Logenbrüder: Freimaurer: Die aufgeschlossene Gesellschaft
„Wir müssen uns öffnen“, sagt Christoph Bosbach, und: „Wir haben keine Ahnung, wie das geht.“ Denn Deutschlands Freimaurer pflegen die Geheimhaltung – seit nun 300 Jahren. Fast haben sie sich totgeschwiegen
Wenn Christoph Bosbach an einem stressigen Donnerstag von der Arbeit kommt, wechselt er die Kleidung, streift weiße Handschuhe über und bindet sich den weißen Schurz um die Hüften. „Dann kommt etwas, von dem ich seit 20 Jahren jede Silbe kenne.“ Und wovon er keine Silbe verraten kann. Das Ritual der Freimaurer. Seine Wahrnehmung verändere sich, in der Stille des Versammlungsortes, bei einer brennenden Kerze. Er komme runter. Die Besuche in der Loge „haben einen Rosenkranz-Effekt“, geradezu läuternd. Sie machten ihn auch im Alltag zu einem anderen Menschen.
Christoph Bosbach ist der oberste Freimaurer der Bundesrepublik, Großmeister der Vereinigten Großlogen von Deutschland. Er sagt: „Ich, Christoph, habe als Erstes gelernt: Wenn ich mich über jemanden ärgere, frage ich mich: Was habe ich selbst dazu beigetragen?“ Erst, wenn nach der Selbstbefragung noch etwas übrig bleibe, konfrontiere er den anderen. „In einer Gemeinschaft, in der jeder andere genauso denkt, ist es fast ausgeschlossen, dass Sie sich streiten.“ Und dann sagt er: „Wir haben alle keine Angst vor dem Tod.“
„Ich bin Polizist und Freimaurer“
Wie bitte? 15.000 deutsche Freimaurer, geschätzte 6,8 Millionen weltweit, und jeder einzelne ohne Angst vorm Tod?
Dass man mit Bosbach an einem Dienstagmittag im Juli 2017 im stillen, grünen Erker der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland in Berlin-Dahlem so offen sprechen kann, hat damit zu tun, dass die Freimaurer in diesem Jahr 300 Jahre alt werden. Zugleich stehen sie vor der vielleicht größten Umwälzung ihrer Geschichte. Denn sie haben das mit der Geheimhaltung so ernst genommen, dass sie sich fast totgeschwiegen haben.
So gravierend ist die Lage, dass ausgerechnet die verschwiegenen Freimaurer für das kommende Jahr zum ersten Mal über eine Plakatkampagne nachdenken. Überraschende Motive schweben ihnen vor: „Ich bin Polizist und Freimaurer.“ Schon jetzt existiert eine elegante, moderne Webseite. Die Protestbriefe der 80-jährigen Mitglieder gingen handschriftlich ein.
15000 Mitglieder im Land, verteilt auf 500 Logen, „das ist einfach zu wenig“, sagt Bosbach. Vor dem zweiten Weltkrieg gab es 130 000 Mitglieder, das kleinere England hat heute 210 000. In England ist der Duke of Kent, ein Onkel von Prinz William, Schirmherr der englischen „Freemasons“. „Da sind die Freimaurer gesellschaftlich ganz anders angesehen.“
Das war in Deutschland auch einmal so. Goethe, Lessing, Liszt waren dabei, die älteste Loge Berlins gründete Friedrich II. Caspar David Friedrich war Berliner Freimaurer und Kaiser Wilhelm I. Nun steht das Jubiläum an und Christoph Bosbach sagt: „Wir haben 300 Jahre Erfahrung, uns in einen Kokon einzuspinnen und nichts nach außen dringen zu lassen.“
Filmleute legen für ihre Krimis noch eine Leiche dazu
Mittags um eins ist das Haus im lauschigen Dahlem still, im Wartezustand. Die Großloge der Vereinigten Logen von Deutschland ist auf Eindruck angelegt, wie viele Logenhäuser mit ihren Freitreppen und Säulen. Knarzendes Parkett, holzgetäfelte Wände, Kassettendecken, Clubsessel. Einige Fenster sind zugemauert, andere verhangen. In einer beleuchteten Vitrine hängen die Requisiten für das Freimaurer-Ritual, die weißen Schurze. Ab und zu, sagt Bosbach, drehen Filmleute hier auch mal einen Krimi. Dann legen sie noch eine Leiche dazu.
Zwei Mal gab es in Deutschland einen großen Aderlass, von dem sich die Freimaurer kaum mehr erholten: Im „Dritten Reich“ und in der DDR waren die Logen verboten. Eines sei allen klar, sagt Bosbach: „Wir müssen uns öffnen. Aber wir haben keine Ahnung, wie das geht.“
Wie viel muss man verbergen, um interessant zu bleiben?
Wie viel muss man preisgeben, um interessant zu werden? Und wie viel muss man verbergen, um interessant zu bleiben? Das sind die Fragen. Bosbach hat einen weltlichen Beruf in einer IT-Firma, er ist Träger von Manschettenknöpfen und Vater. Wenn früher ein Freimaurer starb, sagt Bosbach, wusste oft nicht einmal die Ehefrau Bescheid, obwohl ihr Mann sein Leben lang zu den Treffen gegangen war. Bis die Logenbrüder zur Beerdigung erschienen. Seine beiden Söhne dagegen kennen es nicht anders: Donnerstags geht Papa mauern.
Und als amtierender Großmeister der Vereinigten Großlogen von Deutschland reist er nun an 35 Wochenenden im Jahr um die Welt. Er hat die riesigen Logen in Südamerika gesehen und in Afrika, wo Freimaurer sich auch um soziale Belange wie Brunnenbau kümmern. Liberalere Länder hätten auch liberalere Freimaurer: In Den Haag gebe es sogar einen Demo-Tempel für Besucher. In England sitzen Freimaurer in Talkshows.
Doch in allen Staaten, die einmal faschistisch waren oder von einer Diktatur beherrscht, sagt Bosbach, hätten sie heute einen schweren Stand. Ein „Geheimnis“ ist dort verdächtig.
Es schien sich einfach zu oft zu beweisen, wie zuletzt bei der katholischen Kirche, dass exklusive Gesellschaften mit ihren eigenen Regeln unterdrückende Systeme, geradezu Parallelwelten entwickeln können. Die Freimaurer in Deutschland, weder antireligiös noch staatsfeindlich, zogen sich in diesem Klima immer mehr zurück - und wurden deshalb immer erklärungsbedürftiger.
Ihre alten Begriffe haben sie vor allem beibehalten, weil sie keinem Zeitgeist unterliegen wollten. Aber nun stecken die voller missverständlicher Ausdrücke, weil die Außenwelt ganz andere Dinge mit ihnen verbindet. Die Brüder (ist das nicht ein Orden?) gehen in ihren Tempel (ist das nicht eine Religion?), um miteinander Rituale zu begehen (ist das nicht eine Sekte?), deren Details nicht jeder wissen darf (ist das nicht ein Geheimbund?). Es sind nur Männer (ist das nicht eine Burschenschaft?), die einander vorbehaltlos vertrauen (ist das nicht eine Seilschaft?), und die in einem geschützten Raum gemeinsam offen über ihren Charakter sprechen sollen (ist das etwa eine Selbsthilfegruppe?). Die wenigen Frauenlogen entsprechen nicht den Freimaurerstatuten.
Sie sind stolz darauf, auch Klempner zu haben
Das Freimaurertum richte sich nach innen, sagt Bosbach. Es handele sich eigentlich um eine moral-philosophische Weltanschauung, eine moralisch-sittliche Schulung. „To make a good man better“, sagen sie in England. Die Lehre ziele auf den Charakter. „Sie erhalten einen Werkzeugkasten, der am Anfang nur zu zehn Prozent gefüllt ist“, sagt Bosbach. Die „Brüder“ arbeiten dann an sich selbst. Von einem Erkenntnisgrad zum nächsten erhalte man neue Werkzeuge dazu.
Und eines dieser Werkzeuge helfe einem eben dabei, mit der eigenen Vergänglichkeit zu leben. Er selbst jedenfalls, sagt Bosbach, habe seine Angst vor dem Tod bei den Freimaurern verloren. Sie versprächen kein Leben nach dem Tod, „es ist dann einfach okay.“
Weil der Gründungsmythos beschreibt, dass die Wurzeln der Freimaurer bei den gut ausgebildeten Steinmetzen der Dombauhütten zu finden seien, ist das Selbst „der raue Stein“, den es zu formen gilt. Mit den Werkzeugen von Gewissen, Vernunft und Gerechtigkeit, Toleranz und Weltoffenheit. Offiziell gegründet wurden sie 1717 in einer gemeinen englischen Kneipe.
So elitär die Logen von außen heute wirken mögen, innerhalb gelte das völlige Loslösen von vordergründigem sozialen Status. Die Freimaurer sind stolz darauf, auch Klempner zu haben. Reflektierte Klempner. Drei Stufen sind in jeder Loge gleich: Lehrlinge, Gesellen und Meister. Nach dem Abendessen räumen die Lehrlinge den Tisch ab. Auch Vorstandsvorsitzende sind in diesem Sinne Lehrlinge. Man glaube gar nicht, sagt Bosbach, wie schön es Leute fänden, die im richtigen Leben laufend Entscheidungen treffen, wenn ihnen einer sagt, was sie tun sollen!
Dann muss Bosbach los. Raus ins weltliche Berlin. Er startet seinen überaus zeitgenössischen Carsharing-BMW und greift mit der beringten Freimaurer-Hand ums Lederlenkrad. Den Ring trägt er nur, wenn er in der Sache unterwegs ist. Er will sich schließlich nicht allen Vorurteilen aussetzen.
Sie wissen inzwischen, dass viele ihrer Begriffe und Symbole zunächst abschrecken. „Lassen Sie sich von dem Logennamen nicht verunsichern“, steht warnend auf der Homepage der Berliner Loge „Zum Todtenkopf und Phönix“. Für Freimaurer seien der Totenkopf und Phönix nicht gruselig, sondern ein Symbol für Verwandlung und Erneuerung.
Und erneuern will sich jetzt die ganze Institution. Ein Zeichen dafür, dass die Öffnung kaum noch aufzuhalten ist, ist die Existenz der beharrlichen, 28-jährigen Fotografin Juliane Herrmann. Im September erscheint ihr Buch „Man among men“, Mann unter Männern. Fünf Jahre lang ist sie durch internationale Logen gezogen und hat sie fotografiert, die Räume, die Männer, mal gegen kleineren, mal gegen größeren Widerstand. Und mal gegen überhaupt keinen Widerstand.
Zum 300. Jubiläum findet im September in Hannover ein großer, öffentlicher Festakt statt. Christoph Bosbach wird sprechen und sein Pendant aus England, Pro Grand Master Peter Lowndes. Der Ministerpräsident von Niedersachsen, Stephan Weil, soll die Festrede halten. Vielleicht wird er fallenlassen, dass Eddy Murphy, Axel Springer und Karl-Heinz Böhm Freimaurer waren. Gregor Gysi und Norbert Lammert sprachen gerne vor Logen-Mitgliedern.
Was aber reizt einen Jungen? Es dauert einige Monate, bis die Freimaurer einen aufnehmen. Man bekommt einen Paten. Das Durchschnittsalter liegt bei etwa 56. Aber tatsächlich ist eigentlich niemand 56 Jahre alt. Sie sind entweder zwischen 70 und 90 oder zwischen 25 und 40.
Frank Mielke, seine jugendlich 38-jährige Existenz und die Tatsache, dass er so offen spricht, sind schon der Beweis, dass hier gerade etwas Neues passiert. Mielke kann man in Köln anrufen, und vielleicht passt es ganz gut, dass er hier nur eine Telefonstimme bleibt. Er schätzt Konzentration auf eine Sache.
Was ist ein besserer Mensch?
Vor zwölf Jahren hat Mielke sich, wie heute in 99 Prozent aller Anfragen, per Internet-Kontaktformular gemeldet. Er war damals 26 und Student in Bonn. Er interessierte sich im Zeitalter der Transparenz für etwas Verschwiegenes, im Zeitalter der Flexibilität für etwas Stabiles und im Zeitalter der Ironie für Ernsthaftigkeit. Abgestoßen vom Gehabe der Burschenschaften, begegneten ihm immer wieder Hinweise auf die Freimaurer. Es streifte ihn bei Goethes Faust und in Bayreuth. Mozarts Zauberflöte steckte voll versteckter Symbolik. Selbst im Programmheft war die Rede von Mozarts „Freimaurerwerk.“
Mielke hat vor dem Studium eine Ausbildung zum Werbekaufmann abgeschlossen, er tat, wie man das in vielen Berufen tut, „Dinge die heute wichtig sind, aber morgen egal“. Weil ihm das nicht reichte, wurde Mielke zu einem „Suchenden“, wie Freimaurer Interessierte nennen. Mielke war so aufgeregt, als er sich vor dem Logenhaus in der Bonner Südstadt vorstellte, dass er vorher den Ort auskundschaftete und schaute, wo er später parken könnte.
Dem Germanistikstudenten, Liebhaber des Deutschen, gefiel, dass seine Loge später „Freimut und Wahrheit zu Köln“ heißen sollte. Freimut! „Ein Begriff, den man im normalen Leben kaum benutzt.“ In einer Rede in der Loge wollte er über diesen Begriff sprechen und unternahm deshalb vorher mal eben eine Straßenumfrage in Bonn. Von den 100 Passanten, die er befragte, nahm der Großteil an, Freimut hätte mit Seeräuberei zu tun. Die am wenigsten Informierten vermuten hinter dem ganzen Verein den Klu-Klux-Klan.
Laut Website suchen sie „vorurteilsfreie Männer von gutem Rufe“. Das Ziel: Ein „gefestigter Charakter“, um „ein besserer Mensch“ zu werden. Mittelbar werde durch eine Vielzahl besserer Menschen auch die Welt eine bessere. Was aber ist der bessere Mensch?
Nach zwölf Jahre noch immer Gänsehaut
Freimaurerei ist ein menschlicher Veredelungsprozess, so wie man aus Innereien feine Wurst oder aus Trester edle Brände herstellt. Vielleicht auch so, wie man Rosen pfropft. Der Weg zum „sittlich veredelten“ Menschen ist das „Ritual“.
Wie letzteres abläuft, wollen immer alle wissen. Mielke darf den Wortlaut nicht verraten. Er würde einem auch gar nichts sagen. Der Verlust für die Eingeweihten wäre riesig, der Gewinn für die Außenstehenden quasi nicht vorhanden. Aber sinngemäß darf er erzählen. Das Ritual sehe aus wie eine Konfrontation mit anderen „Brüdern“, aber eigentlich ist es eine mit sich selbst. Ein „Enactment“ würde man heute sagen, wenn sich unter ihnen ein Drehbuch entspinnt, in dessen Mittelpunkt man selber steht. Es herrscht Konzentration, die Kerze brennt. „In Ordnung, Brüder.“ So beginne das Ritual. Es gehe auch um eine moralische Sortiertheit im Zeitalter der Zerstreuung. „Ich bin dein Gewissen, gibt es mich in deinem Leben?“
Das geheime Ritual hat einen so großen Anteil an der Freimaurerei, dass, wer doch nur die Kontakte suchte, irgendwann einfach austreten muss, sagt Mielke. Etwa 15 Jahre braucht einer allein, um alle Erkenntnisstufen zu durchlaufen. Und es soll, das sagen sie neuen Mitgliedern, ein Bund fürs Leben sein. Freimaurerei ist eine Lebensentscheidung. Wer die wöchentlichen Treffen verpasst, braucht eine gute Entschuldigung.
Er ist jetzt schon zwölf Jahre dabei, aber bis heute reagiert Frank Mielkes Körper mit einer Gänsehaut, wenn es sinngemäß heißt: Jetzt geht in die Welt und bewährt euch als Freimaurer.
Der Text erschien am 12. August 2017 im gedruckten Tagesspiegel und im Online-Kiosk Blendle.