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Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter am Hauptbahnhof in München mit Medienvertretern.
© dpa

Flüchtlinge in München: Ein Bürgermeister schafft's nicht allein

60000 Flüchtlinge haben in einer Woche München erreicht. Wie hält die Stadt das aus? Antworten erhoffen sich alle von Oberbürgermeister Dieter Reiter. Der ist an der Krise gewachsen. Doch er braucht Hilfe.

Mit schnellen Handbewegungen sortiert Anneliese Borgmeyer die Kleidungsstücke, die auf den 20 großen Wagen liegen. Damit wird normalerweise Reisegepäck transportiert am Münchner Hauptbahnhof. Aber was ist hier schon noch normal? Seit neun Tagen erlebt München einen Zustrom von Flüchtlingen bisher einmaligen Ausmaßes. Rund 15 000 waren es allein am Wochenende. Also packt Anneliese Borgmeyer, so schnell sie kann. Sie ist 71 Jahre alt. Sie sei noch fit, sagt sie, und: „Jeder wird gebraucht, wenn er helfen kann.“ Am abgesperrten Teil des Bahnhofs, dort, wo die Flüchtlinge ankommen, steht

Rayan. Gerade einmal 19 Jahre alt. Er engagiert sich ehrenamtlich beim „Medizinischen Katastrophen-Hilfswerk“. Seit 20 Stunden ist er im Dienst, erzählt er. Eigentlich sei er Koch. Alt und Jung, Ruheständler und Arbeiter, Ehrenamtliche und Profis versuchen in München der Lage Herr zu werden. Hunderte helfen täglich. Die neue Münchner „Willkommenskultur“ hat es sogar auf die Titelseite der „New York Times“ geschafft. Doch es bleibt die Frage, wie lange die Stadt das noch aushält. Und der Mann, von dem alle eine Antwort darauf erwarten, heißt Dieter Reiter.

Reiter ist der Oberbürgermeister von München. Im CSU-regierten Bayern steht der SPD-Politiker damit an der Spitze der Landeshauptstadt. Ein paar hundert Meter vom Hauptbahnhof entfernt, im Rathaus am Marienplatz, wirbelt Dieter Reiter durch sein Büro. Im Vorzimmer sitzt schon die Pressereferentin, das nächste Statement für die Journalisten muss vorbereitet werden, doch Reiter tippt gerade wild auf sein Handy ein. „Muss dem Sigmar noch eine SMS schreiben.“ So gehe es nicht weiter, sagt er, man brauche ein zweites Drehkreuz neben München, und zwar schleunigst. Erst vorhin habe er darüber mit dem Kanzleramtsminister Peter Altmaier geredet, und der Sigmar, also der SPD-Parteivorsitzende Gabriel, sehe das sicher auch so. Die Referentin nickt, Reiter zieht sein Jackett an, das Hemd ist durchgeschwitzt.

Freiwillige Helfer geben am 12.09.2015 in einer Schlange am Hauptbahnhof in München Hilfsgüter weiter.
Freiwillige Helfer geben am 12.09.2015 in einer Schlange am Hauptbahnhof in München Hilfsgüter weiter.
© dpa

Das große Oberbürgermeisterbüro hat er etwas umbauen lassen seit seinem Amtsantritt im Mai 2014. Sein Vorgänger Christian Ude, für seine intellektuelle Brillanz weithin geschätzt, hatte ein rot-monochromes Gemälde des Künstlers Rupprecht Geiger über den Besprechungstisch gehängt, bei Reiter dominieren riesige Panoramafotos mit Münchner Stadtansichten. Eines zeigt die Anti-Pegida-Demo mit 20 000 Teilnehmern vom Frühling dieses Jahres. Er selbst war natürlich auch dabei, und wenn er darüber spricht, schwingt Stolz mit über sein München, das sich so engagiert zeigt gegen Fremdenfeindlichkeit, und das nun sogar international wahrgenommen wird als eine Stadt, die die Ankunft von zehntausenden Flüchtlingen nicht nur kalt und professionell managt, sondern den Menschen mit Freundlichkeit und Sympathie begegnet. Eine weltoffene Stadt, ein Klima der Toleranz – für diese Werte stehe er, sagt Reiter. Dabei liegen ihm so hehre Worte gar nicht, er pflegt lieber eine Sprache, die ihn als Realisten, als Praktiker ausweist. Und auch hier unterscheidet er sich stark von seinem Vorgänger, der zwar aus dem Stegreif eine druckreife Rede halten konnte, aber dessen professoralen Ton manche Münchner nach 21 Amtsjahren nur noch schwer ertrugen. Reiter spricht bayerisch, und er ist kein Intellektueller. Aber spätestens seit der Flüchtlingskrise ist er sein Image als langweiliger Verwaltungsbeamter los.

"Das geht nicht vorbei wie ein Schnupfen"

„Man weiß nie, wie der Tag endet“, sagt er. Sein Ziel sei ein „München mit Herz“, wo jeder ein Bett hat, auch wenn er schon am nächsten Tag weitergebracht wird an andere bayerische Orte oder in andere Bundesländer. Jeder solle und müsse medizinisch durchgecheckt werden, solle Essen und Getränke erhalten. Es ist eine ziemlich beispiellose Logistik, die da ineinandergreift zwischen Polizei, Bahn, Hilfsorganisationen und den freiwilligen Helfern. Mal fehlen etwa Brauereibänke und -tische. Reiter ruft dann Michael Fettback an, den Chef der Paulaner-Brauerei. „Eine halbe Stunde später sind die Bänke da“, sagt er. Wobei sich seine Qualitäten eben nicht auf das Logistische beschränken. Wer den Mann bei Gesprächen mit Helfern und Polizisten beobachtet, wer ihm dabei zusieht, wie er sich beispielsweise über den Stand der Suche nach einem vierjährigen syrischen Mädchen berichten lässt, das im Zug verloren gegangen ist – der spürt ehrliches Mitgefühl. Während die meisten Bürgermeister der Republik über zu geringe Kapazitäten und zu hohe Aufnahmezahlen stöhnen, strahlt Dieter Reiter – auch wenn er die Probleme zunehmend drastisch benennt – ein positives Grundgefühl aus. „Die Flüchtlinge“, sagt er, „die gehören bald zu uns.“ Schon jetzt habe die Hälfte der unter 25-Jährigen in München einen Migrationshintergrund. Das sei kein Problem, sondern eine Tatsache. Deshalb sei es falsch zu hoffen, dass die aktuelle kritische Lage wieder „vorbeigeht wie ein Schnupfen“. In der Stadt gibt es derzeit ohnehin kaum jemanden, den das Thema nicht umtreibt. Am Bahnhof hängen weiterhin „Welcome“-Banner, auch in arabischer Sprache. Manche neu Ankommenden heben die Finger zum „Victory“-Zeichen. Und die Helfer werden nicht weniger. Reiter überrascht das alles nicht. „Ich kenne die Münchner ja schon ziemlich lange“, sagt er. „Und ich weiß: Wir helfen und stehen zusammen, wenn es darauf ankommt.“

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (l) und Ministerpräsident Horst Seehofer (beide CSU) nehmen in der Staatskanzlei in München an einer Pressekonferenz nach einer Sondersitzung des bayerischen Kabinetts zur Flüchtlingslage teil.
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (l) und Ministerpräsident Horst Seehofer (beide CSU) nehmen in der Staatskanzlei in München an einer Pressekonferenz nach einer Sondersitzung des bayerischen Kabinetts zur Flüchtlingslage teil.
© dpa

Klar, dass einer, der so redet, Kritik herausfordert. Ähnlich wie die Bundeskanzlerin muss auch Reiter sich sagen lassen, dass allzu freundliche Worte immer noch mehr Flüchtlinge dazu einladen, nach Deutschland zu kommen. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer und sein Finanzminister Markus Söder schimpften öffentlich über Angela Merkel. Zehntausende unregistrierte Flüchtlinge aus Ungarn ins Land zu holen, sei ein „Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird“, hatte Seehofer gesagt und setzte in einem Interview mit dem „Spiegel“ in seiner ihm eigenen bildhaften Sprache nach: „Ich sehe keine Möglichkeit, den Stöpsel wieder auf die Flasche zu kriegen.“
Der Ton hat sich verschärft. Nicht nur bei der CSU. Auch bei Reiter. Hatte München als neuer Transitort anfangs noch um Hilfe, um unbürokratische Aufnahme der Flüchtlinge anderswo gebeten, so wird nun eher verzweifelt gerufen. Von den 12 000, die allein am Samstag angekommen waren, konnten gerade einmal 1000 nach Nordrhein-Westfalen gefahren werden, ganze 400 haben alle anderen Bundesländer insgesamt aufgenommen. Ein Zug mit ungefähr 700 Menschen war dann am Sonntag nach Berlin unterwegs.

Hin und Her zwischen Landkreisen und Städten

„Lächerlich“ sei das, meint Reiter. Die meisten Flüchtlinge werden innerhalb Bayerns verteilt. An der Arnulfstraße neben dem Bahnhof stehen einige Busse bereit, eigentlich Linienbusse für den Stadtverkehr. Der eine ist voll mit Männern, Frauen und Kindern und bringt sie ins Allgäu nach Kempten. Zwei andere sind auch schon besetzt, doch die Fahrer wissen noch gar nicht, wo es hingehen soll. „Das muss immer noch abgeklärt werden“, sagt einer. Es ist ein ewiges Hin und Her zwischen Städten und Landkreisen: Wer kann einen Bus voll mit Asylbewerbern aufnehmen? Doch das München weiter helfen müsse, sei klar, meint Reiter. „Sollen wir auch einen Zaun bauen, wie die Ungarn?“, fragt er. Er könne nicht einfach zuschauen, was in Budapest und an anderen Brennpunkten passiere. Wobei er sich keine Illusionen über die weitere Entwicklung macht. Der Kabarettist und Syrien-Experte Christian Springer, mit dem Reiter befreundet ist, berichtet ihm regelmäßig von der Lage. „Da stehen ständig Hunderttausende an der Grenze und wollen weg.“ Reiter schaut ein bisschen tragisch, als würde er damit rechnen, dass die alle in den nächsten Tagen am Hauptbahnhof ankommen. Aber gleich darauf sagt er mit festem Blick: „Wir können das schon schaffen. Nur nicht alleine.“

Der Zugverkehr zwischen Österreich und Deutschland wurde am Sonntag vorrübergehend gestoppt.
Der Zugverkehr zwischen Österreich und Deutschland wurde am Sonntag vorrübergehend gestoppt.
© REUTERS

Ein Zaun wird nun vorerst nicht gebaut an der bayerischen Grenze. Doch am Sonntag gab Bundesinnenminister Thomas de Maizière bekannt, dass an den deutschen Auslandsgrenzen, vor allem an der zu Österreich, wieder Kontrollen eingeführt würden. Der Zugverkehr über die Grenze wurde ab 17 Uhr gestoppt. Vorübergehend, wie es hieß. Und Ministerpräsident Horst Seehofer ließ es sich nicht nehmen, zu betonen: Dies alles sei auf bayerische Initiative hin geschehen.

Dieter Reiter steht dennoch weiter vor einer riesigen Herausforderung. Und wenn er die „mangelnde europäische Solidarität“ beklagt, von der er „schwer enttäuscht“ sei, dann klingt das nicht nach einem bodenständigen Oberbürgermeister, eher nach einem Bundespolitiker. Beim schwarzen Rathaus-Bündnispartner sind sie denn auch ein bisschen angesäuert, weil der SPD-Mann so eine Strahlkraft entwickelt. Reiters Stellvertreter Josef Schmid gab während Reiters Urlaub gar einen „Hilfeschrei“ wegen der steigenden Flüchtlingszahlen zu Protokoll. Was Reiter wiederum dazu brachte, seinen zweiten Bürgermeister öffentlich zu maßregeln. In der bayerischen SPD, die sonst immer als Verlierertruppe gedemütigt wird, kam das prima an. Normalerweise schafft es der Münchner Oberbürgermeister nur an einem einzigen Tag des Jahres in die Abendnachrichten des Fernsehens: zur Eröffnung des Oktoberfests – wenn die Stadt und der Erdkreis abwarten, mit wie vielen Schlägen der Münchner OB das erste Fass ansticht. Am kommenden Samstag ist es wieder so weit, doch im Fernsehen ist das Münchner Stadtoberhaupt schon jetzt ständig präsent. Am Hauptbahnhof erklärt er sogar einem australischen Sender in gesetzten bayerisch-englischen Worten („se people here are very frändly“), wie die Münchner Gastfreundschaft funktioniert.

Bald startet das Oktoberfest - dann kommen sechs Millionen Besucher

Vor lauter Flüchtlingen ist an andere Münchner Probleme kaum mehr zu denken. Die Büroleiterin sagt, auf ihrem Schreibtisch stapeln sich die Anfragen von Schulleitern, Künstlern, Architekten, Investoren. Alle wollen sie ihre Anliegen schildern, doch der Oberbürgermeister hat keine Zeit, er ist am Hauptbahnhof. Fast alle, sagt Reiter, hätten dafür Verständnis. Überraschend ist das nicht. In der ganzen Stadt, ob in Kneipen oder an der Bushaltestelle, scheint ein positives Grundgefühl zu herrschen, eine Stimmung, die sich in Sätzen äußert wie „Hätte man München nicht zugetraut“ oder „Schön, dass wir ein Zeichen setzen“. Angesichts der steigenden Zahl an Flüchtlingen wird es schwierig sein, diese Stimmung zu erhalten. Das vor allem wird nun Reiters größte Aufgabe. Keine Zeit hat Reiter deswegen übrigens für das obligatorische Üben des Anzapfens auf der Wiesn. Sonst kommt der Münchner OB immer beim Braumeister Huber vorbei und probt die entscheidenden Schläge, die vom Fernsehen in die Welt übertragen werden. Diesmal aber bleibt Reiter cool: „Ist doch wurscht. Ich hau ihn rein und fertig.“

Wenn nun bald das Oktoberfest eröffnet wird, werden sechs Millionen Besucher erwartet. An den Bierzelten hängen dann schon nach ein paar Stunden Hinweise: „Wegen Überfüllung geschlossen“.

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