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Keine Anklage gegen Darren Wilson: Ferguson steht in Flammen

Es war Mord, sagen Zeugen. Es war Notwehr, sagt der Polizist. Die Jury entscheidet: Keine Anklage gegen Darren Wilson, der den 18-jährigen Michael Brown erschoss. Und wie im August kommt es erneut zu Straßenschlachten. Doch diesmal nicht nur in Ferguson.

All die Prophezeiungen, sie erfüllten sich am Ende von selbst. Wie die Polizei für diesen Tag militärisch aufgerüstet hatte, wie die Demonstranten bereits im Vorfeld den Fall der Niederlage probten, wie die Anwohner sich auf das Schlimmste eingestellt und Politiker Panik geschürt hatten: Die Nacht in Ferguson war zum Chaos bestimmt, ehe sie überhaupt begonnen hatte. Das Ausmaß allerdings übertraf selbst die düstersten Erwartungen.

Am 9. August hatte der weiße Polizist Darren Wilson den schwarzen, unbewaffneten Teenager Michael Brown in der Kleinstadt Ferguson im Bundesstaat Missouri erschossen. Am Montagabend, dreieinhalb Monate nach dem Tod des 18-Jährigen, entschied die Grand Jury, eine vorgerichtliche Instanz, dass der Beamte nicht angeklagt wird.

Um 20.20 Uhr Ortszeit sprach Robert McCulloch, der Staatsanwalt des St. Louis County, jene Worte aus, die so lange erwartet und befürchtet wurden: „No indictment“, Keine Anklage. Seitdem steht Ferguson in Flammen.

Bereits am frühen Montagabend hatten sich hunderte Demonstranten vor der Polizeistation in Ferguson, am ehemaligen Dienstsitz des 28-jährigen Todesschützen, versammelt. Über ein Autoradio wurde die Pressekonferenz des Staatsanwaltes übertragen. Die Masse, die eben noch tobte, war plötzlich unheimlich still. Auch Leslie McSpadden, die Mutter des getöteten Teenagers, war gekommen. Als die Entscheidung verkündet wurde, liefen ihr erst Tränen über die Wangen, dann brach sie zusammen. Immer wieder rief sie: „Wer bringt mir mein Kind zurück?“

Obama appelierte an die Demonstranten - ohne Erfolg

US-Präsident Barack Obama appellierte direkt im Anschluss an die Protestierenden in Ferguson, sich friedlich zu verhalten. „Wir müssen diese Entscheidung akzeptieren“, sagte er. Doch seine Worte zeigten keine Wirkung. Kurze Zeit später brannte das erste Polizeiauto in der Nähe der Wache. Die Beamten schossen mit Tränengas, es kam zu Straßenschlachten. Die anklagenden „no justice, no peace“-Rufe waren längst vom aggressiven „fuck the police“ abgelöst worden. Protestierende warfen mit Flaschen und Ziegelsteinen in Richtung der Beamten und kippten Streifenwagen um.

Während viele Menschen, die zum friedlichen Protest gekommen waren, die Straßen aus Angst verließen, begannen andere erst mit der Zerstörung. Manche von ihnen waren extra aus anderen Städten angereist. Sie schlugen Schaufenster ein, plünderten Geschäfte und steckten sie anschließend in Brand. Bis spät in die Nacht brannten mehrere Gebäude und mindestens ein Dutzend Autos. Die Feuerwehr war mit den Löscharbeiten überfordert. Mehr als 60 Menschen wurden verhaftet, mehrere verletzt. „Wilson, du Mörder. Wir brennen diese Stadt nieder“, rief ein vermummter junger Mann, trat gegen einen Wagen und lief davon.

„Was wir heute gesehen haben, war wesentlich schlimmer als alles im August. Ich bin sehr enttäuscht“, sagte Jon Belmar, Polizeichef des St. Louis County, am Dienstagmorgen. Doch wie im August hatten die Beamten auch im November ihren Anteil an der Eskalation. Auf den Straßen sah man Polizisten, wie sie ihre Schlagstöcke provozierend schwangen oder mit Gewehren auf harmlose Demonstranten zielten.

Von Entspannung keine Spur

Die Polizei hatte in den vergangenen Wochen immer wieder betont, dass sie von den Ereignissen im August gelernt habe. „Wenn es Proteste gibt, versuchen wir die Situation zu entspannen“, sagte ein Sprecher der Polizei noch vor wenigen Tagen. Doch von Entspannung war keine Spur.

Die zwölfköpfige Grand Jury, die die Entscheidung über eine Anklage fällen sollte, hatte ihre Arbeit im August aufgenommen. Drei Monate lang wurden Beweise gesichtet und rund 60 Zeugen verhört. Die Aussage des Polizisten, der sich auf Notwehr berief, stand im Gegensatz zu den Aussagen mehrerer Zeugen, die von Mord sprachen.

Dennoch kam das Gremium zu dem Entschluss, dass kein Prozess nötig sei, um die offenen Fragen zu klären. Staatsanwalt Robert McCulloch sagte, dass der Tod Michael Browns eine tragische Geschichte sei, „jedoch keine Straftat“. In den USA ist es wesentlich schwieriger, einen Beamten anzuklagen, als beispielsweise in Deutschland. Erklärt ein Polizist, dass er sein Leben verteidigen musste, wird dem nur selten widersprochen.

Nur 90 Sekunden: Wie es zum Tode von Michael Brown kam

In Flammen. Nach Stunden der Randale, des Gefechts zwischen Polizisten und Demonstranten, erwischte es in Ferguson auch diese Boutique.
In Flammen. Nach Stunden der Randale, des Gefechts zwischen Polizisten und Demonstranten, erwischte es in Ferguson auch diese Boutique. In den frühen Morgenstunden des Dienstags brannte sie restlos aus.
© Adrees Latif/Reuters

90 Sekunden. So wenig Zeit lag damals zwischen dem ersten Augenkontakt von Wilson und Brown und den Schüssen. Wilson forderte aus seinem Auto heraus den Jugendlichen und dessen Freund Dorian Johnson auf, von der Straße auf den Bürgersteig zu wechseln. Dass Brown zuvor in einem Geschäft Zigaretten geklaut hatte, war dem Beamten zu dem Zeitpunkt nicht bewusst.

Am Auto kam es zu einem Gerangel, dann lief Brown weg, drehte aber nach kurzer Zeit wieder um, so viel steht fest. Nur: Wollte der Teenager den Polizisten attackieren – oder aber taumelte der verletzte Brown Richtung Boden und hatte dabei sogar seine Hände erhoben? Die alles entscheidende Frage, sie wird nie geklärt. Insgesamt trafen den unbewaffneten Jugendlichen mindestens sechs Kugeln, zwei davon in den Kopf. Browns Leiche lag vier Stunden in der Mittagssonne.

Darren Wilson hatte die Chance, seine Sicht der Situation vor der Grand Jury zu beschreiben. Dabei hat er ausgesagt, er habe sich in Lebensgefahr gesehen. Auf dieser Gefahr für den Polizisten baut die Argumentation auf, der Officer müsse nicht angeklagt werden. Allerdings bleibt auch nach Lektüre der Aussage, deren Transkript (Wilson-Aussage ab Seite 196) der Staatsanwalt von St. Louis County jetzt freigegeben hat , die Gefahr nur schwer nachvollziehbar.

Die größten Rassenunruhen sei Jahren

Was folgte, waren die größten Rassenunruhen, die die USA seit Jahren erlebt hatten. Tausende Demonstranten standen hunderten schwerbewaffneten Polizisten gegenüber. Insgesamt wurden 400 Menschen verhaftet, unzählige weitere verletzt. Eine solche Welle von Ausschreitungen wird auch jetzt wieder befürchtet.

Doch wie konnte dieser Fall ein Land so gewaltig erschüttern? Weil sich in ihm gleich zwei dauerpräsente Grabenkämpfe vereinen: Rassismus und Polizeigewalt. Auf der einen Seite ein Schwarzer, auf der anderen ein Weißer. Auf der einen Seite ein Teenager, auf der anderen ein Officer. Dazwischen ein großer Raum voller Vorurteile.

Jeder hier hat seine persönliche Diskriminierungsgeschichte

Egal mit wem man hier in Ferguson in den vergangenen Tagen sprach, jeder konnte seine persönliche Diskriminierungsgeschichte erzählen. Alltäglicher Rassismus ist in den USA ein Thema von erschreckender Präsenz, in vielen Fällen ist er institutionalisiert. „Zwischen farbigen Menschen und der Polizei herrscht tiefes Misstrauen“, sagte Obama gestern in seiner Ansprache. Zum Ärger vieler bestand die zwölfköpfige Jury aus neun Weißen und nur drei Schwarzen. Auch die Ernennung McCullochs wurde heftig kritisiert. Der Staatsanwalt hat enge Kontakte zu der Polizei. Sein Vater wurde vor 50 Jahren von einem Schwarzen ermordet.

In den Augen vieler geht vom Staat zu viel Gewalt aus. In dieser Woche wurde ein 12-jähriger Junge in Ohio von Polizisten erschossen, das Kind hatte mit einer Spielzeugpistole herumgefuchtelt. Präsident Barack Obama will sich des Themas annehmen, er lässt nun prüfen, ob sich die Polizei weiter problemlos mit Militärausrüstung eindecken darf.

Hamsterkäufe: Wie die Bürger sich auf den Tag vorbereitet haben

In Flammen. Nach Stunden der Randale, des Gefechts zwischen Polizisten und Demonstranten, erwischte es in Ferguson auch diese Boutique.
In Flammen. Nach Stunden der Randale, des Gefechts zwischen Polizisten und Demonstranten, erwischte es in Ferguson auch diese Boutique. In den frühen Morgenstunden des Dienstags brannte sie restlos aus.
© Adrees Latif/Reuters

Je näher der Beschluss der Grand Jury rückte, desto bizarrer wurden die Vorbereitungen darauf. Manche Bewohner des Vorortes von St. Louis kauften Lebensmittel, Kerzen und Wasser auf Vorrat. Die Polizei, die fast nur aus Weißen besteht, obwohl knapp 70 Prozent der Bewohner schwarz sind, investierte rund 170 000 Dollar in neue Schutzschilde, Helme und Tränengaskanister.

Ladenbesitzer verbarrikadierten ihre Schaufenster mit Holzplatten. Das Justizgebäude wurde abgeriegelt. Der Ku-Klux-Klan lieferte sich in den vergangenen Tagen einen Twitter-Streit mit der Hacker-Organisation Anonymous. Und Jay Nixon, der Gouverneur von Missouri, rief bereits Anfang November präventiv den Notstand aus und bestellte die Nationalgarde nach Ferguson.

Manche Einwohner stockten im Vorfeld auch ihr privates Waffenarsenal auf. Ein bekannter Reflex. Wenn in den USA ein Mensch durch eine Schusswaffe ums Leben kommt, steigt die Zahl der verkauften Schusswaffen. So war es nach Schulamokläufen und Attentaten wie dem im Kino von Aurora in Colorado 2012 zu beobachten. Und jetzt auch in Missouri. Steven King, der Nahe Ferguson ein Waffengeschäft führt, verkauft derzeit dreimal so viele Pistolen und Gewehre wie sonst. „Die Leute hier haben Angst vor erneuten Ausschreitungen. Sie wollen sich verteidigen können“, sagt der 51-Jährige.

Viele seiner Sätze beginnen mit "Ich bin kein Rassist, aber ..."

King unterstützt, wie die meisten seiner Kunden, den Polizisten. Wilson habe schließlich „aus Notwehr gehandelt“, der schwarze Jugendliche dagegen habe einige Fehler gemacht, sagt King. Er ist ein Mann, der viele Sätze mit „Ich bin kein Rassist, aber ...“ beginnt.

Officer Wilson, für den mehrere hunderttausend Dollar an Spenden gesammelt wurden, ist seit August bei vollen Bezügen vom Dienst befreit. Seine Zukunft ist noch ungeklärt, er scheint aber seine alte Stelle nicht wiederhaben zu wollen.

Auch in anderen Städten des Landes trieb der Zorn die Menschen auf die Straßen. In Los Angeles, Chicago und der Hauptstadt Washington D. C. versammelten sich Tausende. Bei einer Kundgebung in New York City wurden mehrere Menschen verhaftet, nachdem Demonstranten die Brooklyn Bridge blockiert hatten. Für die nächsten Tage sind in rund 100 Städten der USA Protestmärsche angemeldet.

„Diese Krawalle hören so schnell nicht auf“, sagte ein Polizist. Genauso wenig, wie die Probleme aufhören zu existieren, um die es hier geht. (mit babs)

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