Vermisster Elias aus Potsdam: Eine Stadt sucht ein Kind
Er spielte im Sandkasten. Plötzlich war er weg. Seit zehn Tagen wird der sechsjährige Elias vermisst. In Potsdam macht sich Ratlosigkeit breit – und Frust. Zu Besuch an einem sorgenvollen Ort.
Keiner fragt das Nashorn. Wie auch. Stumm steht es da, unbeweglich und aus Holz. Oben rattert ein Hubschrauber, große Männer in dunkelblauen Kampfanzügen marschieren auf, ein Kameramann leuchtet den Hof aus und eine Polizistin sagt, dass sie nichts zu sagen habe, „laufende Ermittlungen, Sie verstehen?“ Nichts ist mehr, wie es einmal war im Schlaatz, einer Trabantensiedlung im Süden Potsdams. Was das Nashorn wohl zu erzählen hätte? Es war vielleicht der einzige Zeuge. Stand da, mitten auf der Wiese des Spielplatzes. Steht immer noch da und guckt hinüber zum Buddelkasten, in dem kein Kind mehr buddeln mag. Seit zehn Tagen nicht mehr, seit dem frühen Abend des 8. Juli, als der sechsjährige Elias verschwand.
So ein Nashorn wäre sicher ein guter Beschützer. Nur nicht dieses, das nur stumm und reglos zu jenem Sandkasten starrt, in dem Elias das letzte Mal gesehen wurde. Potsdam ist eine andere Stadt in diesen Tagen. Eine stille, eine sorgenvolle Stadt, deren Bewohner keine große Lust verspüren, sich mit Fremden zu unterhalten. „Fragense einen anderen“, lautet die Standardantwort. Vom Hauptbahnhof sind es mit der Straßenbahn sieben Minuten zum Schlaatz.
Die Fahrt geht vorbei an den beiden großen Friedhöfen der Stadt, und es ist kein schönes Zeichen, dass auf den Monitoren gerade in dem Augenblick zur Suche nach Elias aufgerufen wird, als die Bahn am Friedhof hält. Gleich neben dem Bildschirm hängt eines dieser Flugblätter, wie sie in Potsdam zu Tausenden verteilt worden sind. Es zeigt zwei Fotos des verschwundenen Jungen. Auf dem einen trägt er einen Schulranzen, auf dem anderen einen Schlafanzug, dazu werden die Eckdaten aufgelistet, die seit zehn Tagen so ziemlich jeder der gut 160 000 Potsdamer kennen dürfte: „Elias ist 6 Jahre alt und trug zum Zeitpunkt seines Verschwindens ein weißes T-Shirt und eine blaue lange Jeanshose. Er ist sehr aufgeweckt und kontaktfreudig.“
Elias ist überall
Elias’ Bild ist allgegenwärtig in Potsdam dieser Tage. Es klebt an Haustüren, Laternen und Bushaltestellen, in Kneipen, Kaufhäusern und Bäckereien, und wer sich beim Dönerverkäufer hinterm Hauptbahnhof als Reporter zu erkennen gibt, wird sofort gefragt: „Habt ihr ihn endlich gefunden?“ Täglich sind 170 Beamte im Einsatz, sie durchsuchen Gartenanlagen, befragen Anwohner und schicken Spürhunde los. In der Einsatzzentrale prüfen Ermittler immer noch 210 Stunden Aufnahmen und mehr als tausend Fotos von Überwachungskameras in Bahnhöfen, Straßenbahnen, Bussen und Tankstellen, selbst aus Radarfallen.
Seit Donnerstag gräbt die Polizei auch mit einem Bagger in der Nuthe, einem Flüsschen, in das der Junge vielleicht gestürzt ist. Dazu haben sich über Facebook Tausende von freiwilligen Helfern zusammengefunden.
Dass da eine ganz Stadt ein Kind sucht, weckt Assoziationen zu Fritz Langs Kinofilm „M – eine Stadt sucht einen Mörder“. Noch hoffen die Potsdamer, dass sie keinen Mörder suchen, sondern wirklich nur ein Kind und dass sie es am Ende auch finden.
Der Schlaatz liegt im Süden der Stadt und ist ein wenig anders als das Günther-Jauch-Potsdam mit seinen Gärten, Schlössern und Herrenhäusern. Eine in den späten DDR-Jahren gebaute Plattenbausiedlung. Sozialer Brennpunkt mit hoher Kriminalitätsrate und geringer Wahlbeteiligung. Fünfgeschossige Häuser, vor manchen stehen Bauwagen, der Schlaatz wird gerade saniert. Die Straßen heißen Schilfhof, Bisamkiez oder Falkenhorst, was mehr Idyll verspricht, als die Wirklichkeit hält. An der Straßenbahnhaltestelle sitzen Jugendliche in der Sonne, sie warten auf keine Bahn und trinken Bier. Es ist nicht das erste am frühen Nachmittag, wie der Vorrat an leeren Flaschen zu ihren Füßen verrät. Wo es zum Wohnhaus von Elias geht? „Immer geradeaus und dann links, wo die vielen Polizeiwagen stehen, kannste nicht verfehlen.“
Der Weg führt vorbei an Spielplätzen, auf denen keiner spielt, und an Bänken, auf denen keiner sitzt. Das Straßenbild wird geprägt von Frauen und Kindern, auffällig jungen Frauen und kleinen Kindern. Das Haus, in dem Elias mit seiner Mutter wohnt, ist ein zur Straßenseite geöffneter Riegel. Der Name der Familie steht links unten am Klingelbrett, das Fenster im Hochparterre ist angekippt. Ein paar Meter weiter hat die Polizei eine Kamera aufgebaut. Gibt es eine heiße Spur? „Sie wissen doch, dass ich Ihnen dazu nichts sagen darf“, antwortet die Polizistin. Lohnt es, ein paar Minuten zu warten? Schulterzucken.
Ratlosigkeit ist das dominierende Empfinden in Potsdam. Bei Vermisstenfällen sind die ersten 24 Stunden entscheidend. Jahr für Jahr werden in Deutschland etwa 100.000 Kinder und Jugendlich als vermisst gemeldet. Sie tauchen in mehr als 99 Prozent aller Fälle wohlbehalten und binnen kurzer Zeit wieder auf. „Wenn ein Kind nach ein paar Tagen immer noch nicht gefunden ist, dann stimmt etwas nicht“, sagt Sven Mutschischk, der zuständige Kriminaldirektor.
Was stimmt da nicht?
Die Ermittler gehen von drei möglichen Szenarien aus: Elias könnte ein Unglück zugestoßen, er könnte in die Nuthe oder in einen Schacht gefallen sein. Oder ist es – wie die Polizei es nennt, – der „Beginn einer Ausreißerkarriere“? Unwahrscheinlich, sagen die Ermittler. Das dritte Szenario: Es handelt sich um ein Verbrechen. Darauf gibt es bislang keinerlei Hinweis, ausschließen kann es die Polizei auch nicht. Und ob die Familie oder der getrennt lebende Vater etwas mit dem Verschwinden zu tun hat, dazu gibt es bislang aus „ermittlungstaktischen Gründen“ keine Auskunft.
Bekannte beschreiben Elias als Einzelgänger. Seit einem Jahr lebt er mit seiner Mutter im Schlaatz, vor vier Wochen sind sie in die neue Wohnung gezogen. Am 8. Juli, einem Mittwoch, sei er zu dem Buddelkasten vor dem hölzernen Nashorn gegangen. Die Mutter sagt, Elias habe sich stets abgemeldet, wenn er zum weiter entfernt gelegenen Spielplatz gehen wollte. Doch an diesem Mittwoch war er plötzlich fort. Um 18.33 Uhr bat sie den engeren Freundeskreis um Hilfe bei der Suche, um 19.12 Uhr ging der Notruf bei der Polizei ein. Noch in der Nacht gingen Suchtrupps los, ein Hubschrauber mit Wärmebildkamera war im Einsatz, aber keine Spur von Elias. Natürlich hat die Polizei auch den familiären Hintergrund ausgeleuchtet.
Deswegen hängen die Plakate, mit denen nach Elias gesucht wird, auch im Berliner Stadtteil Marienfelde. Hier hat der Junge vor dem Umzug nach Potsdam gewohnt. Die Berliner Polizei lässt ausrichten, sie sei bislang nicht in den Fall involviert, aber sie hat schon mal Hunde und Taucher nach Potsdam geschickt. Offenbar gibt es keine Hinweise, dass der Junge möglicherweise zu seinen Großeltern wollte. „Sie können davon ausgehen, dass wir die Möglichkeit, der Junge könne sich bei Verwandten befinden, intensiv geprüft haben“, sagt ein Potsdamer Polizeisprecher. Die Plakate hätten die Helfer in Berlin angebracht, Hinweise gab es wohl auch von hier – aber keinen, der den Ermittlern weitergeholfen hätte.
Manche in Berlin fühlen sich durch die Suche nach Elias an den Fall der achtjährigen Anastasia erinnert, 2006 war tagelang nach ihr gesucht worden. Die Leiche des Mädchens war von einer ferngesteuerten Kamera in einem etwa 35 Zentimeter dicken Rohr am Tegeler See entdeckt worden. Der Vater hatte das im knietiefen Wasser spielende Kind, das schwimmen konnte, aus den Augen verloren.
Helfer aus Langeweile und Zeitüberschuss?
Das Wasser ist auch im Fall Elias nicht weit. Die Nuthe, ein grün und trüb in der Sonne dösendes Flüsschen. Theodor Fontane hat mal über die Nuthe gesagt, im Vergleich mit ihr wirke die Havel so, als ströme die Wolga an einem vorbei. Zeugen wollen gesehen haben, dass sich Elias am Tag vor seinem Verschwinde für ein Floß interessiert habe, das Jugendliche am Wasser gebaut hatten. Vom Buddelkasten und dem Nashorn bis zum Ufer sind ein paar Minuten auf einem Trampelpfad durch den Wald. Die Böschung fällt steil ab, und die Wassertiefe von 80 Zentimetern könnte für einen Sechsjährigen verhängnisvoll sein. Aber der Uferweg wird so gut frequentiert von Spaziergängern und Radfahrern, dass die Schreie eines Ertrinkenden schwer überhört werden könnten. Und in einen reißenden Strom hat sich die Nuthe auch 150 Jahre nach Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg nicht verwandelt.
Weil aber die Polizei sich nicht dem Vorwurf aussetzen mag, sie habe eine mögliche Spur missachtet, lässt sie am neunten Tag nach Elias’ Verschwinden schweres Gerät auffahren. Federführend sind Kollegen vom Technischen Hilfswerk, sie setzen einen blauen Ponton auf das Wasser, beschwert mit einem orangenfarbenen Bagger. Männer mit Tauen achten an beiden Seiten der Nuthe darauf, dass die schwankende Konstruktion nicht havariert, während der Bagger Schlamm nach oben schaufelt und wieder zurück aufs Wasser kippt. Ein Polizist kommt. „Was machen Sie hier? Gehen Sie zurück hinter die Absperrung!“ Wie lange wird denn der Bagger noch baggern? „Keine Ahnung.“ Und wie lange baggern sie schon? „Keine Ahnung. Gehen Sie jetzt bitte.“
Die Bürger trauen der Polizei nicht
Zurück durch den Wald, vorbei an den Polizeiwagen und dem Nashorn vor dem Buddelkasten, den Bisamkiez hinunter bis zum Schlaatzer Bürgerhaus. Hier haben die freiwilligen Unterstützer ihr Quartier aufgebaut. Tag und Nacht sitzen sie hier unter Zelten auf Bänken und koordinieren ihre Einsätze, aber viel koordiniert wird nicht mehr nach mittlerweile neun durchwachten Nächten. Eine Handvoll Frauen und Männer hockt noch unter dem Zeltdach. Wie der Stand der Dinge ist? Allgemeines Schweigen.
Vor einer Woche sah es hier noch ganz anders aus. Hunderte von Helfern zogen sich gelbe Warnwesten an und zogen durch den Schlaatz, durch die Wiesen, immer auf der Suche nach Elias. Erst später merkten Helfer und Polizei selbst, dass das ein Problem werden könnte für den schlimmsten Fall. Der Polizeidirektor Michael Scharf lobt die Freiwilligen ausdrücklich. Und er formuliert einen Satz, der allenfalls andeutet, dass es Probleme gab beim Koordinieren des breiten Engagaments. „Die Helfer waren in der euphorischen Phasen etwas jenseits dessen, wie man suchen sollte“, sagt Scharf.
In dieser Woche schickte Brandenburger Innenministerium sein Einsatz-Nachsorgeteam in den Schlaatz geschickt. Spezialisten von Feuerwehr, Polizei und Rettungskräften sollten die freiwilligen Helfer psychologisch betreuen. Denn nach der Anfangsphase, der Euphorie machte sich Frust breit. Ein Kritiker spricht von „Muttis, die ihre Kinder zu einem Event mitnehmen und bei Würstchen mit Senf über die Organmafia fabulieren“. Ein anderer von „einem peinlichen Happening mit Volksfestcharakter“. Viele Helfer hätten sich an der Suche vor allem beteiligt, um ihrem Alltag jenseits von Arbeitsosigkeit und Zukunftsangst einen Sinn zu geben, und dabei durften Bratwurst und Bier nicht zu kurz kommen.
Nun ist es schwer und gewiss auch ungerecht, so viele Menschen auf einen Nenner zu bringen. Und was hätte die Polizei tun sollen? Die Leute nach Hause schicken? Wer Beamte befragt, hört sehr genau diesen Zwiespalt. Die Stimmung kippte als ein Flugblatt auftauchte, es war überschrieben mit „Einsatzleitung. Team Soko Elias“, listete drei Telefonnummern auf und die Forderung „Bitte alle Hinweise ERST an die Einsatzleitung per Telefon durchgeben und NICHT die Polizei anrufen!!“
Alles nur ein Missverständnis, ließ die Polizei mitteilen. Und doch hat die Stimmung an den Tischen und Bänken unter den Zeltdächern gelitten. Ein kräftiger Mann mit kurzem Haar erhebt sich: „Kommse mal her, ich erkläre Ihnen das.“ Also: „Die Truppen sind jetzt draußen und die Einsatzleitung hat einen Termin. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen!“ Was sagt ihm sein Gefühl? „Ich hoffe immer noch, dass wir ihn finden. Lebend.