Wie bekämpft man die Afrikanische Schweinepest?: Eine Nacht an der Frontlinie einer Seuche
Unaufhaltsam breitet sich die Afrikanische Schweinepest in Europa aus. Zwischen ihr und Deutschland stehen die Jäger. Was können sie ausrichten?
Der Wind liegt günstig, er weht von vorne links, weg vom Waldrand zur Straße hin, sodass die sieben Sauen am Rande des Felds nicht riechen können, dass Thomas Buchholz sie jagt. Die Dunkelheit verschluckt ihn und seinen Kameraden Marcel Grüneberg. Tote Halme knacken unter ihren groben Stiefeln. „Entfernung, was schätzte?“, fragt Grüneberg. „200“, flüstert Buchholz. Der Nebel verschleiert die Sicht, keine Chance, noch 20 Schritte vorwärts.
Leise klappt Buchholz die drei Beine des Pirschstocks aus, eine Art Stativ, er legt sein Blaser R8-Gewehr auf und schaut durch die Wärmebildkamera. Eine Sau am Rande der Rotte soll es werden. Ihr Umriss leuchtet weiß vor dunkelgrauen Baumschemen. Sie wühlt in der Erde, wirkt nicht desorientiert oder schlapp. Unwahrscheinlich, dass sie infiziert ist.
Hätte ein Schwein den Virus in sich, bekäme es Fieber und suchte nach Sümpfen und Teichen, um sich abzukühlen. Buchholz zieht den Ladehebel nach hinten. Grüneberg knipst eine Taschenlampe an und richtet den Strahl zum Waldrand. Die Stille dröhnt.
Der Schuss, schallgedämpft, klingt wie eine laute Knallerbse, der Nachhall, wenn das Projektil die Schallmauer durchbricht, kracht wie ein Donnerschlag übers ganze Feld. Die Gewehrkugel, so wird es Buchholz später erklären, rauscht mit einer Geschwindigkeit von 800 Metern pro Sekunde durch die Dunkelheit; sie bohrt sich durch Fell und Schulterblatt, hinter den Knochen in die „Kammer“, also dort wo möglichst viel zerstört wird: Lunge, Herz.
„Sauberer Blattschuss. Waidmannsheil.“
Dort, so sagt es der Jäger, entfalte die Kugel viel Energie, mit anderen Worten: Das Tier ist sofort tot. „Liegt“, sagt Grüneberg. „Sauberer Blattschuss. Waidmannsheil, Thomas.“
Längst ist es keine Frage mehr, ob die Afrikanische Schweinepest (ASP) kommt, da sind sich Jäger, Veterinäre und Politiker einig. Auch wie sie verbreitet wird, ist unstrittig: durch infizierte Tiere, Lebensmittel, auch an Kleidung kann der Erreger anheften. Die Frage ist wann sie hier ausbricht. Und auch: wo?
Noch gibt es keinen bekannten Fall in Deutschland. Betrachtet man die Fälle auf einer Landkarte, wirkt es wie ein Tumor, der in einem krebskranken Körper streut. 2007 wanderte das Virus über Georgien in den Westen, seit 2014 breitet sich der Erreger in Osteuropa aus, in Rumänien, Bulgarien, Polen bis kurz vor die Grenze Brandenburgs.
Anfang November: 80 Kilometer vor der Grenze. Im Dezember 42 Kilometer. Anfang Januar 21 Kilometer. Am vergangenen Dienstag wurde ein infiziertes Wildschwein 12 Kilometer vor Sachsen gefunden. Wie ein Dompteur treibt die Seuche das Schwarzwild gen Westen. Man könnte auch sagen: Vor den Gewehrlauf von Thomas Buchholz.
Die deutsche Fleischwirtschaft zittert
Für Menschen ist der Erreger nicht gefährlich. Haus- und Wildschweine tötet es in wenigen Tagen. Die deutsche Fleischwirtschaft zittert deshalb: Falls sich die Krankheit in Deutschland verbreitet, könnte der Export nach China fallen. Experten rechnen mit Schäden über Hunderte Millionen Euro. China hat den größten Schweinebestand der Welt. Dort hat die Seuche 2019 fast die Hälfte aller Schweine dahingerafft – fast ein Viertel aller Schweine weltweit. Ein Heilmittel oder Impfstoffe gibt es nicht.
Das Land Brandenburg kaufte einen Elektrozaun, der entlang der Neiße verläuft, 120 Kilometer lang, 160 000 Euro. Die Veterinäre arbeiten Notfallpläne aus. Warnschilder hängen an Raststätten und mahnen Besucher, weder Wurst noch Fleisch achtlos wegzuwerfen, da sich Wildschweine so möglicherweise anstecken können. Doch weil diese Maßnahmen nur präventiv sind, wächst der Druck für die Jäger. Sie sollen den Bestand an Wildschweinen so weit es geht runterschießen. Nur: Zu welchem Preis?
Es ist ein kalter Montagabend, 20 Uhr in Kolkwitz. „Sauwetter wäre besser“, sagt Thomas Buchholz und schaut in den Himmel. „Der Begriff kommt nicht sonst wo her.“ Der Regen verdeckt Geräusch und Geruch. Statt Wolken sieht er heute aber nur Sterne. Buchholz sitzt in seinem SUV und ruckelt über Feldwege und durch Wälder.
Er trägt braune Jacke, grüne Cargohose, grobe Wanderschuhe, ein stämmiger Mann mit Anpackerpranken. Neben ihm sitzt Marcel Grüneberg, er ist Vorsitzender des Kreisjagdverbands Spree-Neiße. Sie pirschen. Das heißt: Sie warten nicht, bis das Wild kommt, sondern kommen zum Wild.
71.500 Wildschweine wurden 2019 in Brandenburg geschossen
Auf der Motorhaube hat Buchholz eine Wärmebildkamera installiert, ein schwarzes Gestell, das an eine Kanone erinnert und den Toyota Land Cruiser in eine Art Wildschwein-Abwehr-Panzer verwandelt. Mit Waffe und Wärmebildkamera kostet seine Ausrüstung etwa 15 000 Euro. Kabel führen durch die Fenster in einen Monitor neben dem Armaturenbrett.
Mit einem Joystick schwenkt Buchholz die Kamera nach links und rechts. Die Finsternis draußen übersetzt der Monitor in die Umrisse von Sumpfbiebern, Füchsen und Rehen. „Es ist keine waidmännische Jagd mehr“, sagt Buchholz. Waidmännisch heißt: Dem Wild eine Chance geben. „Für diese Chance ist wegen der Afrikanischen Schweinepest kein Platz mehr.“
Wie viele Wildschweine es in Brandenburg gibt, weiß niemand, nur wie viele geschossen wurden: knapp 71.500 Wildschweine waren es 2019, mehr als jedes andere Wild. Für das Land ist das nicht genug. Jedes tote Tier senkt das Risiko. „Egal, was wir tun: Wir können die ASP nicht verhindern“, sagt Buchholz.
Schwarzwild war hier schon immer ein Problem. Nur vorher habe er die Wahl gehabt, ob er in den Wald geht oder nicht. „Jetzt muss man.“ Im Dezember 2019 erlässt der Landkreis Spree-Neiße eine Verfügung: Jäger sollen Wildschweine noch stärker bejagen. Bei Verstoß droht ein Bußgeld bis zu 30.000 Euro.
Die Jagd ist Buchholz’ Leben
Dass die Jäger diese Last aufgebürdet bekommen, findet Buchholz falsch. Die Jagd ist Buchholz’ Leben. Wortwörtlich. Seit 20 Jahren jagt er, er besitzt einen Jagdladen und ist Leiter der Jagdschule des Kreisjagdverbands Spree-Neiße. Seine Frau lernte er kennen, als sie ihren Jagdschein bei ihm machte, mit seinen zwei Kindern baut er Fallen.
Buchholz sagt, er jage fünfmal pro Woche, 300 Tage im Jahr. Er war an Silvester im Wald, andere Kollegen sogar an Weihnachten. „Mehr als immer geht nicht.“ Die Anordnung, so sieht es Buchholz, sei: „Wir müssen, wir müssen, wir müssen.“ Das stimme nicht. „Nicht wir alle müssen“, sagt er. „Nur der Jäger.“
Zwei Stunden später stapft Buchholz auf das erlegte Wildschwein zu. „Lange kein Schwarzwild hier auf dem Acker geschossen“, sagt er und leuchtet mit der Taschenlampe auf den Kadaver. „Das letzte ist“, er schaut aufs Handy und grinst, „23 Stunden her.“ Blut quillt aus dem Rüssel, es riecht nach Maggi-Würze, das komme vom Liebstöckel. „65 Kilo schätz’ ick mal“, sagt Grüneberg.
Was passiert mit kontaminierter Kleidung?
Buchholz zieht sich schwarze Gummihandschuhe über, kniet sich hin und zieht mit dem Zeigefinger die Backe des Wildschweins hoch. Vielleicht ein Überläufer, das heißt: im zweiten Lebensjahr. Buchholz erkennt es an den Zähnen.
Grüneberg packt den Kopf, Buchholz die Hinterläufe, sie wuchten das Schwein auf ein Ladegitter am Auto. Er legt den Rückwärtsgang ein und rollt langsam vom Feld. Auf der Rückwärtskamera sieht man das Wildschwein.
Und wenn es doch infiziert ist? „Dann hätten wir ein Problem“, sagt Buchholz. Die Entscheidung, ob es gesund oder krank wirkt, muss jeder Jäger selbst treffen, bevor er schießt. Falls es den Virus in sich hätte, sind viele Fragen offen: Wer soll das Schwein entsorgen? Der Jäger oder das Land? Und wohin? Wer haftet, wenn er auf der Fahrt den Erreger verteilt? Was passiert mit der kontaminierten Kleidung, mit dem Wagen, der Waffe? Und wer bezahlt das alles? „Das ist ’ne rechtliche Grauzone“, sagt Buchholz.
Die meisten Antworten kann Helfried Kröber geben. Er ist Amtstierarzt des Landkreises Spree Neiße. Sein Büro liegt hinter einem Labyrinth aus Gängen und Treppen der Kreisverwaltung in Forst. Kröber hat viel zu tun. Weil die infizierten Kadaver immer näher an seinen Landkreis rücken, bereiten er und sein Team sich auf den Notfall vor. Er muss Desinfektionsmittel und Einmalkleidung bestellen, mit Jägern und Landwirten sprechen, Mitarbeiter schulen. Und klären wo das Geld für all das herkommen soll.
Sammelstelle für infizierte Kader
„Unsere eigenen Ressourcen werden wahrscheinlich nicht ausreichen“, sagt Kröber. Eine Sammelstelle für infizierte Kadaver sei zwar bereits festgelegt, aber noch nicht in Benutzung. Ebenso habe der Landkreis noch keine Notfall-Übung durchgeführt. Sie sei aber in Vorbereitung, sagt er. Doch vieles kommt erst, wenn die Seuche auftritt. Dann erst greift das Seuchenrecht und das Land ein: mit Material, Personal und Geldern. Vorher nicht.
Deshalb appelliert Kröber an den Einsatz der Jäger. „Es ist eine einfache Rechnung.“ Je weniger Wildschweine im Wald sind, desto kleiner ist die Gefahr einer Ansteckung. Dafür ordnete er im Dezember an, Schwarzwild stärker zu bejagen. „Ich kann keinen Jäger verpflichten, die halbe Nacht Wildschweine zu jagen“, sagt er. Das wolle er auch nicht. „Wir wollen mit den Jägern zusammenarbeiten“, sagt er. „Es geht nur mit ihnen.“
Wer wenig jagt, soll mehr jagen. Wer viel jagt, soll noch mehr jagen. Nur lohnt es sich finanziell nicht ganz. Für jedes erlegte Wildschwein muss Buchholz eine Trichinen-Probe abgeben, mit der das Fleisch auf Fadenwürmer geprüft wird – 8,55 Euro, die er selbst zahlen muss. Und mit dem Fleisch verdiene Buchholz nicht viel, 25 Cent pro Kilo, das Angebot in der Gegend sei einfach zu groß.
Beim 69. Schwein gibt es die erste Prämie
Für Buchholz ist diese Aufteilung nicht fair. Dass er mehr jagen soll, akzeptiert er. Nur könne er manche Entscheidungen nicht nachvollziehen. Zum Beispiel die Sache mit der Prämie: 50 Euro gibt es pro Sau. Geld bekommt Buchholz aber nicht für jede Sau, die er schießt, sondern erst wenn er über seinem Jahresdurchschnitt, der Referenzstrecke, liegt. Bei Buchholz liegt der bei 68 Stück, so viele haben er und seine Kameraden in einem Revier erlegt. Erst wenn er das 69. Schwein erlegt, gibt es die erste Prämie.
Nach 20 Minuten Fahrt wuchtet Buchholz das Wildschwein auf den Hof seiner Eltern. Er geht ins Haus, holt ein Messer und eine Säge; Grüneberg hält die Schultern der Sau während Buchholz die Hinterbeine auseinanderdrückt. Es ist ein Weibchen. Buchholz schneidet zwischen die Keulen, um den Schließmuskel herum, zersägt und bricht den Beckenknochen, schlitzt den Körper von unten auf. Blut, der Jäger nennt es Schweiß, rinnt auf den Boden, Dampf steigt auf. Buchholz wühlt sich durch die Eingeweide. Keine roten Flecken auf Lunge und Leber, die Niere einwandfrei, die Milz glatt und scharfkantig. Nicht infiziert. Dann hält er inne. „Die hat Föten.“
Zehn blass-blaue Beutelchen, hält Buchholz in den Händen. Noch im Anfangsstadium, schätzt er, vielleicht drei Wochen alt. „Es klingt doof, aber das ist Prävention“, sagt Grüneberg. Und das ist gut? „Es wird von uns gefordert“, sagt Buchholz. „Es ist eigentlich das richtige.“
Das meiste Fleisch geht nach Asien
Eigentlich. Im Tierschutzgesetz steht, kein Tier darf ohne vernünftigen Grund sterben. Für die Wirtschaft ist dieser Grund klar: Die Fleischindustrie bangt um den Handel mit China. 2018 forderte der Deutsche Bauernverband, 70 Prozent aller Wildschweine zu töten. Zu groß ist die Angst vor der Schweinepest.
Das meiste Fleisch wird nach Asien verkauft: Ohren, Schwänzchen, Füße, in China gelten sie als Delikatesse. Falls die Seuche ausbricht, droht der Handel abzubrechen. Die einzige Hoffnung liegt darin, dass China gerade selbst mit der Schweinepest kämpft. Millionen Tiere mussten bereits notgeschlachtet werden. Im Nordosten, so berichten Staatsmedien, verbreiten Kriminelle den Erreger sogar extra durch Drohnen, um den Fleischpreis hochzutreiben und einen Schwarzmarkt zu schaffen. Deutschlands Glück ist Chinas Pech. Aber ein Abschlachten der Wirtschaft wegen – Ist das gerecht?
Buchholz’ Antrieb ist die sogenannte Waidgerechtigkeit. „Es muss alles im Gleichgewicht bleiben“, sagt er. Buchholz sagt, jedes Tier habe seine Aufgabe. Auch das Wildschwein gehört in die Natur. Im Wald wühlt es die Erde auf, beatmet den Boden, das sei gut für Setzlinge. Auf dem Feld jedoch, sei es der Feind. Es gräbt sich durch Äcker, zerstört Ernten.
Ein Tier zu erlegen ist eine ernste Sache für Buchholz. „Das ist ein Wesen, was wir der Wildbahn entnommen haben“, sagt er. „Es ist unvermittelt gestorben, ohne es zu wissen.“ Eigentlich, sagt Buchholz, trifft das Schwein keine Schuld: Der Mensch ist das Problem. Der Mensch verschleppt den Erreger schneller als jedes Wildschwein.
Er fliegt über Länder und fährt über Autobahnen. Er sorgt für das, was Veterinäre als „Sprunginfektion“ bezeichnen. Er kauft achtlos in kontaminierten Märkten ein und wirft achtlos kontaminierte Lebensmittel auf Raststätten weg. „Nur das Wildschwein muss den Rüssel hinhalten.“
Marvin Ku