Islamischer Staat und der Terror in Tunesien: Einblick in die Hölle
Nach dem Anschlag in Tunesien: Das mörderische Werk der Terroristen des „Islamischen Staats“ ist noch längst nicht beendet. Wer stoppt sie?
Am Tag danach, am frühen Samstagmorgen, läuft eine Nachricht über die Agenturen, die mitten hinein in den blutigen Wahnsinn des Terrors irgendwie tröstlich klingt: Kurdische Kämpfer vertreiben Terrormiliz wieder aus dem syrischen Kobane.
Kann man sie also wirklich besiegen? Diese selbsternannten Gotteskrieger, die vor einem Jahr ihr grausiges Kalifat ausriefen, sich „Islamischer Staat“ tauften und offenbar ihren bevorstehenden Jahrestag am Montag mit ausgelassener Mordlust zu feiern gedachten.
Andererseits: Wie besiegt man den Terror, wenn er praktisch in Badehose daherkommt, wie an diesem blutgetränkten Freitag im tunesischen Sousse? Einfach die Kalaschnikow in der Hülle für den Sonnenschirm versteckt und dann losgeballert – auf alles, was da an Menschlichem im Weg war, auch auf Kinder. Diese Attentäter haben immer nur ein einziges Ziel: Viele Menschen umbringen.
Wie verfällt man angesichts dieser Entschlossenheit des Gegners nicht in Panik? Wie soll man verhindern, dass sich Angst und Schrecken ausbreiten mitten hinein auch in die westlichen Gesellschaften. Europa, das hätten die Terroristen schon sehr gern, soll zittern.
Mindestens 39 Tote und zahlreiche Schwerverletzte sind es nach offiziellen Angaben bis zum Samstagnachmittag in Sousse, diesem unglücksseligen Badeort 150 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis gelegen. Bis zum Abend sprechen die Behörden von mindestens auch einer toten Deutschen, vor allem aber sind viele britische Touristen betroffen. Die toten Urlauber sind schrecklich. Aber dieser Anschlag, der zweite in wenigen Monaten, wird vermutlich dem ganzen Land seine wichtigste Einnahmequelle rauben: den Tourismus. Noch am Freitagabend meldete sich eine angebliche Splittergruppe des IS über den Kurznachrichtenkanal Twitter mit einer Botschaft, gerichtet an „die Christen, die ihren Sommerurlaub in Tunesien planen“: Ein „Soldat des Kalifats“ habe den „abscheulichen Hort der Prostitution, des Lasters und des Unglaubens“ angegriffen, hieß es. Die Touristen, die kommen, sie sollen vertrieben werden.
Habib Bouslama, 69 Jahre, ist Vizepräsident des Tunesischen Hotelverbandes (FTH). Und er weiß, was das Attentat vom März auf das Bardo-Museum und der aktuelle Anschlag für sein Land bedeuten werden. Er sagt: „Das Ganze ist eine Katastrophe, da gibt es nichts zu beschönigen. Ich bin traurig und niedergeschlagen. Dieser Anschlag soll unser gesamtes Land auf die Knie bringen.“ 190000 Hotelbetten hat Tunesien. 6,1 Millionen Gäste buchten 2014 einen Urlaub in der kleinen nordafrikanischen Mittelmeernation, eine Million weniger als zu den besten Zeiten vor dem Arabischen Frühling 2011. Damit erwirtschaftete die Ferienbranche zuletzt 16 Prozent des Bruttosozialprodukts, was sie zu einer tragenden Säule der Volkswirtschaft macht. 470 000 Menschen arbeiten im Tourismus, das entspricht knapp 14 Prozent aller Beschäftigten. Zusätzliche zwei Millionen profitieren indirekt als Lieferanten, Fahrer, Landwirte oder Handwerker von dem Feriengeschäft.
Was die Terrortat mit der Hochsaison in Tunesien anrichtet, ließ sich seit den Nachtstunden zu Samstag auf dem Enfidha-Flughafen in Sousse beobachten. Bis vor die Außentüren des Abflugterminals stauten sich die Reisenden, die nur noch eines im Sinn hatten: Schnell nach Hause, nur weg von hier. Mehr als 5000 sind inzwischen ausgeflogen worden, abgeholt von einer Flotte von gut 25 Charterflugzeugen, die europäische Reiseveranstalter sofort in Richtung Tunesien dirigiert hatten.
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Habib Bouslama jedenfalls, der gelernte Volkswirt, der zwei große Wellness-Hotels in Sousse und Hammamet besitzt, ist sich sicher: „Der Zeitpunkt des Anschlags ist absolut gezielt gewählt, um maximalen Schaden anzurichten.“ Der Strand des Fünf-Sterne-Hotels „Imperial Marhaba“ ist am Tag nach dem Anschlag so gut wie verlassen, niemand ist im Wasser, keiner sonnt sich, der Tatort am Mittelmeer ist mit gelb-schwarzen Flatterband abgesperrt. Vereinzelt liegen Blumen im Sand und auf den weißen Sonnenliegen. Bewaffnete Polizisten patrouillieren im Sand. Wenn der Terror vorüber ist, erscheint alles Geschehene so absurd, so unwirklich. Doch die Überlebenden werden die seelischen Wunden mit nach Hause nehmen, mit in die Zukunft, vielleicht leiden sie ein Leben lang unter dem Erlebten. Noch bis tief in die Nacht sitzen Gäste weinend in den Sesseln der Hotelhalle. Andere verbarrikadieren sich in ihren Zimmern und warten auf die Abreise. Ein italienischer Urlauber erzählt, dass er täglich einen Strandspaziergang mache, immer zur gleichen Zeit – jener Zeit, zu der sich auch der Angriff ereignete. Am Tag der Attacke habe er sich entschieden, in die andere Richtung zu gehen. Sonst wäre er dem Täter in die Arme gelaufen.
Für viele Gäste auch in den Nachbarhotels ist der Badeurlaub beendet. Es ist ein Ende, wie sie es sich in den schlimmsten Albträumen nicht werden vorgestellt haben. Doch die Realität des Gesehenen wird sich auch hineinfressen in die Gedanken und Überlegungen anderer Touristen in allen übrigen Ländern Europas. Überall wird man nun noch intensiver abwägen, wohin man noch reisen kann und ob überhaupt. Das ist ja das teuflische Ziel der Terroristen gewesen – und wird es auch bleiben. Widersprüchliche Angaben gibt es nach wie vor zu möglichen Komplizen des Täters. Auf Fotos ist die Festnahme eines zweiten jungen Mannes dokumentiert, der von einer aufgebrachten Passantin mit Fäusten traktiert wird. Trotzdem gab die Polizei bekannt, der von ihr erschossene Seifeddine Rezgui habe alleine gehandelt. Ein Bekennerschreiben des IS preist ihn zwar als einer der ihren, dagegen berichteten seine Bekannten gegenüber tunesischen Medien, der 23-Jährige habe nur selten eine Moschee besucht und auch gerne mal einen Joint geraucht. Das Hotel „Imperial Marhaba“ kannte er offenbar gut, weil er dort bisweilen als Animateur für europäische Urlauber gearbeitet hatte.
Die meisten wollen nur schnell fort, nach Hause
Die Urlauber, die man natürlich so nicht mehr bezeichnen kann, warten ungeduldig in der Lobby darauf, endlich vom Reiseveranstalter abgeholt <NO1>und wieder in ihre Heimatländer gebracht<NO>zu werden. Unter ihnen ist auch die Familie Schneider aus der Nähe von Stuttgart. „Deutschland hat uns richtig im Stich gelassen“, findet Anna Schneider. Sie möchte keine Minute länger an diesem Ort bleiben, der sie an die Szenerie des Vortags erinnert. „Der Strand sah aus wie ein Schlachtfeld.“ Sie will nur fort. „Ich kann nicht mehr am Strand liegen, ich kann nicht mehr am Pool liegen, weil die Verbrecher und Terroristen sind vom Strand gekommen.“ Sie meint nicht nur diesen Strand – sie wird wohl nie wieder entspannt an irgendeinem Strand liegen können.
Andere Urlauber sind noch unentschlossen. Sie warten auf die Beratung ihrer Reiseveranstalter. „Wenn wir hierbleiben können, bleiben wir hier“, sagt ein Mann aus dem Westerwald, der seinen Namen nicht nennen will. Eine Woche Urlaub habe er noch vor sich. Man weiß nicht recht, ob eine solche Haltung verrückt ist oder völlig ignorant und kalt gegenüber den Opfern oder ob sie sogar solidarisch ist und mutig. Hatte nicht auch der französische Präsident Francois Holland zu seinen Landsleuten gesagt, nach dem Anschlag von Lyon (siehe Kasten), man dürfe sich nicht von der Angst gefangen nehmen lassen.
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Auch dem tunesischen Staatschef Beji Caid Essebsi steht der Schrecken noch ins Gesicht geschrieben, als er sichtlich bewegt und mit dunkler Sonnenbrille vor den Augen einzelnen Überlebenden des Massakers in der Hotellobby die Hand schüttelt. „Dieses Attentat ist schlimmer als schrecklich“, murmelte er. „Es tut mir alles sehr leid – doch Sie sehen, das Problem ist nicht allein in Tunesien, es ist ein internationales Problem.“ Aber das ist für die meist noch in Badekleidung in der Lobby sitzenden Gäste auch kein guter Trost. Auf der anschließenden, improvisierten Pressekonferenz wirkt der 88-jährige Präsident dann resolut und entschlossen. „Wir können mit dem Terrorismus nicht alleine fertigwerden, wir brauchen einen globale Strategie.“ Aber sollen denn nun die normalen Bürger auch Widerstand leisten, indem sie einfach die Angst vor dem Terrorismus ignorieren oder überwinden? Wenn das mal so einfach wäre.
Denn der Alltag und die Alltagsunkultur in der Diktatur des „Islamischen Staats“, aus dem die Abgesandten des Terrors ja wohl stammen oder mit dem sie zumindest sympathisieren, ist mit Worten fast nicht zu beschreiben. „Der Spiegel“ und seine Reporter haben es in der aktuellen Ausgabe versucht und ihre Titelgeschichte zu diesem Thema verfasst. Es ist der Einblick in eine Hölle, in eine Welt jedenfalls, die nur Hohn, Spott und Gewalt übrig hat für alle, die nicht den dortigen Regeln folgen.
Die Überlebenden berichten, todesmutig, von den Zuständen und Gesetzen. Im Text der Spiegel-Reportage heißt es: „Hinrichtungen in Mossul kommen plötzlich auf die öffentlichen Plätze, in die Parks, in die Straßen. Die Routine, mit der sie vollzogen werden, ist Kalkül, Ausdruck der Verachtung, die der ’Islamische Staat’ politischen Gegnern und religiösen Sündern entgegenbringt. Hinrichtungen sollen gerade kein Spektakel sein, sondern alltägliche Verrichtung, ganz banal, im Morgenverkehr, wie ein Autounfall.“
Diese Realität ist nicht zu ertragen, dabei existiert sie indirekt auch bei uns in Deutschland. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat erst am Freitag wieder bestätigt, dass so viele Menschen wie nie zuvor Deutschland verlassen, um für den IS in den Kampf zu ziehen. Und die ARD hat erst vor wenigen Tagen eine Reportage gesendet, in der erzählt wird, wie junge Mädchen in Deutschland mit Migrationshintergrund für den IS angeworben werden, dass sie diese posierenden Männer mit der schwarzen Flagge und den zahlreichen Waffen am Körper im Internet anhimmeln wie Popstars. Und dann, mit 16, 17 Jahren, planen sie kühl und berechnend und an der Familie vorbei ihre eigene Flucht nach Syrien, in die Hände von Massenmördern und Vergewaltigern.
Was bleibt zu tun, angesichts der diffusen Lage?
Die Herrschaft des IS, das wird im Spiegel-Bericht wieder deutlich, ist gebaut auf endlosen Reglementierungen. Sicher ist vor allem eine Strafe: Wer vom Glauben abfällt – wird getötet. Diesen – einzigen wahren – Glauben definieren die Terroristen im Namen des Islam, sie wollen ihn allen diktieren und aufzwingen. Friss oder stirb – so banal ist der intellektuelle Überbau, es ist eine Geschichte aus dem tiefsten Mittelalter die da plötzlich im zweiten Jahrtausend der Menschheitsgeschichte spielt. Und man fragt sich schon, wie lange ist es wohl her, dass die westliche Welt sich an anderen Gegnern abgearbeitet hat – an Saddam Hussein, Muammar al Gaddafi und Syriens Präsident Baschar al Assad. Letzterer lebt wohl noch, aber immer wieder heißt es, er sei womöglich vor dem IS geflohen. Nicht der Westen, Assads ehemaliger Verbündeter, sondern diese mächtige Terrormiliz hätte ihn dann erledigt.
Und ganz Syrien wäre ihre Beute. Am Samstag hatten die Nachrichtenagenturen noch weitere Meldungen aus Kobane, dieser umkämpften Stadt an der türkischen Grenze. Es sollen, heißt es, 16 kurdische Kämpfer und 54 Dschihadisten getötet worden sein. Was bleibt angesichts dieser diffusen Lage? Vielleicht sehr ernstzunehmende Durchhalteparolen. Der britische Premier David Cameron formuliert sie so: „Diese Terroristen werden keinen Erfolg haben. So sehr sie versuchen, die Menschen in aller Welt zu entzweien, so sehr werden sie uns nur enger zueinander bringen und in unserer Entschlossenheit vereinen, diese Extremisten zu besiegen.“ Nicht anders spricht auch Tunesiens Präsident: „Wir werden nicht zulassen, dass die schwarze IS-Fahne unsere Nationalflagge verdrängt.“ Und dann kündigt er seine geplanten Taten an: In den nächsten Tagen würden 80 nicht staatlich lizensierte Moscheen geschlossen, in denen Hass gepredigt werde. Draußen, auf den Straßen von Sousse, skandieren derweil aufgebrachte Bürger: „Für ein freies Tunesien“ und „Raus mit den Terroristen.“
Der Text erscheint auf der Reportageseite des Tagesspiegels, der Dritten Seite.