Köthen in Sachsen-Anhalt: Eine Tat verändert eine Stadt
Die Kleinstadt Köthen ist zur Chiffre geworden. Wie zuvor Chemnitz, Kandel, Freiburg. Seit Markus B. hier starb, erfasst die Wut auch seine Freunde.
Am Dienstagnachmittag gegen 16 Uhr, eine Stunde vor der nächsten Gedenkveranstaltung, steht eine 17 Jahre altes Mädchen vor Köthens Jakobskirche und erzählt von einem ihrer Freunde. Jenem Freund, dem die Gedenkveranstaltung gilt. Die 17-Jährige sagt, er sei ein hilfsbereiter Mensch gewesen, nicht zu laut, nicht zu leise. Jemand, der seine Freunde mit lustigen Bildern aus dem Internet versorgte.
Sie heißt Jasmin, und sie hat ihn hier kennengelernt, vor der Kirche, wo etliche Jugendliche der Stadt einen Teil ihrer Freizeit mir Rumhängen und Gesprächen verbringen. Hier lerne man jeden kennen, „der irgendwie unter 20 ist“, sagt sie.
Markus B. war zwei Jahre älter. Er lag in der zurückliegenden Sonnabendnacht gegen 22 Uhr am Boden, in seinem Blut, eine knappe Viertelstunde Fußweg entfernt von hier, bei einem Kinderspielplatz. Zusammengeschlagen und – möglicherweise – zusammengetreten von zwei polizeibekannten Afghanen, nachdem er wohl einen Streit schlichten wollte. Der eine soll eine Aufenthaltserlaubnis haben, der zweite sah seiner Abschiebung entgegen. Die Generalstaatsanwaltschaft Sachsen-Anhalts, die gegen ihn wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelte, hatte ihr Einvernehmen dazu am Donnerstag vor der Tat erteilt. Markus B. starb in der Nacht zu Sonntag im Krankenhaus.
Seit Kindertagen einen Herzschrittmacher implantiert
Köthen, diese 26.000-Einwohner-Stadt, auf halbem Weg zwischen Dessau und Halle in Sachsen-Anhalt gelegen, hat sich seitdem in kürzester Zeit von einer Stadt in eine Chiffre verwandelt, so wie zwei Wochen zuvor Chemnitz. So wie Kandel, wie Freiburg.
Wo Jasmin von dem Übergriff erfahren habe? Auf dem Rummel, dem Köthener Kuhfest. Zum Tatort habe sie sich nicht getraut, die Nacht stattdessen bei Enrico Schlimme – eine Art väterlicher Freund von ihr – verbracht, bis 4 Uhr hätten sie geredet, um irgendwas gegen den Schock zu tun.
Markus B. war tot. Ihr Freund Markus, der sie, als sie 14 war, mal ein paar Tage lang umworben hatte. B., zwei Brüder, zwei Schwestern, ausweislich seines Facebook-Kontos Borussia-Dortmund-Fan und beliebt, arbeitete im Berufsbildungsbereich der Köthener Lebenshilfe gGmbH, er montierte dort zuletzt Möbel in der Werkstatt für behinderte Menschen. Laut „Mitteldeutscher Zeitung“ wurde er vom Lebenshilfe-Geschäftsführer „als unauffällig und umgänglich“ beschrieben. Zuvor besuchte Markus B. die örtliche Angelika-Hartmann-Schule, eine Förderschule für geistig Behinderte. Seit Kindertagen hatte er einen Herzschrittmacher implantiert.
Er schaut in Richtung der Kerzen
Laut Sachsen-Anhalts Justizministerin, die sich auf den vorläufigen Obduktionsbericht bezieht, ist Markus B. einem „akuten Herzinfarkt“ erlegen.
Enrico Schlimme, Jasmins älterer Freund, steht am Montagvormittag an jenem Spielplatz, wo Markus B. geschlagen wurde. Am Fuß eines der Lindenbäume hier stehen Kerzen, liegen Blumen. Eine Gruppe Frauen redet darüber, wie Orte wie dieser seit Ankunft der Flüchtlinge vor die Hunde gegangen seien. Sie wüssten schon gar nicht mehr, wohin sie ihre Kinder überhaupt noch gehen lassen sollten.
Schlimme schaut in Richtung der Kerzen, alle paar Minuten kommen immer neue Menschen vorbei und legen weitere Blumen nieder. „Eigentlich will ich nur, dass sich alles wieder beruhigt“, sagt er. „Keine Revolutionen, keine Aufmärsche. Einfach trauern.“ Aber dann sei da diese Wut. Viele hier in Köthen würden so fühlen wie er.
Ja, die Wut, sagt Schlimme, und auch das Gefühl, dass alles mal besser war. Schlimme, 35 Jahre alt, geschieden, sechs Kinder, ist bekannt und befreundet mit etlichen der jungen Leute, die wiederum bekannt und befreundet waren mit Markus B.
„Auge um Auge, Zahn um Zahn“
Schlimme, kurz geschorene Haare und ein Gesicht, dem jegliche Kantigkeit abhandengekommen scheint, begreift sich als Bodyguard, als Aufpasser für diese Kinder. Wenn es spät werde, eskortiere er sie durch die Straßen. Beschütze sie, wenn sie bedrängt werden, vor allem Jasmin, deren Mutter lege Wert darauf. Als ihr einmal Jungs nachstellten zum Beispiel und ungewollt Rosen schenkten. „Natürlich Migranten.“ Dann kläre er das. „Friedlich“, fügt er hinzu. „Immer nur friedlich.“ Auch wenn er eine Kampfsportausbildung habe.
Auf zwei Demonstrationen von Rechten sei er mal gewesen, sagt Schlimme, er könne sich aber nicht mehr erinnern, worum es ging. Wählen war er noch nie.
Zur als Trauermarsch deklarierten Demo am Sonntag habe er es nicht mehr geschafft: zeitlich und weil sein Fahrrad kein Licht hat und er nicht von der Polizei aufgegriffen werden wollte. 2500 Menschen waren bei dieser Demonstration. Sie lauschten unter anderem einem wegen Volksverhetzung vorbestraften Rechtsextremisten aus Thüringen, der mit einem Mikrofon in der Hand und einem Verstärker bei Fuß forderte: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, der vom „Rassenkrieg gegen das deutsche Volk“ sprach und rief: „Wollt ihr weiterhin die Schafe bleiben, die blöken, oder wollt ihr zu Wölfen werden und sie zerfetzen?“
Was Schlimme davon halte, wenn Menschen bei so etwas applaudierten? Oder wie in Chemnitz neben anderen demonstrierten, die den Hitlergruß zeigen? „Ich weiß, dass es falsch ist. Eine Hälfte von mir spürt das ganz deutlich“, sagt er. „Aber die andere Hälfte will unbedingt diese Wut loswerden.“ Und da mache es dann manchmal keinen Unterschied mehr.
Das Lied der Deutschen, alle drei Strophen
Wie sehr sich besorgte Bürger und offen Rechtsextreme auf den Demonstrationen in Köthen vermischen, wie schwer unterscheidbar sie sind, zeigt vielleicht am besten das Beispiel der jungen Frau, die Montagabend auf dem Holzmarkt zum Mikrofon greift. Sie trägt Brille, quer gestreifte Bluse, ihr langes Haar offen, sie stellt sich als dreifache Mutter vor. Und sagt, sie sei nicht rechts, sie wolle einfach nur, dass ihre Kinder in Frieden aufwachsen könnten, ohne Angst vor Vergewaltigung und Mord. Dafür bekommt sie viel Applaus.
Dann wird ihre Stimme lauter. Sie droht den anwesenden Journalisten und Gegendemonstranten, diese würden „als Erstes brennen“. Und wiederholt: „Brennen! Ihr habt mich richtig verstanden!“ Auch dafür gibt es Applaus und Jubel.
Diese Frau ist langjährige Neonazi-Aktivistin. Jennifer R. vom berüchtigten „Nationalen Kollektiv Anhalt“ aus der Nachbarstadt Bitterfeld.
Aus einem Lautsprecher ertönt das Lied der Deutschen, alle drei Strophen, gesungen von Heino. In Köthen, der Stadt, in der Johann Sebastian Bach sechs Jahre lang Hofkapellmeister war, wo seine „Brandenburgischen Konzerte“ entstanden und Teile des „Wohltemperierten Klaviers“.
Ob Schlimme sich von alldem distanziert hätte, wenn er dort gewesen wäre? Den Platz verlassen hätte? Er seufzt. „Vielleicht. Keine Ahnung.“
Es sollte keine Szenen wie in Chemnitz geben
Und dann ist da Bernd Hauschild. Der Oberbürgermeister von Köthen. SPD-Mitglied, studierter Maschinenbauer. Als er am frühen Sonntagmorgen die Nachricht vom Tod Markus B.s erfuhr, waren ihm zwei Dinge sofort klar. Erstens: Es sollte keine Szenen wie in Chemnitz geben. Zweitens: Um diese zu verhindern, musste er selbst aktiv werden. Und zwar nicht nur die Bürger vor rechter Vereinnahmung warnen – sondern ihnen auch eine eigene, friedliche, würdige Möglichkeit zum Gedenken geben.
Gleich mittags besuchte Hauschild den Tatort, legte Blumen nieder. Organisierte ein Kondolenzbuch. Tauschte sich mit Vertretern der anderen Parteien und der Kirche aus. Diese Kombination aus Warnen vor rechts und eigenem Angebot, die funktioniert, sagt Bernd Hauschild. Er lud zu mehreren Trauergottesdiensten, an jedem Tag gab es einen.
Ähnlich hielt es das Landesinnenministerium. Der Minister Holger Stahlknecht sagt, am Sonntag sei „ab 6.30 Uhr sichergestellt“ gewesen, dass sein „Haus voll arbeitsfähig ist“.
Am Montag in der Jakobskirche, links und rechts der Eingangspforte, sitzen Jugendliche. Rund 100 Menschen insgesamt sind gekommen, darunter der Bürgermeister und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff. Es wird gesungen, gebetet, Kerzen werden angezündet: „Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens.“ Es geht um Selbstlosigkeit, um den Wunsch nach Orientierung, Vergebung, nach Geborgenheit: „Denn wer sich hingibt, der empfängt. Wer sich selbst vergisst, der findet.“
„Ich geh gar nicht mehr zur Schule“
Enrico Schlimme und Jasmin werden davon nichts mitbekommen. Sie werden erst eine halbe Stunde später vor der Kirche stehen, pünktlich, um der AfD bei den Vorbereitungen für ihren Trauermarsch zuzusehen. Sie werden verpassen, wie Haseloff nach dem Kirchgang vor Kameras tritt und die bürgerliche Gesellschaft Köthens lobt. Man habe gezeigt, „dass diese Vorkommnisse nicht instrumentalisierbar sind“.
Dann verabschiedet er sich, geht rechts an der Kirche entlang. Auf seinem Weg spricht er drei Teenager an, die auf einer Mauer sitzen. Einer trägt einen Pullover mit einem Kothaufen-Emoji, ein anderer hat noch Akne am Kinn. Er fragt sie, wie es in der Schule läuft, tätschelt einen der drei an der Schulter und geht weiter. Der Junge mit den Pickeln guckt ihm irritiert hinterher: „Ich geh gar nicht mehr zur Schule.“
Auch sie sind der Rechten wegen hier. „Die Ausländer haben meinen Freund umgebracht. Die sollte man fertigmachen“, sagt der Junge mit dem Emoji-Pullover. Den ganzen Tag schon bekämen sie Nachrichten über die sozialen Netzwerke zu den Versammlungen an diesem Abend: Whatsapp, Instagram, Facebook – Aufrufe von der AfD, ausländerfeindliche Artikel von rechtsradikalen Nachrichtenseiten. Sie hätten davon gar nichts abonniert. Irgendjemand aus ihrem Bekanntenkreis teile das und dann würden die Einträge halt auf ihren Smartphones landen. Zu dieser Zeit kursiert unter den Köthenern bereits ein gefälschtes Foto des tot am Boden liegenden Markus B.
Mülltonnen, von morgens bis abends
Enrico Schlimme arbeitet in einer Leiharbeitsfirma. Weg aus Köthen könne er nicht. „Wegen der Kinder“, sagt er und meint seine leiblichen. Aktuell schleppt er Mülltonnen von morgens bis abends. Viele Menschen in der Stadt kennt er allein schon deshalb, weil er für ein paar Monate mit ihnen zusammengearbeitet hat. Auch mit den beiden Brüdern von Markus B. hat er gearbeitet. Der eine sei „manchmal politisch ein bisschen komisch“ gewesen, und es bleibt unklar, was er damit meint. Der andere sei „ein netter Typ, Familienmensch“. Der nette Familienmensch ist ein rechtsextremer 27-Jähriger. Er hat Markus B. am Samstag zum Spielplatz begleitet.
Enrico Schlimme und Jasmin sind vor der Kirche eingetroffen, gemeinsam mit ihrer Mutter und dem kleinen Bruder. Schlimme hält den Rücken gerade und die Hände gekreuzt vor den Unterleib. Jasmin erzählt davon, dass sie gerne in eine andere Stadt ziehen würde. Irgendwohin, wo alles ein bisschen größer ist. Ein Junge grüßt. „Enger Freund von Markus, kannte ihn, seit er sieben war. Hat noch in der Nacht vor dem Tod mit ihm gesoffen“, sagt Schlimme. Auf der anderen Seite des Marktplatzes sitzt eine Mädchengruppe. „Die Zweite von links, die im türkisen Pulli.“ Unauffällig zeigt er in die Richtung. „Das ist die, weshalb der Streit angefangen hat.“ Auch Angehörige des Toten, darunter beide Brüder, sind anwesend.
Die Instinkte kämpfen gegen die Vernunft
Mittlerweile ist die AfD fertig mit dem Aufbau. Politische Statements seien unerwünscht an diesem Abend. Der Tross zieht los in Richtung Spielplatz. Jasmins kleiner Bruder läuft mehrere Minuten hinter einem Mann, auf dessen Jackenrückseite in silbernen Buchstaben „Multikulti tötet“ steht. Direkt vor seinen Augen.
Schlimme sagt am Dienstag, die Wut, sie geht nicht weg. Auch Tage später nicht. Er schwingt sich manchmal auf sein Fahrrad mit den breiten Reifen, um irgendwie den Kopf freizukriegen. Aber helfen tut das nicht. Er ist sich aber sicher: Er will ruhig bleiben. Nicht in irgendwelche rechtsradikalen Kreise geraten oder irgendwas kaputtschlagen.
Schlimmes Instinkte kämpfen gegen Schlimmes Vernunft, die die Oberhand behalten soll – doch es gibt genug Menschen, die wollen, dass er diesen Kampf verliert. Für Sonntag ist eine Großdemonstration in Köthen angekündigt. Der AfD-Bundesvorstand wird dabei sein, Vertreter von Pegida, vom Bündnis „Kandel ist überall“ und von der Cottbusser Initiative „Zukunft Heimat“. Schlimme wird nicht zur Ruhe kommen.