den letzten Jahren und zur Abwertung der DDR-Mark gegenüber der DM. Er übernimmt die Verantwortung für die Inflationsrate und die Preisentwicklung.

Zahlreiche Abgeordnete konstatieren, man habe sie belogen. Wichtige Informationen zur wirtschaftlichen Lage des Landes seien ihnen vorsätzlich verwehrt worden.

Die horrende Auslandsverschuldung, die Höfner als Ko-Autor der Schürer-Analyse am 31. Oktober gegenüber dem Politbüro offen gelegt hat, verschweigt er im Parlament. Sie unterliegt nach wie vor der Geheimhaltung. Die neue Offenheit, die von den Abgeordneten eingefordert wird, bleibt ihnen einstweilen verwehrt.

Bau von Erdgasleitung in Gefahr

Etwa 20 Prozent der auf der Erdgasleitungsbaustelle Wolodga in der UdSSR eingesetzten Bauarbeiter aus der DDR wollen nach Bekanntgabe der neuen Reiseregelungen ihren Montageeinsatz beenden, um in den Westen reisen zu können. Wie der Direktor des Bau- und Montagekombinats Chemie dem MfS mitteilt, ist damit der Fortgang des Baugeschehens an der Erdgasleitung gefährdet.

Blockparteien fordern Offenheit in der Volkskammer ein

Bei der Aussprache in der Volkskammer bezeichnet es der Abgeordnete Michael Kopalski von der DBD als unverantwortlich, dass "es den Fraktionen der Volkskammer über Wochen verwehrt wurde", über die Entwicklung im Lande mit zu entscheiden. Immer wieder hat das Präsidium um Host Sindermann die Sitzung des DDR-Parlaments verschleppt. Kopalski fordert die schonungslose Offenlegung der wirtschaftlichen Bilanz einschließlich der Finanzen und Devisen.

Für die Liberaldemokraten spricht sich Hans-Dieter Raspe für eine neue Wirtschaftspolitik aus, die auch die Gründung von Aktiengesellschaften und mehr Eigenständigkeit der Betriebe einschließt.

BSR muss zusätzliche Kräfte beschäftigen

Die Stadtreinigung von West-Berlin muss 250 zusätzliche Hilfskräfte einsetzen, um den Müll der Besucher zu beseitigen.

Stoph übernimmt Verantwortung für die Krise

In einer Aussprache in der Volkskammer übernimmt Noch-Ministerpräsident Willi Stoph die Verantwortung für die Krise im land. Die von ihm geführte Regierung ist ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Allerdings sei ihre Arbeit immer wieder durch Eingriffe der SED behindert worden, ihre Autorität war letztlich eingeschränkt. Mit seinem Rücktritt will Stoph den Weg für eine Erneuerung der Partei frei machen.

Nach dem Massenansturm vom Wochenende ebbt der Besucherandrang zu Wochenbeginn deutlich ab. Hier kehren DDR-Bürger in einem Trabbi auf der Glienicker Brücke in die DDR zurück.
Nach dem Massenansturm vom Wochenende ebbt der Besucherandrang zu Wochenbeginn deutlich ab. Hier kehren DDR-Bürger in einem Trabbi auf der Glienicker Brücke in die DDR zurück.
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Reisefreiheit bleibt

Im SED-Zentralorgan Neues Deutschland gibt die Regierung bekannt, dass die neue Reisefreiheit langfristig bestehen bleibt. Die Regelung werde zur Grundlage des neuen Reisegesetzes werden. Niemand habe vor, sie zurückzunehmen. Das Verteidigungsministerium bestätigt die Aufhebung der Sperrzonen entlang der Berliner Mauer und an der gesamten innerdeutschen Grenze. Erstmals wird es auch Volkspolizisten und Grenzsoldaten gestattet, in den Westen zu reisen.

Der Ost-West-Reiseverkehr flaut auch zu Wochenbeginn nicht ab. In Berlin wird der Busverkehr zwischen den beiden Stadthälften wieder aufgenommen - erstmals seit 28 Jahren. Weiterhin bilden sich lange Schlangen vor Sparkassen, Banken und Ämtern. Den Einzelhandel freut es. Mit dem Begrüßungsgeld von 100 DM erfüllen sich die DDR-Bürger kleine, lange gehegte Wünsche. Viele Supermärkte sind leer gekauft.

Willi Stoph, in der DDR für seine unnahbare Strenge und soldatische Disziplin bekannt, leitet den Ministerrat der DDR von 1964 bis 1973 und dann wieder seit 1976. Dazwischen ist er drei Jahre lang Staatsratsvorsitzender der DDR. Nach Honecker und Mielke gehört Stoph, der auch Armeegeneral ist, zu den mächtigsten Männern der DDR. Eigene Politikansätze, wie eine Annäherung an die Bundesrepublik, werden aber immer wieder, vor allem von Honecker, ausgebremst. In den 1980er Jahren schwärzt Stoph Honecker regelmäßig bei den Sowjets an, bekommt aber kein grünes Licht den Staats- und Parteichef der DDR zu stürzen. Erst im Hebst 1989 kann er kurzzeitig über den alten Widersacher triumphieren. Da er in der Zeit nach Honecker wie kaum ein anderer Politiker den jahrzehntelangen Stillstand repräsentiert, muss Stoph keine drei Wochen nach Honeckers Sturz selbst sein Amt zur Verfügung stellen. Am 7. November 1989 tritt mit ihm der gesamte Ministerrat zurück. Geschäftsführend bleibt er bis zur Wahl einer neuen Regierung am 13. November im Amt.
Willi Stoph, in der DDR für seine unnahbare Strenge und soldatische Disziplin bekannt, leitet den Ministerrat der DDR von 1964 bis 1973 und dann wieder seit 1976. Dazwischen ist er drei Jahre lang Staatsratsvorsitzender der DDR. Nach Honecker und Mielke gehört Stoph, der auch Armeegeneral ist, zu den mächtigsten Männern der DDR. Eigene Politikansätze, wie eine Annäherung an die Bundesrepublik, werden aber immer wieder, vor allem von Honecker, ausgebremst. In den 1980er Jahren schwärzt Stoph Honecker regelmäßig bei den Sowjets an, bekommt aber kein grünes Licht den Staats- und Parteichef der DDR zu stürzen. Erst im Hebst 1989 kann er kurzzeitig über den alten Widersacher triumphieren. Da er in der Zeit nach Honecker wie kaum ein anderer Politiker den jahrzehntelangen Stillstand repräsentiert, muss Stoph keine drei Wochen nach Honeckers Sturz selbst sein Amt zur Verfügung stellen. Am 7. November 1989 tritt mit ihm der gesamte Ministerrat zurück. Geschäftsführend bleibt er bis zur Wahl einer neuen Regierung am 13. November im Amt.
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Maleuda ist neuer Volkskammerpräsident

Überraschend wird nicht der bekannte und populäre Manfred Gerlach zum Volkskammerpräsident gewählt. Stattdessen setzt sich am Vormittag der weniger bekannte Günther Maleuda in einer spannenden Stichwahl durch. Der 58jährige Maleuda hat einen Doktorgrad in Agrarwissenschaften. Seit 1981 Abgeordneter der Volkskammer, steht er der DBD erst seit 1987 vor. Möglicherweise bringt ihm das Vorteile bei seiner Wahl. Gerlach hat sich zwar früh zu Reformen bekannt. Doch ist er seit 1967 Vorsitzender der Blockpartei LDPD und sitzt sogar schon seit 1960 als stellvertretender Staatsratsvorsitzender sozusagen im Vorhof der Macht.

Britische Soldaten verteilen am Grenzübergang Invalidenstraße Kaffee an einreisende DDR-Bürger.
Britische Soldaten verteilen am Grenzübergang Invalidenstraße Kaffee an einreisende DDR-Bürger.
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Volkskammerpräsident tritt zurück

Nach wochenlangen Protesten gegen seine Person zieht sich Horst Sindermann (SED) am Morgen von seinem Amt als Präsident der Volkskammer zurück. Damit wird die Wahl eines neuen Parlamentspräsidenten notwendig. Zur Wahl stellen sich Manfred Gerlach von der LDPD und Günther Maleuda, Vorsitzender der Demokratischen Bauernpartei (DBD).

Der 74jährige Kommunist Sindermann hat 1961 als Chefagitator der Partei die in der DDR gebräuchliche offizielle Bezeichnung der Berliner Mauer als "antifaschistischer Schutzwall" erfunden. 1973 zum Vorsitzenden des Ministerrates gewählt, wechselt er 1976 mit der Personalrochade, die Erich Honecker die umfassende Herrschaft - also neben dem Amt des Generalsekretärs auch die des Staatsratsvorsitzenden und des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates - sichern soll, ins Amt des Volkskammerpräsidenten. Der zwischenzeitliche Staatsratsvorsitzende Willi Stoph übernimmt von Sindermann das weniger bedeutende Amt des Ministerpräsidenten.

Mit Günther Maleuda (links) wählt die Volkskammer einen wenig bekannten Politiker an ihre Spitze. Der Landwirt und Doktor der Agrarwissenschaften sitzt seit 1981 als Abgeordneter im Parlament der DDR. Erst 1987 ist er zum Vorsitzenden der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) gewählt worden.
Mit Günther Maleuda (links) wählt die Volkskammer einen wenig bekannten Politiker an ihre Spitze. Der Landwirt und Doktor der Agrarwissenschaften sitzt seit 1981 als Abgeordneter im Parlament der DDR. Erst 1987 ist er zum Vorsitzenden der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) gewählt worden.
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12. November 1989: Schießbefehl an der Mauer aufgehoben.

Überwiegende Mehrheit der Bundesdeutschen für Anerkennung der bestehenden polnischen Westgrenze

Einer Umfrage des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig zufolge glaubt lediglich ein Drittel der Befragten, dass die neue Führung der SED das Vertrauen der DDR-Bevölkerung zurückgewinnen wird. Fast zwei Drittel halten das für unwahrscheinlich.

Auch das ZDF-Politbarometer veröffentlicht neueste Umfrageergebnisse. Danach glaubt etwa die Hälfte der Bundesbürger an eine Wiedervereinigung in den nächsten Jahren. In der heiklen Frage der polnischen Westgrenze sprechen sich 78 Prozent für die Oder-Neiße-Linie, also die jetzige Grenze zwischen der DDR und Polen aus.

Bislang hat nur die DDR die im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 festgelegte deutsch-polnische Grenze völkerrechtlich anerkannt. Auch die Bundesrepublik erkennt im Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 die Oder-Neiße-Linie als "unverletzliche" Westgrenze Polens an - allerdings unter dem Vorbehalt einer Änderung im Rahmen eines endgültigen Friedensvertrages. Im Wendeherbst 1989 wächst in Polen die Furcht, ein wiedervereinigtes Deutschland könnte sein neu gewonnenes politisches Gewicht in Europa zu einer Revision seiner Ostgrenze einsetzen.

Durch die Oder-Neiße-Linie ist etwa ein Viertel des deutschen Staatsgebietes in den Grenzen von 1937 abgetrennt. Bis 1950 sind etwa 90 Prozent der deutschen Bevölkerung dieser Gebiete in das verbliebene Deutschland geflohen. In der Bundesrepublik üben seither die Vertriebenenverbände einen nicht unerheblichen Einfluss auf politische Entscheidungen aus, was sich zum Beispiel in der extremen Ablehnung des Bundeskanzlers Willy Brandt und seiner Ostpolitik und in der ambivalenten Haltung der Unionsparteien in der Frage der polnischen Westgrenze spiegelt. Offiziell wird diese zwar seit 1970 anerkannt. Doch mit dem Hofieren der Vertriebenenverbände werden immer wieder revisionistische Hoffnungen geschürt.

Geklärt wird die Frage in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, die 1990 zur deutschen Einheit führen. Die Alliierten machen ihre Zustimmung zur deutschen Einheit auch von der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als endgültige deutsche Ostgrenze abhängig. Resititutionshoffnung bleiben der politischen Auseinandersetzung dennoch erhalten, da der Vertrag zwar den endgültigen Grenzverlauf zwischen Deutschland und Polen regelt, die Frage der Besitzverhältnisse aber ausspart.

Horst Sindermann (rechts) tritt am 13. November 1989 als Volkskammerpräsident zurück. Das Amt hat er seit 1976 inne. Vorher ist er drei Jahre lang als Staatsratsvorsitzender zumindest faktisch das Staatsoberhaupt der DDR. 1961 prägt er als damaliger Chefideologe der SED die offiziell in der DDR gebräuchliche Bezeichnung der Berliner Mauer als "antifaschistischer Schutzwall."
Horst Sindermann (rechts) tritt am 13. November 1989 als Volkskammerpräsident zurück. Das Amt hat er seit 1976 inne. Vorher ist er drei Jahre lang als Staatsratsvorsitzender zumindest faktisch das Staatsoberhaupt der DDR. 1961 prägt er als damaliger Chefideologe der SED die offiziell in der DDR gebräuchliche Bezeichnung der Berliner Mauer als "antifaschistischer Schutzwall."
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Konzert für Berlin

Die Westberliner Philharmoniker unter der Leitung von Daniel Barenboim veranstalten ein spontanes Sonderkonzert, das im Fernsehen übertragen wird.

In der Deutschlandhalle in West-Berlin findet ein elfstündiges Rockkonzert mit namhaften Gruppen aus beiden Teilen des Landes statt. Etwa 50.000 Fans aus Ost und West feiern ihre Stars. Der Eintritt zu der vom SFB in nur zwei Tagen organisierten Veranstaltung ist frei. Ursprünglich als Konzert vor dem Reichstag geplant, wird es aus Sicherheitsgründen in die Deutschlandhalle im Berliner Westen verlegt.

Das Line-Up vereint so unterschiedliche Künstler und Bands wie Pankow, BAP, Melissa Etheridge, Die Zöllner, Silly, Marius Müller-Westernhagen, Die Toten Hosen, Nina Hagen, die Puhdys, Nena und andere.

Als Joe Cocker, der extra seine Tournee unterbricht und nach Berlin eingeflogen wird, seinen Hit "With A Little Help From My Friends" darbietet, singen im Backgroundchor Heinz-Rudolf Kunze, Udo Lindenberg, Konstantin Wecker, Ulla Meinecke und Tamara Danz von Silly.

Ein emotionaler Höhepunkt ist der Auftritt Udo Lindenbergs, der den Text eines seiner bekanntesten Lieder den aktuellen Ereignissen anpasst: „… Entschuldigen sie, ist das der Sonderzug aus Pankow? Wir müssen mal eben da hin; mal eben nach West-Berlin. Man glaubt es ja kaum, es ist ja alles wie ein schöner Traum – doch keine Angst vor’m Erwachen, wir werden jetzt so weiter machen! …“

Politbüro beruft Sonderparteitag ein

In den vergangenen Tagen - auch unter dem Druck der Ereignisse - hat es in der SED-Spitze kontroverse Diskussionen zum weiteren Vorgehen und zu einer Reaktion mit Signalwirkung gegeben. Während das Politbüro bislang eher die Einberufung einer Parteikonferenz - es wäre die vierte in der Geschichte der SED - präferiert, wächst an der Basis die Forderung nach einem Sonderparteitag. Letzterer ist in der Geschichte der SED ohne Beispiel. Da auf einer Parteikonferenz nur Teile der Führung, auf einem Parteitag aber die gesamte Führung neu gewählt wird, hat sich das Politbüro bislang dagegen gesträubt, dem Wunsch der Basis nachzugeben. Drei Tage nach dem Fall der Mauer - dem offensichtlichsten Ausdruck seiner gescheiterten Politik - stimmt das Politbüro der SED nun doch der Umwandlung einer Parteikonferenz Anfang Dezember in einen Sonderparteitag zu.

In den Bezirken Erfurt, Karl-Marx-Stadt, Halle, Magdeburg und Rostock sind derweil neue 1. Sekretäre der Bezirksleitungen gewählt worden.

Modrow verlässt Dresden

Etwa 50.000 SED-Genossen verabschieden auf einer Kundgebung in Dresden den 1. Sekretär der Bezirksleitung Hans Modrow. Er soll in Berlin die neue Regierung der DDR führen. Begleitet vom Ruf "Reformen ja, Chaos nein - Hans, wir werden mit dir sein!" unterstreicht die Basis nochmals die Forderung nach einem Sonderparteitag. Diesen wünscht auch die Parteibasis in Leipzig. Auf einer Kundgebung von SED-Mitgliedern ist auf Transparenten zu lesen: "Haltung statt Spaltung!" und "Ich will Genosse bleiben, darum die Schuldigen vertreiben."

Neue Jugendorganisation der Ost-CDU

Neben der Dominanz der SED scheint auch die der Jugendorganisation FDJ gebrochen. Nachdem schon am Freitag (10.11.) eine Urabstimmung an der Humboldt-Universität zu Schaffung eines unabhängigen Studentenrates mit einer krachenden Niederlage der FDJ endete - 85 Prozent der Studenten hatten sich für eine unabhängige Vertretung ausgesprochen - bekommt die "Kampfreserve der Partei" durch weitere neue Organisationen Konkurrenz.

Mit der Christlich-Demokratischen Jugend (CDJ) formiert sich eine der CDU nahe stehende Jugendorganisation. Sie versteht sich als antifaschistisch, dem Frieden, der Schaffung von Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung verpflichtete Organisation.

Wirtschaftskrise in der DDR

An der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst diskutieren DDR-Ökonomen über die wirtschaftlichen Folgen der Maueröffnung.

Schießbefehl aufgehoben

Es wirkt angesichts der jüngsten Ereignisse beinahe surreal, aber bis jetzt galt an der innerdeutschen Grenze und an der Mauer noch der Schießbefehl. Seit 1961 sind ihm allein an der Mauer 136 Menschen zum Opfer gefallen. Am Nachmittag gibt Verteidigungsminister Heinz Keßler die Aufhebung der menschenverachtenden Order bekannt.

Wolfgang Herger (links) und Egon Krenz (hier im Januar 1990 am "Runden Tisch"). Herger ist, wie zuvor Krenz, im ZK der SED für Sicherheitsfragen zuständig. Beide müssen nach ständig zunehmenden Druck von der SED-Basis im Politbüro der Umwandlung der für Anfang Dezember 1989 einberufenen Parteikonferenz in einen außerordentlichen Parteitag zustimmen. Der ist ein Novum in der Geschichte der SED. Einer der Hauptpunkte wird die Wahl einer neuen Parteispitze sein. Krenz und Herger gelten, wie fast alle Politbüromitglieder mit Ausnahme von Hans Modrow, als Repräsentanten des alten Systems und müssen um ihre politische Macht fürchten.
Wolfgang Herger (links) und Egon Krenz (hier im Januar 1990 am "Runden Tisch"). Herger ist, wie zuvor Krenz, im ZK der SED für Sicherheitsfragen zuständig. Beide müssen nach ständig zunehmenden Druck von der SED-Basis im Politbüro der Umwandlung der für Anfang Dezember 1989 einberufenen Parteikonferenz in einen außerordentlichen Parteitag zustimmen. Der ist ein Novum in der Geschichte der SED. Einer der Hauptpunkte wird die Wahl einer neuen Parteispitze sein. Krenz und Herger gelten, wie fast alle Politbüromitglieder mit Ausnahme von Hans Modrow, als Repräsentanten des alten Systems und müssen um ihre politische Macht fürchten.
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Die Grenztruppen seien ab sofort aufgefordert, "alles zu tun und mitzuhelfen, dass der nunmehr eingeleitete Reiseverkehr ordentlich und reibungslos verläuft." Des Weiteren hätten sie "alles in ihren Kräften Stehende zu tun, damit die allgemein anerkannte fixierte Staatsgrenze von niemandem verletzt wird und dass die für diesen Zweck eingerichteten Grenzanlagen von niemandem zerstört werden dürfen." Der Gebrauch oder Einsatz von Schusswaffen bleibt ab sofort untersagt.

Alle Sperrgebiete an der Mauer und an der innerdeutschen Grenze sind aufgehoben. Damit besteht zum ersten mal seit Jahrzehnten wieder freier Zugang zu allen Ortschaften in den Grenzgebieten. Eine Wanderung auf den Brocken im Harz ist nun zum Beispiel wieder problemlos möglich.

Neues Forum Dresden will sich zur Wahl stellen

Die Dresdner Gruppe des Neuen Forums kündigt an, sich als politisch unabhängige Vereinigung zur Wahl stellen zu wollen. Nach erfolgter Zulassung wird man eigene Kandidaten aufstellen. Pfarrer Hanno Schmidt, Gründungsmitglied des Neuen Forums, berichtet in der Sächsischen Zeitung auch von einer Begegnung mit dem designierten Ministerpräsidenten Hans Modrow. Man sei darüber eingekommen, dass zunächst die Krise in der DDR überwunden werden müsse und man dann - auf dem sozialistischen Fundament - eine neue, farbenfrohe Gesellschaft aufbauen könne.

Derweil gibt Bezirksgerichtsdirektor Stranovsky bekannt, dass sich im Bezirk Dresden kein Teilnehmer an den Demonstrationen von Anfang Oktober mehr in Haft befindet. Er fügt hinzu, dass wohl zu spät erkannt worden sei, dass das Leben bestehende Gesetze längst in Frage gestellt hat.

Krankenhäusern fehlt das nötige Personal

Im Leipziger Gewandhaus findet wieder das traditionelle Sonntagsgespräch mit Kurt Masur statt. Währenddessen herrscht im Leipziger Krankenhaus St. Georg, wie an vielen Orten im Land, aufgrund der Flüchtlingswelle Personalnotstand. In Dresden wenden sich Prominente an die Einwohner der Stadt. Die "normalen Lebensprozesse in der Stadt" seien zunehmend in Gefahr geraten. Durch die Massenabwanderung "sinken auch die realen Möglichkeiten, unser Dresden zum Besseren umzugestalten."

Bitte um alliierte Zurückhaltung

In einem Telefonat ruft der Stab der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in der DDR die Oberkommandos der amerikanischen, britischen und französischen Streitkräfte auf, "sich aus den Ereignissen herauszuhalten." Die Verantwortlichen der westlichen Streitkräfte versichern umgehend ihre Zurückhaltung.

Erster Grenzübergang am Potsdamer Platz offen

In der Nacht haben Grenztruppen im Osten und Polizei im Westen die Sperranlagen abgebaut und die Bauarbeiten gesichert. Mehrere Betonplatten werden herausgenommen und der Boden planiert. Am Morgen kann ein neuer Grenzübergang am Potsdamer Platz - nur 500 Meter südlich des Brandenburger Tores - geöffnet werden. West-Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper und Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack übergeben den neuen Übergang, durch den der Druck auf die Mauer am Brandenburger Tor rasch abnimmt.

Grenzöffnung am Brocken. Mit Aufhebung der Sperrgebiete im Vorfeld der innerdeutschen Grenze sind viele seit Jahrzehnten von der Allgemeinheit abgeschottete Ortschaften wieder zugänglich. Bislang kann man sie nur mit einem Passierschein betreten, wenn man dort wohnt oder dort arbeitet. Da der Brocken, mit 1141 Metern die höchste Erhebung des Harz, im unmittelbaren Grenzgebiet zur BRD liegt, ist er bis 1989 für normale DDR-Bürger nur aus der Ferne zu betrachten. Die Gipfelzone ist von einer drei Meter hohen Mauer umgeben und militärisch stark ausgebaut. Unter dem Druck einer Stern-Wanderung von 6.000 Demonstranten wird der Gipfel des Brocken am 3. Dezember 1989 wieder der Bevölkerung zugänglich gemacht.
Grenzöffnung am Brocken. Mit Aufhebung der Sperrgebiete im Vorfeld der innerdeutschen Grenze sind viele seit Jahrzehnten von der Allgemeinheit abgeschottete Ortschaften wieder zugänglich. Bislang kann man sie nur mit einem Passierschein betreten, wenn man dort wohnt oder dort arbeitet. Da der Brocken, mit 1141 Metern die höchste Erhebung des Harz, im unmittelbaren Grenzgebiet zur BRD liegt, ist er bis 1989 für normale DDR-Bürger nur aus der Ferne zu betrachten. Die Gipfelzone ist von einer drei Meter hohen Mauer umgeben und militärisch stark ausgebaut. Unter dem Druck einer Stern-Wanderung von 6.000 Demonstranten wird der Gipfel des Brocken am 3. Dezember 1989 wieder der Bevölkerung zugänglich gemacht.
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11. November 1989: Grenzer besetzen die Mauer am Brandenburger Tor.

Kommunikation gesichert

Seit dem späten Abend besteht zwischen den beiden Polizeipräsidien von Ost- und West-Berlin eine direkte Telefonverbindung. Später kann auch direkter Funkverkehr aufgenommen werden.

SED-Kreissekretär begeht Selbstmord

Der 1. Kreissekretär der SED in Perleberg (Bezirk Schwerin) ist, wie erst jetzt offiziell mitgeteilt wird, "infolge großen seelischen Drucks durch die gegenwärtigen politischen Ereignisse am 7. November freiwillig aus dem Leben" geschieden. Es ist der dritte Selbstmord eines SED-Kreissekretärs innerhalb von zwei Wochen.

Walter Momper - Regierender Bürgermeister von West-Berlin - öffnet gemeinsam mit Erhard Krack - Oberbürgermeister von Ost-Berlin - den neuen Grenzübergang am Potsdamer Platz. Mit dem neuen Übergang wird der Druck von der Mauer am Brandenburger Tor genommen. Das Brandenburger Tor selbst, das stärkste Symbol der Berliner Teilung, wird erst am 22. Dezember feierlich den Berlinern übergeben.
Walter Momper - Regierender Bürgermeister von West-Berlin - öffnet gemeinsam mit Erhard Krack - Oberbürgermeister von Ost-Berlin - den neuen Grenzübergang am Potsdamer Platz. Mit dem neuen Übergang wird der Druck von der Mauer am Brandenburger Tor genommen. Das Brandenburger Tor selbst, das stärkste Symbol der Berliner Teilung, wird erst am 22. Dezember feierlich den Berlinern übergeben.
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Erneut Massenandrang am Brandenburger Tor

Auf der Westseite des Brandenburger Tores haben sich am Nachmittag wieder 20.000 bis 30.000 Menschen versammelt. Polizeipräsident Schertz nutzt die neuen Kommunikationswege, um die Ost-Berliner Kommandeure zu bitten, die auf der Panzermauer postierten Grenzsoldaten vorübergehend abzuziehen. Er könne deren Sicherheit nicht länger garantieren. 17.57 Uhr beginnen die Grenzer, die Mauerkrone zu verlassen. Währenddessen schließt die West-Berliner Polizei ihren Sperrriegel und schützt auch die nördliche Hälfte des Betonwalls mit Mannschaftswagen. Damit werden alle Versuche, die Mauerkrone zu erklimmen, endgültig unterbunden.

Neuer Übergang an der innerdeutschen Grenze

Auch an der innerdeutschen Grenze hat der Besucherandrang zu chaotischen Szenen geführt. Obwohl die DDR-Grenzer schnell dazu übergegangen sind, die Besucher nahezu unkontrolliert ins Bundesgebiet reisen zu lassen, staut sich der Verkehr am Übergang Helmstedt (A2) zwischenzeitlich auf 40 Kilometer. Neue Übergänge sollen auch hier geschaffen werden. Bei Eckertal zwischen Bad Harzburg (BRD) und Stapelburg (DDR) im Harz wird der erste neue Grenzübergang geöffnet.

DDR-Grenzer halten die Mauer vorm Brandenburger Tor besetzt. Als sich am späten Nachmittag wieder mehrere zehntausend Menschen vor der Mauer versammeln, werden sie von West-Berlins Polizeipräsident Schertz gebeten, die Mauer zu ihrer eigenen Sicherheit zu verlassen. Die Polizei wird eine erneute Besetzung des Betonwalls durch die Berliner verhindern.
DDR-Grenzer halten die Mauer vorm Brandenburger Tor besetzt. Als sich am späten Nachmittag wieder mehrere zehntausend Menschen vor der Mauer versammeln, werden sie von West-Berlins Polizeipräsident Schertz gebeten, die Mauer zu ihrer eigenen Sicherheit zu verlassen. Die Polizei wird eine erneute Besetzung des Betonwalls durch die Berliner verhindern.
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Neues Forum warnt vor Ellenbogengesellschaft

Das Neue Forum warnt die Menschen in der DDR, sich durch die neu gewonnene Reisefreiheit nicht von der Forderung nach einem politischen Neuaufbau der Gesellschaft ablenken zu lassen. Die Bürger hätten mit ihren spontanen und furchtlosen Willensbekundungen im ganzen Land eine friedliche Revolution in Gang gesetzt, das Politbüro gestürzt und die Mauer durchbrochen. Jetzt sollen sie sich nicht durch Reisen und schulden erhöhende Konsumspritzen ruhig stellen lassen. "Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft haben, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen." Solche klugen und weitsichtigen Warnungen verhallen im allgemeinen Freudentaumel. Das Tor zum Westen und seiner Glück versprechenden Konsumwelt steht weit offen. Für kritische Zwischentöne ist in der Euphorie des Mauerfalls kein Platz.

Währendessen drückt Walter Momper seine Unzufriedenheit mit der Bundesregierung aus. Bonn würde berlin bei der Bewältigung der Besucherströme allein lassen. Der Kanzler verstehe nicht, was sich in der DDR abspiele. Die Menschen in der DDR würden sich nicht für die Wiedervereinigung interessieren. Auch wenn Kohl mit der neu gewonnenen Identität der DDR-Bürger nichts anfangen könne, habe er sie als Realität zu akzeptieren. Dass Kohl sich nicht sofort mit Krenz treffen wolle, stößt bei Momper auf Unverständnis. Dreißig Tage würden so ins Land gehen, ohne dass praktische Schritte unternommen würden.

Kohl will sich mit Krenz treffen

In einem Telefonat mit Bundeskanzler Kohl erklärt SED-Generalsekretär Krenz, die DDR habe "Vorleistungen" erbracht, durch die eine "gute Atmosphäre" für die Klärung von Problemen im ökonomischen Bereich und auch im Reiseverkehr entstanden sei. Diese Dinge können man nicht allein lösen. Kohl begrüßt die Öffnung der Grenze. Auf die Wünsche seines Gesprächspartners reagiert jedoch zurückhaltend. Gleichwohl wird ein Spitzentreffen der beiden Staatschefs noch für 1989 verabredet. Es soll in der DDR, aber nicht in Ostberlin stattfinden. Kanzleramtschef Seiters soll in den nächsten Tagen mit Vertretern der DDR-Regierung zusammentreffen, um die Begegnung vorzubereiten.

An der Ecke Bernauer und Eberwalderstraße wird die Mauer in den frühen Morgenstunden für einen neuen Grenzübergang aufgebrochen. Viele Bewohner des Bezirks Prenzlauer Berg werden diesen Übergang in den nächsten Monaten für einen Trip in den Westteil der Stadt nutzen. Rechts im Bild ist jener Mauerstreifen zu sehen, der heute als Mauerpark ein beliebtes Ausflugsziel ist.
An der Ecke Bernauer und Eberwalderstraße wird die Mauer in den frühen Morgenstunden für einen neuen Grenzübergang aufgebrochen. Viele Bewohner des Bezirks Prenzlauer Berg werden diesen Übergang in den nächsten Monaten für einen Trip in den Westteil der Stadt nutzen. Rechts im Bild ist jener Mauerstreifen zu sehen, der heute als Mauerpark ein beliebtes Ausflugsziel ist.
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Grenzübergänge an der Bernauer Straße und an der Jannowitzbrücke offen

Für den Massenandrang von Besuchern aus der DDR sind neue Grenzübergänge geöffnet worden. Seit Vormittag macht ein Mauerdurchbruch an der Bernauer Ecke Eberswalderstraße den Weg nach Wedding frei. Zu tausenden strömen die Menschen aus dem bevölkerungsreichen Prenzlauer Berg in den Westen. In Mitte wird ein Übergang an der Jannowitzbrücke geschaffen. Der U-Bahnhof, seit 1961 geschlossen, wird wieder für den Besucherverkehr geöffnet. Währenddessen wird beschlossen, den innerstädtischen Nahverkehr auszubauen. Zusätzliche Busse und Bahnen sollen eingesetzt werden.

An den innerdeutschen Grenzen staut sich der Verkehr zum Teil kilometerweit. Neue Übergänge müssen geschaffen werden.
An den innerdeutschen Grenzen staut sich der Verkehr zum Teil kilometerweit. Neue Übergänge müssen geschaffen werden.
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MfS hebt Alarmbereitschaft auf

Auch in der MfS-Zentrale wird 14:30 Uhr die ständige Anwesenheitspflicht und Einsatzbereitschaft aller Mitarbeiter aufgehoben. Der stellvertretende Minister Mittig hebt den Mielke-Befehl vom Vortag auf.

Polizeipräsident trifft Grenzkommandeur

Am Grenzübergang Friedrich-/Zimmerstraße setzt sich 14:00 Uhr der West-Berliner Polizeipräsident Georg Schertz mit Oberst Günter Leo, dem stellvertretenden Kommandeur der Berliner Grenztruppe an einen Tisch. Mit dem Treffen - so vor wenigen Stunden noch undenkbar - wird das Zusammenwirken beider Sicherheitsorgane nach den Worten von Leo "auf eine ganz neue Stufe gestellt."

Der besonnene, aber beherzte und konsequente Einsatz der West-Berliner Polizei am Brandenburger Tor habe "zur Entspannung der dort zugespitzten Situation" geführt. Schertz bittet, im beiderseitigen Interesse eine telefonische Direktleitung zwischen beiden Polizeipräsidien zu schalten, um das polizeiliche Einsatzverhalten durch ständigen Kontakt besser abstimmen zu können. Zudem sollte der Übergang Invalidenstraße verbreitert und als Ventil ein Grenzübergang für Fußgänger an beiden Seiten des Brandenburger Tores eröffnet werden.

Das Gespräch findet in "betont freundlicher und offener Atmosphäre" statt und schafft die notwendige Vertrauensbasis, um die sich am Nachmittag wieder verschärfende Lage zu beherrschen.

Gorbatschow bittet Kohl, Umsicht walten zu lassen

Unmittelbar im Anschluss an eine Sondersitzung des Bundestages teilt Bundeskanzler Kohl am Telefon Sowjetchef Gorbatschow mit, dass er den Beginn der Reformen in der DDR begrüße und ihrer Durchführung eine ruhige Atmosphäre wünsche. Jegliche Radikalisierung lehne er ab. Kohl versichert, er habe kein Interesse an einer Destabilisierung der Lage in der DDR.

Gorbatschow fordert den Kanzler nachdrücklich auf, der "Wende" der SED Zeit zu lassen und ihr nicht durch ungeschicktes Handeln Schaden zuzufügen. Es müsse unter allen Umständen verhindert werden, dass "die Entwicklung durch ein Forcieren der Ereignisse in eine unvorhersehbare Richtung, ins Chaos gelenkt" werde. Gorbatschow bittet Kohl, dass "sie ihre Autorität, ihr politisches Gewicht und ihren Einfluss nutzen werden, um auch andere in dem Rahmen zu halten, die der Zeit und ihren Erfordernissen entspricht."

Kohl und sein Berater Horst Teltschik atmen nach dem Gespräch erleichtert auf. Gorbatschow hat keine Drohungen oder Warnungen ausgesprochen, sondern nur die Bitte, Umsicht walten zu lassen. Teltschik wird in sein Tagebuch notieren: "Nun bin ich endgültig sicher, daß es kein gewaltsames Zurück mehr geben wird." Eine Wiederholung des 17. Juni 1953 wird immer unwahrscheinlicher.

Am S- und U-Bahnhof Jannowitzbrücke wird am Nachmittag einer neuer Grenzübergang geöffnet. Auch der U-Bahnhof, seit 1961 gesperrt, ist für den Besucherverkehr wieder zugänglich.
Am S- und U-Bahnhof Jannowitzbrücke wird am Nachmittag einer neuer Grenzübergang geöffnet. Auch der U-Bahnhof, seit 1961 gesperrt, ist für den Besucherverkehr wieder zugänglich.
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Gysi mahnt Reisegesetz an

In der Berliner Zeitung mahnt Gregor Gysi, die provisorische Reiseregelungen schnell in rechtverbindliche Gesetze umzuwandeln. Die gegenwärtige Zwischenregelung hält der Rechtsanwalt für problematisch. Ausnahmeregelungen ohne Rechtsgrundlage können nicht nur "im positiven Sinne für die Bürger angeordnet" werden. Theoretisch könnten sie auch zum Nachteil des Bürgers ausgelegt werden.

Am neuen Grenzübergang an der Bernauer Straße bildet sich eine gewaltige Menschentraube. Blick in die Oderberger Straße.
Am neuen Grenzübergang an der Bernauer Straße bildet sich eine gewaltige Menschentraube. Blick in die Oderberger Straße.
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Besucheransturm am ersten Wochenende nach dem Mauerfall

Seit Donnerstag sind an den Grenzübergängen und bei den Dienststellen der Volkspolizei mehr als vier Millionen Visa ausgestellt worden. Die Züge zum Übergang Helmstedt an der innerdeutschen Grenze sind zu 200 Prozent ausgelastet. Währenddessen konstatiert der Verkehrsfunk in West-Berlin resignierend: "Stehender Fußgängerverkehr auf dem Tauentzien." Wie viel Menschen in die Zweimillionenstadt einreisen- ob 500.000 oder eine Million - kann niemand mehr zählen. Der Autoverkehr in der Innenstadt ist zusammengebrochen, mehrere U-Bahnlinien auch. Lange Schlangen bilden sich vor Sparkassen, Banken und Ämtern, wo viele DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld abholen.

Lange in Schlangen zu stehen, sind die Ostdeutschen aus der Heimat gewohnt. Selten haben sie es so gerne getan, wie in den ersten Tagen nach der Maueröffnung. Gegen Vorlage ihres Personalausweises erhalten sie 100 DM Begrüßungsgeld. Bedenkt man den Umtauschkurs von Ostmark zu Westgeld (10:1), entspricht das einem durchschnittlichen Monatslohn in der DDR.
Lange in Schlangen zu stehen, sind die Ostdeutschen aus der Heimat gewohnt. Selten haben sie es so gerne getan, wie in den ersten Tagen nach der Maueröffnung. Gegen Vorlage ihres Personalausweises erhalten sie 100 DM Begrüßungsgeld. Bedenkt man den Umtauschkurs von Ostmark zu Westgeld (10:1), entspricht das einem durchschnittlichen Monatslohn in der DDR.
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"Erhöhte Gefechtsbereitschaft" wird aufgehoben

Streletz wird vom Chef der Grenztruppen über die Normalisierung der Lage am Brandenburger Tor informiert. Mit Unterstützung der West-Berliner Polizei sei es gelungen, die Mauer von den Besetzern zu räumen. 12:10 Uhr erteilt Keßler - unter Rücksprache mit Krenz - die Weisung die "Erhöhte Gefechtsbereitschaft" aufzuheben. Die Artillerieregimenter beginnen, ihre schweren Waffen zu entmunitionieren. Die übrigen Truppenteile gehen in das normale Dienstregime zurück.

Panik unter den Soldaten

Gegen Mittag erklärt der stellvertretende Verteidigungsminister Horst Brünner in einem Rundfunk Interview in Radio DDR I, die Armee stünde nicht unter "Erhöhter Gefechtsbereitschaft" - Ausbildung und militärisches Leben würde sich "nach normalem Regime" vollziehen. Bei den beiden sehr wohl seit 24 Stunden unter Gefechtsbereitschaft stehenden Regimentern, lösen die Äußerungen Panik und Unverständnis aus. Die Soldaten, die befürchten müssen, dass ihr Einsatz einen Bürgerkrieg auslösen wird, erleben, dass ein führender Repräsentant des Ministeriums Medien und Volk belügt und versucht, sich aus der Verantwortung zu ziehen.

Keßler erwägt Armeeeinsatz

Generaloberst Host Stechbarth, Chef der Landstreitkräfte der NVA, erhält gegen 11 Uhr einen alarmierenden Anruf seines Verteidigungsministers. Keßler erklärt: "Man hat die Mauer besetzt!" und fragt nach, ob Stechbarth zwei Regimenter nach Berlin marschieren lassen kann. Der weist Keßler auf die unabsehbaren Folgen von Truppenbewegungen durch Berlin hin: "Habt ihr euch die Konsequenzen überlegt?"

Das Kommando der Landstreitkräfte kommt schnell zu dem Schluss, dass angesichts überfüllter Straßen und dem unbeschreiblichen Verkehrschaos in Berlin, schon bei der Anfahrt der beiden Regimenter Auseinandersetzungen zu befürchten sind. Militärhandlungen scheinen in dieser Lage keinen Sinn zu machen.

Im Verteidigungsministerium werden derweil die Leiter der wichtigsten Abteilungen darüber informiert, dass seit gestern die 1. Motorisierte Schützendivision in Potsdam und das Luftsturmrgiment-40 in Lehnitz in "Erhöhter Gefechtsbereitschaft" stehen. Streletz sieht die "Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit dieser Maßnahme" von der Mehrheit im Ministerium in Frage gestellt. Die Spitze des Ministeriums ist gespalten.

Viele Ostdeutsche fahren zum erstenmal oder zum erstenmal seit langem mit der S-Bahn vom Bahnhof Friedrichstraße in den Westen der Stadt.
Viele Ostdeutsche fahren zum erstenmal oder zum erstenmal seit langem mit der S-Bahn vom Bahnhof Friedrichstraße in den Westen der Stadt.
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Kommunikation gewünscht

Die erfolgreiche Kooperation von DDR-Grenztruppen und West-Berliner Polizei am Brandenburger Tor hat eine erste Vertrauensbasis zwischen den Einsatzleitung in Ost und West geschaffen. Um weiteren ernsten Gefahren weniger spontan und zufällig begegnen zu können, ist der Aufbau stabiler Kommunikationswege dringend erforderlich.

Seit der sowjetischen Blockade West-Berlins 1948 sind die direkten Verbindungen zwischen den Polizeibehörden beider Stadthälften gekappt. Die Alliierten verfügen allerdings noch über intakte Telefonverbindungen. Und so hat am Morgen die britische Befehlszentrale in Absprache mit der sowjetischen Botschaft die Erlaubnis für die West-Berliner Polizei erwirkt, den Mauerstreifen überhaupt betreten zu dürfen.

Nach Abschluss des Einsatzes übermittelt die Senatskanzlei dem DDR-Außenministerium den Wunsch des Polizeipräsidenten, weitere Maßnahmen am Brandenburger Tor abzustimmen. Am Übergang Invalidenstraße wird 10:30 Uhr Kontakt aufgenommen und - in Abstimmung mit den westlichen Alliierten - ein Spitzentreffen zwischen dem Polizeipräsidenten von West-Berlin und dem Kommandeur des Grenzkommandos Mitte vereinbart.

Schon am Morgen wird ein Loch in die Mauer an der Bernauer Straße gerissen. Es wird in den nächsten Monaten als Grenzübergang dienen. Im Hintergrund: die Eberswalder Straße und das direkt an der Mauer gelegene Friedrich-Ludwig-Jahn-Spoertpark.
Schon am Morgen wird ein Loch in die Mauer an der Bernauer Straße gerissen. Es wird in den nächsten Monaten als Grenzübergang dienen. Im Hintergrund: die Eberswalder Straße und das direkt an der Mauer gelegene Friedrich-Ludwig-Jahn-Spoertpark.
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Loch in die Mauer gerissen

Während die Abriegelung des Betonwalls am Brandenburger Tor noch läuft, gelingt es einer kleinen Gruppe, ein frei gemeißeltes etwa drei Quadratmeter großes Segment mit einem Jeep aus der Mauer herauszureißen. Nachdem die West-Berliner Polizei ankündigt, bei weiteren Beschädigungen der Mauer Festnahmen durchzuführen, beginnt sie mit Helm, Schild und Schlagstock einzuschreiten. Die Beamten sind im Umgang mit Hausbesetzungen und dergleichen erfahren und können die private Abrissaktion schnell beenden. Das Mauersegment wird wieder aufgerichtet und von Ost-Berliner Seite zurückgezogen, in die Mauer eingepasst und verschweißt.

Stasi und NVA beraten Ergebnisse der ZK-Tagung

Wie nach Tagungen des ZK der SED üblich, finden heute Versammlungen von SED-Mitgliedern in Betrieben, Einrichtungen und staatlichen Institutionen statt. Dort sollen die richtungweisende Rede des Generalsekretärs und die wegweisenden Beschlüsse des ZK-Plenums "erläutert" und "ausgewertet" werden. Auch im MfS findet 9 Uhr eine Parteiaktivversammlung statt. Das einleitende Referat hält nicht mehr Noch-Minister Erich Mielke, sondern Krenz-Spezi Wolfgang Herger. Die Ablösung Honeckers und der Anteil des MfS - in Person Mielkes - daran wird noch einmal ausgeführt. Anschließend werden Vorwürfe laut, die Partei habe die Stasi in den letzten Wochen im Stich gelassen. Offenbar laufend wird Herger während der Sitzung über die "außerordentlich komplizierte Lage" am Brandenburger Tor informiert. West-Berliner "Provokateure" seien im Begriff, die Mauer einzureißen. Maßnahmen seien eingeleitet. Man hoffe, die "Vernunft auf der anderen Seite" werde siegen.

Auch im Ministerium für Nationale Verteidigung ist am Morgen die neue Situation kontrovers diskutiert worden. Armeegeneral Heinz Keßler, Verteidigungsminister der DDR, und seine beiden Stellvertreter Generaloberst Fritz Streletz und Generaloberst Horst Brünner werden mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Man wirft ihnen "Anmaßung von Privilegien" und "Streben nach persönlichen Vorteilen" vor allem aber die Kopf- und Führungslosigkeit in der Nacht des 9. November vor. Immer wieder verlassen Keßler und Streletz den Raum, was ihnen den Vorwurf einbringt, sich der kritischen Diskussion entziehen zu wollen. Tatsächlich werden sie über die kritische Lage am Brandenburger Tor informiert. Da angeblich ein "Sturm auf das Brandenburger Tor" bevorstehe, wird die Sitzung abrupt abgebrochen. Der Sozialismus sei in Gefahr. Jetzt sei keine Zeit, weiter zu diskutieren. "Jeder an seinen Platz!"

Am Morgen des 11. November erobern Grenztruppen der DDR die Panzermauer auf der Westseite des Brandenburger Tors zurück. Die Öffnung der Grenze sollen sie nicht rückgängig machen. Die Besetzung der Mauer durch tausende Berliner wird von den Grenztruppen aber als Provokation empfunden. Angetrunkene hatten in der Nacht zuvor Feuerwerkskörper auf das Brandenburger Tor geschossen und leer getrunkene Flaschen auf die Ostseite geschmissen. Am zweiten Tag nach der Grenzöffnung ist die Berliner Mauer zwar obsolet, die Grenztruppen stehen allerdings weiter unter dem Befehl, die Grenzanlagen zu sichern.
Am Morgen des 11. November erobern Grenztruppen der DDR die Panzermauer auf der Westseite des Brandenburger Tors zurück. Die Öffnung der Grenze sollen sie nicht rückgängig machen. Die Besetzung der Mauer durch tausende Berliner wird von den Grenztruppen aber als Provokation empfunden. Angetrunkene hatten in der Nacht zuvor Feuerwerkskörper auf das Brandenburger Tor geschossen und leer getrunkene Flaschen auf die Ostseite geschmissen. Am zweiten Tag nach der Grenzöffnung ist die Berliner Mauer zwar obsolet, die Grenztruppen stehen allerdings weiter unter dem Befehl, die Grenzanlagen zu sichern.
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08:05 Uhr: Räumung der Mauer beginnt

Viele Besetzer und Schaulustige haben den Ort der Eskalation inzwischen verlassen. Mit Wasserwerfern werden die Menschen auf der mauer nicht direkt bespritzt, sondern nass gerieselt. Dreihundert unbewaffnete Grenzsoldaten entern mit Holzleitern die Mauerkrone am Brandenburger Tor. Teils behutsam, teils mit Gewalt werden die letzten Mauerbesetzer zum Sprung in den Westen gedrängt. Trotz Stein- und Flaschenwürfen behalten die Grenzer ihre Nerven. Als die Mauer geräumt ist, fahren fünfzehn Mannschaftswagen der West-Berliner Polizei vor und sichern Stoßstange an Stoßstange die Rückeroberung des Betonwalls durch die DDR-Grenztruppen ab. Ein erneutes Besteigen des Mauerrondells ist nicht möglich.

08:00 Uhr: West-Berliner Polizei bietet Unterstützung an

Das DDR-Außenministerium nimmt Kontakt zum West-Berliner Senat und über die sowjetische Botschaft zu den West-Alliierten auf. Währenddessen schlägt der West-Berliner Polizeipräsident Schertz den DDR-Grenztruppen vor, die Mauerkrone am Brandenburger Tor mit friedlichen Mitteln zu räumen und anschließend mit Posten besetzt zu halten. Von West-Berliner Seite werde man flankierende Sicherheitsmaßnahmen einleiten und zur Entschärfung beitragen.

07:30 Uhr: Alarm am Brandenburger Tor

Als es Mauerspechten fast gelingt das südlich an die Panzermauer angrenzende Mauersegment herauszulösen und eine Bresche in die Mauer zu reissen, löst die Volkspolizei Alarm aus. Drei Hundertschaften des Stadtkommandanten marschieren auf . Die Grenztruppen führen zusätzliche Reserven heran. Der Einsatz der Wasserwerfer wird vorbereitet.

00:30 Uhr: Grenztruppen drohen mit Polizeigewalt

Die Berliner, die zu tausenden auf der Mauerkrone am Brandenburger Tor feiern, werden per Lautsprecher aufgefordert, den Handlungsraum der Grenztruppen zu verlassen. Andernfalls erfolge in zehn Minuten der Einsatz polizeilicher Mittel. Auch die West-Berliner Polizei fordert zum Verlassen der drei Meter breiten Panzermauer auf. Die Grenztruppen scheuen aber vor einem Einsatz von Gewalt zurück. Stattdessen räumen sie mehrfach den Vorraum des Brandenburger Tors und übergeben die Mauerspringer der Volkspolizei, die diese über die Grenzübergänge nach West-Berlin abschiebt.

00:00 Uhr: Grenztruppen erhöhen Präsenz

Die Grenztruppen am Brandenburger Tor erhöhen ihre Präsenz. Sechs Lastwagen mit Armeeangehörigen fahren vor. Ein Wasserwerfer wird "zur Demonstration" auf die Höhe des Brandenburger Tors vorgezogen. Kurze Zeit später wird ein zweiter Wasserwerfer in Stellung gebracht.

In einer Privataktion haben Mauerspechte ein Mauersegment heraus gerissen.
In einer Privataktion haben Mauerspechte ein Mauersegment heraus gerissen.
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Thomas Heil

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