Flüchtlingspolitik: Österreich bringt Gestrandete in Tiefgarage unter
Noch an diesem Sonntag hat die Bundesregierung Maßnahmen ergriffen, um den Zustrom von Flüchtlingen zu stoppen. Deutschland hat Grenzkontrollen eingeführt. Der Zugverkehr aus Österreich ist zunächst bis Montag 6 Uhr gestoppt. Was passiert jetzt mit den Gestrandeten in Österreich?
- Antje Sirleschtov
- Stephan Haselberger
- Albert Funk
Die Bundesregierung vollzieht eine Kehrtwende in ihrer Flüchtlingspolitik und führt vorübergehende Grenzkontrollen ein. Das kündigte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) am Sonntagabend an. „Zunächst“ liege der Schwerpunkt der Kontrollen zur Grenze nach Österreich, sagte der Minister. Ziel dieser Maßnahme sei es, den Zustrom von Flüchtlingen nach Deutschland zu begrenzen. „Das ist auch aus Sicherheitsgründen dringend erforderlich.“ Die deutsche Hilfsbereitschaft dürfe nicht überfordert werden, sagte der Minister weiter. "Die Dinge sind aus dem Ruder geraten", sagte er abends im ARD-"Brennpunkt".
Nachdem auch an diesem Wochenende wieder 15000 Flüchtlinge allein in München angekommen waren, reagierte die Bundesregierung nach einem Krisengespräch von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den wichtigsten Ministern und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD). Auch der Zugverkehr von Österreich nach Deutschland wurde vorübergehend eingestellt. Die tschechische Regierung kündigte am Abend Kontrollen ihrer Außengrenzen nach Österreich an. Nicht ausgeschlossen wurde in Berlin, dass in den nächsten Tagen auch die Grenze zwischen Tschechien und Deutschland wieder kontrolliert wird. Dies und weitere Maßnahmen würden „lageabhängig“ entschieden, hieß es.
Die Frage ist, was jetzt mit den Flüchtlingen in Österreich passiert, die nicht nach Deutschland weiterkommen. Es muss sich um Tausende handeln, die jetzt in Österreich stranden und dort versorgt werden müssen. Die Situation in Wien war am Sonntag Abend völlig unübersichtlich. Im Kanzleramt tagte ein Krisenstab. Der Eindruck von Ratlosigkeit herrscht allenthalben. Es war nicht einmal in Erfahrung zu bringen, wie viele Flüchtlinge überhaupt derzeit in Österreich sind. Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) hatte vor der Sitzung lediglich erklärt, dass Österreich nun keine Kontrollen einführen werde.
In Österreich werden Feldbetten aufgestellt
Polizei und Helfer im Burgenland, vor allem am Hauptübergang zu Ungarn, in Nickelsdorf, sagten, sie hätten nur aus den Medien vom Stopp der Übernahme der von Flüchtlingen durch Deutschland erfahren. Allein am Sonntag kamen im Burgenland erneut rund 10.000 Migranten aus Ungarn an. Sie wurden wie bisher nach Wien weiter gebracht. Hier kamen sie in Notquartieren unter, am frühen Abend waren nur mehr 300 Migranten auf dem Bahnsteig im Westbahnhof. Die rund 1850 Flüchtlinge, die am Nachmittag auf der Weststrecke Richtung Salzburg in den Zügen schon unterwegs waren, erhielten in der Bahnhofs-Tiefgarage vor dem Salzburger Bahnhof ein Nachtquartier auf Feldbetten, sie war schon in den letzten Tagen dafür adaptiert worden. Wie dramatisch sich nun die Situation in Österreich enwickelt, war am Abend nicht absehbar. Aus Ungarn werden kaum noch Informationen nach Österreich weitergeleitet. Das Verhältnis Wiens zu Budapest ist auf einem neuen Tiefpunkt, nachdem Kanzler Faymann seine Attacken auf Premierminister Viktor Orban nochmals verstärkt hatte. Am diesem Dienstag wollen Kanzler Faymann, Vizekanzler Reinhold Mitterlehner und Innenministerin Johanns Mikl-Leitner in Berlin mit Kanzlerin Merkel und Innenminister De Maiziere die Lage besprechen.
Horst Seehofer kündigt Maßnahmen zum Oktoberfest an
CSU-Chef Horst Seehofer bezeichnete die Entscheidung der Bundesregierung als dringend notwendig. „Es ist ein ganz wichtiges Signal an die ganz Welt und auch nach innen, in die Bundesrepublik Deutschland“, sagte der bayerische Ministerpräsident am Abend nach einer Sondersitzung des Kabinetts in München.
Seehofer kündigte auch Maßnahmen an, damit es beim Oktoberfest nicht zu Konflikten komme. Eine genauere Beschreibung, was unternommen werde, lehnte Seehofer ab.
Die Bundespolizei hat sich nach eigenen Angaben darauf eingestellt, dass sie über eine längere Zeit wieder an deutschen Außengrenzen kontrollieren muss. Für die Aufgabe würden nun mehrere hundert Beamte abgestellt, sagte ein Sprecher am Sonntagabend in Potsdam. "Wir haben uns darauf eingestellt, diese Maßnahme nach einer Phase des Aufwachsens über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten", hieß es in einer Erklärung des Bundespolizeipräsidiums weiter. Die so genannten Binnengrenzen innerhalb des Schengen-Raums werden den Angaben zufolge seit Sonntagabend 17.30 Uhr kontrolliert. Der Schwerpunkt "wird zunächst an der deutsch-österreichischen Grenze liegen", hieß es. Ziel sei es, die "Einreise von pass- und visumspflichtigen Drittstaatsangehörigen zu begrenzen". Die Bundespolizei wies Reisende darauf hin, dass sie mit entsprechenden Kontrollen rechnen müssten und dazu verpflichtet seien, beim Grenzübertritt Reisepass oder Personalausweis mitzuführen.
Der Kurswechsel der Bundesregierung zeichnete sich das ganze Wochenende über ab. Die sozialdemokratischen Ministerpräsidenten hatten der SPD-Führung intern klargemacht, dass ihre Möglichkeiten zur Aufnahme von Flüchtlingen erschöpft seien. Auch die Regierungschefs der Union, vor allem Seehofer, drängten Merkel zu einem Signal. Es richtet sich vor allem an die europäischen Partner. Ihnen solle deutlich gemacht werden, dass Deutschland Hilfe erwarte, hieß es aus Koalitionskreisen. Die vorübergehende Aussetzung der Grenzfreiheit ist durch den Schengener-Grenzkodex gedeckt. Nach dem geltenden europäischen Recht ist Deutschland für den allergrößten Teil der Schutzsuchenden nicht zuständig. Sie müssen Asyl in dem EU-Land beantragen, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten. Die Bundesregierung verspricht sich durch die Grenzkontrollen und die Einstellung des Zugverkehrs vor allem kurzfristig eine starke Begrenzung der ankommenden Flüchtlinge und damit mehr Zeit zu deren Registrierung. Niemand werde an der Grenze abgewiesen, hieß es.
SPD erhöhte den Druck
Die Maßnahme ist nach den Worten von Innenminister de Maizière „ein Signal an Europa“. Vor dem Treffen der EU-Innenminister an diesem Montag forderte de Maizière feste Quoten für die Verteilung der Flüchtlinge und weitere Maßnahmen, wie Hilfe in den Krisenregionen, um die Zahl der Flüchtenden zu begrenzen und Wartezonen in Griechenland, Italien und Ungarn, wo Ankommende registriert und dann verteilt werden. Merkel selbst hatte mit Blick auf den Streit um eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge in der EU gesagt: „Deutschland kann es nicht alleine schaffen.“
Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel erhöhte den Druck. „Es gibt Grenzen der Belastbarkeit auch unseres starken Landes“, sagte er dem Tagesspiegel. „Und wenn Europa so weitermacht und fast niemand außer Österreich, Schweden und uns helfen will, dann sind auch unsere Kräfte begrenzt. Das Signal ,Alle können zu uns‘ halten wir nicht durch. Europa muss mithelfen.“ Beim Treffen der 28 EU-Innenminister am Montag in Brüssel müsse Deutschland durch die Verteilung von 160000 Flüchtlingen entlastet werden, forderte Gabriel. (Das ganze Interview mit Sigmar Gabriel lesen Sie hier.) Die EU-Kommission hatte am vergangenen Mittwoch Pläne für eine Umsiedlung von 160000 Menschen vorgestellt, die in Griechenland, Italien und Ungarn angekommen sind. Widerstand gegen das Vorhaben kommt unter anderem von den Regierungen Polens, Tschechiens und der Slowakei.
Zusätzlich zu einer gerechteren Verteilung der Flüchtlinge in Europa forderte Gabriel schnelle und wirksame Hilfen für die Flüchtlinge in der Krisenregion. „Solange in den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon das Elend wächst, machen sich die Menschen auf den Weg nach Europa.“ Deutschland und Europa sollten nach Gabriels Vorstellungen zusammen eine Soforthilfe von 1,5 Milliarden Euro für Nahrung, Unterkunft und Schulen in den größten Camps zur Verfügung stellen. Die Golfstaaten und die USA seien aufgerufen, dies Europa gleichzutun.
Berlin nahm am Wochenende 1000 Flüchtlinge auf. Am Sonntagabend kam ein weiterer Zug der Deutschen Bahn mit bis zu 700 Flüchtlingen in Schönefeld an, wie die Senatssozialverwaltung mitteilte. Von den Ankommenden sollen rund 350 bis 400 Flüchtlinge in Berlin bleiben und im Olympiapark untergebracht werden. Rund 300 Flüchtlinge sollten in Brandenburg versorgt werden.