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Kuchenorakel. In dieser Konditorauslage liegen die Befürworter der Pro-UK-Kampagne in Führung. In seriöseren Umfragen rangieren die beiden Positionen direkt vor der Wahl gleichauf.
© Russell Cheyne/Reuters

Referendum in Schottland: Endspurt - Should I stay or should I go?

„Es geht um meine Kinder“, sagt eine und will mit Nein stimmen. „Ich mag keinen Nationalismus“, sagt eine andere. Sie will trotzdem mit Ja stimmen. An diesem Donnerstag entscheiden die Schotten über ihre Unabhängigkeit. Der Streit darüber trennt Freunde und Familien.

Claire Barlas pocht mit dem Stift auf ihre Liste und nickt in Richtung Hausnummer 61. „Hier wohnen ein Nein und ein Vielleicht. Da haken wir nach“, sagt sie. Die Frau im eleganten grauen Mantel öffnet das Gartentor. Der Weg zur Haustür ist vermoost, im Erdgeschoss ist ein Fenster eingeschlagen. Hinter ihr tippelt Heather Walker in Ballerinas über die brüchigen Steinplatten, hält die Papiere mit dem „No thanks“-Logo fest umklammert. Claire klingelt zweimal. Die Tür bleibt zu. Claire beugt sich über den Stadtplan. Ist das überhaupt die richtige Straße? Hier, im Stadtteil Leith im Norden des schottischen Edinburgh, in dem viele Menschen kein Geld und keine Arbeit haben, kennt sich die Innenarchitektin nicht aus. Aber sie will sich von der trostlosen Kulisse nicht abschrecken lassen. „Es geht um das Leben meiner vier Kinder“, sagt die 48-Jährige. „Um die Zukunft Schottlands.“

An diesem Donnerstag stimmen die Schotten über eine einfach klingende Frage ab: Soll Schottland ein unabhängiges Land werden? „Yes“ sagen die Befürworter einer Abspaltung, „No“ diejenigen, die lieber Teil des Vereinigten Königreichs bleiben möchten – wie sie es seit mehr als 300 Jahren sind.

Seit Monaten wird über die Antwort gestritten, in der Politik, in den Medien, in Familien. Aufbruchseuphorie trifft auf Entsetzen über ein mögliches Ende des Vereinigten Königreichs. Emotion trifft auf Ökonomie.

In England hat man die Abstimmung lange nicht ernst genommen

Auf der englischen Seite nahm man die Abstimmung lange nicht wirklich ernst, bis eine Umfrage vor wenigen Tagen die schottischen Nationalisten plötzlich in Führung zeigte. Eilends wurden Schottland neue Zugeständnisse versprochen. Mehr Steuerfreiheit, ein eigenes Bodenrecht, Mitsprache in Verfassungsfragen, das Recht, Schulden zu machen. Premier David Cameron flog nach Aberdeen und bat die Schotten, Tränen in den Augen: „Verlasst nicht das Haus, das wir in Jahrhunderten gebaut habt, werft nicht den Schlüssel weg.“ Mick Jagger und David Beckham meldeten sich zu Wort. Sogar die Queen brach ihr Schweigen und ließ nach ihrem Kirchgang eine knappe Bemerkung fallen: „Denkt sorgfältig an die Zukunft.“ Es war eine Warnung.

In Schottland wird das Referendum entweder als eine einmalige Chance gefeiert oder als „kürzeste Suiziderklärung aller Zeiten“ verdammt. Momentan ist nur sicher: Es wird extrem knapp. Rund 97 Prozent der 4,3 Millionen Wahlberechtigten haben sich für die Abstimmung registrieren lassen. Die Lager liegen gleichauf.

Auch Ausländer, die in Schottland wohnen, dürfen wählen

Wählen darf jeder, der seit längerer Zeit in Schottland wohnt, Schotten im Ausland – selbst in England – dürfen dagegen nur zuschauen.

Auch auf der englischen Seite sorgt die Regelung für Ärger. Vor allem in den „Borders“, der Grenzregion, wo der römische Kaiser Hadrian vor 2000 Jahren seine Mauer zur Abwehr der keltischen Barbaren errichtete, wo sich Schotten und Engländer, Kelten und Angelsachsen jahrhundertelang gegenseitig bekriegten. Heute leben in den Städtchen und Dörfern der Borders Engländer und Schotten Seite an Seite, fahren zur Arbeit über die unmarkierte Grenze, in beide Richtungen. In Brampton schimpft einer: „Das ganze Referendum ist eine Schande. Meine Frau ist Schottin und hat keine Stimme, weil sie hier auf der englischen Seite lebt. Aber polnische Studenten in Edinburgh, die das gar nichts angeht, die dürfen abstimmen.“

Emotion gegen Ökonomie

Kuchenorakel. In dieser Konditorauslage liegen die Befürworter der Pro-UK-Kampagne in Führung. In seriöseren Umfragen rangieren die beiden Positionen direkt vor der Wahl gleichauf.
Kuchenorakel. In dieser Konditorauslage liegen die Befürworter der Pro-UK-Kampagne in Führung. In seriöseren Umfragen rangieren die beiden Positionen direkt vor der Wahl gleichauf.
© Russell Cheyne/Reuters

In Edinburgh nutzen die „Yes“-Anhänger und die „No“-Befürworter die letzten Tage und Stunden vor dem Referendum, um an den Türen der mutmaßlich Unentschlossenen zu klingeln. Wer weiß, vielleicht wird es ja genau auf diese eine Stimme aus der Hausnummer 61 ankommen.

Claire Barlas macht ein Kreuz auf ihrer Liste, hier wird am Abend noch mal jemand vorbeigehen. Für Claire ist eine Abspaltung unvorstellbar. „Wir stürzen uns über die Klippe“, sagt sie. Keiner wisse, wie es dann weitergehe mit dem Pfund. Der EU. Der Nato. Sie sagt – und das meint sie ein bisschen im Spaß und ein bisschen ernst –, dass aus Schottland kein Nordkorea werden dürfe, kein Kommunistenstaat, der andere Meinungen unterdrücke und die Wirtschaft vergraule. Sie und ihr Mann haben eine Firma, die gut läuft. Ein abstürzendes Pfund käme ihnen gar nicht gelegen.

Es geht nicht nur um wirtschaftliche Sorgen

Doch wenn Alex Salmond, der Chef der schottischen Nationalisten und Erste Minister von Schottland, Frauen wie Claire Barlase vorwirft, vor allem Ängste wecken zu wollen, dann ist das nur die halbe Wahrheit. „Auch wenn alle wirtschaftlichen Zweifel beseitigt wären“, sagt sie, „würde ich niemals für eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich stimmen.“ Claire ist Britin durch und durch, ihre Mutter Irin, der Vater Schotte, ihre besten Freunde sind Engländer, bei Wortschöpfungen wie RUK – „Remaining United Kingdom“ – wird ihr übel.

Aber auch durch ihre eigene Familie geht der Riss, ihre irischstämmige Mutter will für die Unabhängigkeit stimmen. „Ich beknie sie“, sagt Claire, „sie soll an ihre Enkel denken!“ Bei einem Nein könne man Veränderungen behutsamer herbeiführen, bei einem Ja gebe es kein Zurück mehr.

Als die Frauen eine Straße überqueren, kommt ein Auto angerast und bremst neben ihnen ab. „Wählt: Ja!,schreit der Mann hinter dem Lenkrad und gibt wieder Gas. Die Frauen zucken kurz zusammen. Schnell weiter jetzt, bevor „die anderen“ kommen.

„Die anderen“ sammeln sich jedoch zur gleichen Zeit in einem ganz anderen Teil der Stadt. Im Zentrum von Edinburgh fährt ein mit „Yes“-Stickern beklebtes Auto auf den Nicolson Square. Aus den Lautsprecherboxen dröhnt die Unabhängigkeitshymne „Cap in Hand“ der Band The Proclaimers, inzwischen ein Charthit in Schottland. Wie beim politischen Gegner stapeln sich Säcke mit Adresslisten, Plakate und Kugelschreiber. Der einzige Unterschied ist vielleicht der, dass die vielen Freiwilligen im Schnitt ein bisschen jünger und alternativer gekleidet sind.

Die Tage bis zum Referendum haben sie freigenommen

Liz Ely und Philippa Faulkner, 28 und 25, ziehen heute zu zweit los, beide haben sie sich die Tage bis zum Referendum freigenommen – und beide sind gar keine Schottinnen. „Wir kommen ursprünglich aus Nordengland“, sagt Liz und lacht. Ihr Großvater habe Angst, dass sie ihn nach der Unabhängigkeit nicht mehr so oft in Yorkshire besuchen komme, aber das sei ja Quatsch und der Rest ihrer Familie stehe hinter ihr.

Wie sie zur Unabhängigkeitsbewegung gekommen sei? Sie habe eine Zeit lang in London gelebt und sei erschrocken, wie viel Macht sie dort unten in der Zentralregierung gebündelt hätten. „Wieso sollen die Schotten sich nicht komplett selbst regieren dürfen?“, fragt sie.

Der Kampf um die wenigen Unentschiedenen

Kuchenorakel. In dieser Konditorauslage liegen die Befürworter der Pro-UK-Kampagne in Führung. In seriöseren Umfragen rangieren die beiden Positionen direkt vor der Wahl gleichauf.
Kuchenorakel. In dieser Konditorauslage liegen die Befürworter der Pro-UK-Kampagne in Führung. In seriöseren Umfragen rangieren die beiden Positionen direkt vor der Wahl gleichauf.
© Russell Cheyne/Reuters

„Ich war sogar erst ein No“, sagt Philippa Faulkner, deren nackte Füße trotz des kühlen schottischen Wetters in Sandalen stecken. „Ich mag Nationalismus gar nicht.“ Sie findet auch Alex Salmond unsympathisch, der in diesen Tagen via Twitter Fotos von sich im Helikopter verbreitet, mit dem er über ein „Schottland der Unabhängigkeitsbewegung“ fliegt. Philippa glaubt aber, dass am Ende kein Politiker den Sieg für sich beanspruchen kann. Es sei die Entscheidung der größten schottischen Bürgerbewegung aller Zeiten. „Ich kann die Defizite im englischen Gesundheits- und Bildungswesen nicht ertragen“, sagt sie. „Wir können hier noch mal neu anfangen.“ Sie hofft auf die Zukunft, die Claire am Mittag als Nordkorea bezeichnet hat: eine andere Verteilung der Gelder, mehr soziale Gerechtigkeit – das Gegenteil einer Politik wie die Margaret Thatchers. Ein reiches und gerechtes Land, dank Ölvorkommen eher mit Norwegen als mit England vergleichbar.

Doch obwohl Liz und Philippa in einem „Yes“-Kerngebiet unterwegs sind – wegen der Nähe zur Uni leben dort viele Studenten, und die tendieren eher zur Unabhängigkeit, wenn man den Umfragen glauben mag –, haben sie es nicht immer leicht. Viele Leute wollen ihnen die Tür nicht mehr öffnen, sind von der Stimmung im Land genervt. Sie glauben keiner der beiden Seiten mehr, die sich ständig gegenseitig der Lüge bezichtigen. Am Morgen erst haben sich in den Zeitungen Zweiter-Weltkriegs-Veteranen darüber gestritten, ob die Abkehr von England ein Verrat an der gemeinsamen Geschichte oder ein heroischer Akt für die Zukunft sei.

Nur sechs Prozent der Wähler sind noch unentschieden

Etwa sechs Prozent der Wähler sind laut Umfragen noch unentschieden, fühlen sich von den vielen offenen Fragen überfordert. „Meine Tochter hat mir heute schon fünf E-Mails geschrieben, sie ist der gleichen Meinung wie Sie“, sagt ein Mann im vierten Stock. „Aber ich bin skeptisch.“ Philippa drückt ihm ein Infoblatt in die Hand, lächelt höflich und klettert die 70 Treppenstufen wieder hinunter. Ab ins nächste Haus.

Wenn die Wahllokale am Donnerstag um zehn Uhr abends schließen, dann wird auch die Arbeit für Claire, Heather, Philippa, Liz und die tausenden anderen Freiwilligen in ganz Schottland zu Ende sein. Schlafen wird von ihnen in dieser Nacht wohl niemand. Ergebnisse soll es erst in den frühen Morgenstunden am Freitag geben, keiner weiß, wann genau, vielleicht um fünf, vielleicht um sieben, mit Glück schon ein bisschen früher. Doch ins Bett gehen und in einem anderen Land aufwachen? Unvorstellbar – auch wenn bis zur tatsächlichen Unabhängigkeit dann noch mindestens zwei Jahre verhandelt werden wird.

Wandern Firmen dann aus? Oder kommen sie?

In den englischen Borders weiß niemand, wie eine Abspaltung das Leben verändern würde. Wandern Firmen nach Schottland aus, weil dort die Unternehmenssteuer gesenkt wird? Oder flüchten Unternehmen vor den politischen Unsicherheiten nach England? Eine Frau auf dem Marktplatz in Brampton denkt pragmatischer. „Vielleicht werden wir bald über die Grenze fahren und billig tanken wie die Nordiren in Irland.“ Und dann scherzt sie: „Oder wir könnten unser eigenes Referendum machen und schottisch werden. Dann bekämen auch wir ein kostenloses Studium und kostenlose Altersheime.“

Zu den Gewinnern zählen jedenfalls jetzt schon die Wettanbieter, die sich über den größten Ansturm aller Zeiten auf ein politisches Ereignis freuen. Momentan stehen die Quoten 1:4 für „No“ und 3:1 für „Yes“.

Die Geschichte erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels. Lesen Sie hier auch unseren Blog zum schottischen Referendum.

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