Kanzlerkandidatur 2017: Die Unverzichtbare: Merkel könnte Kohl einholen
"Unendlich viel" hat sie nachgedacht, nun ist es raus. Angela Merkel tritt zum vierten Mal an. Bei der CDU hämmern sie begeistert mit den Fäusten auf den Tisch. Dabei hatte niemand Zweifel. Außer vielleicht der Chefin.
- Robert Birnbaum
- Antje Sirleschtov
Die Zunft der Merkel-Astrologen hat es meistens auch nicht leicht. In jüngster Zeit war es ja schon merklich stiller geworden im Lager der Propheten, die die politische Laufzeit der Angela Merkel aus dem Pensionsdatum ihres Mannes und ähnlichem Ersatzkaffeesatz herauslesen wollten. Nur ganz Kühne wagten sich noch aus ihren Professorenstuben vor mit der Prognose, ein Rückzug sei nicht auszuschließen.
Auszuschließen ist bekanntlich nichts, nicht mal Donald Trump im Weißen Haus. Gründe, den Bettel hinzuwerfen, die gäbe es auch. Nur – gute Gründe wären es nicht. Und so steht Angela Merkel am Sonntagabend vor einer dichten Batterie von Kameras im Konrad-Adenauer-Haus und sagt, was sie Stunden vorher ihren CDU-Spitzengremien verkündet hat: Ja, sie tritt wieder an, zum vierten Mal.
Drinnen in der Vorstandsklausur haben sie mit den Fäusten auf den Tisch gehämmert. Erstens, weil man das so tut zum Zeichen des Zusammenhalts unter Stammeskriegern, und zweitens, weil sie endlich mit dem gestelzten Unfug aufhören können, bei Fragen nach der Zukunft der Chefin auf den „gegebenen Zeitpunkt“ zu verweisen, zu dem Merkel ihre Entscheidung verkünden werde. Auch wenn manche jetzt hinterher sagen, das sei „kein Selbstläufer“ gewesen, hat am Ergebnis nie einer ernsthaft gezweifelt.
Außer eventuell Merkel selbst. „Ich habe sprichwörtlich unendlich viel darüber nachgedacht“, sagt sie. „Die Entscheidung für eine vierte Kandidatur ist nach elf Amtsjahren alles andere als trivial. Weder für das Land, noch für die Partei, noch – und ich sag's ganz bewusst in dieser Reihenfolge – für mich persönlich.“
Dabei war ihr im Prinzip schon vor drei Jahren klar, dass sie noch mal ran müsste; seit damals, als am Wahlabend plötzlich eine absolute Mehrheit der Union möglich schien. Siege verpflichten den Sieger – gegenüber dem Wähler, gegenüber der Partei. Hohe Siege verpflichten doppelt. In der Politik ist es mit dem freiwilligen Aufhören zum rechten Zeitpunkt sowieso schwierig, manche sagen: unmöglich. Denn wenn alles gut läuft, ist ein Abschied keinem zu erklären. Läuft es schlecht, riecht der Abgang nach Flucht aus der Verantwortung.
Im vorigen Sommer lief es zu gut für Merkel
Den richtigen Zeitpunkt, wenn es den denn überhaupt gibt, kennt man immer erst hinterher. Noch im vorigen Sommer lief es zum Beispiel zu gut. Damals hat Horst Seehofer ja in praktisch jedem Interview Merkel mit der Prognose genervt, dass sie die Union 2017 zur Alleinherrschaft führen könne. Das hätte dem Horst auch gut gepasst – bei jeder Abstimmung im Bundestag die CSU als Zünglein an der Waage!
Aber Seehofer taugt zum Merkel-Astrologen eher schlecht. Von der Alleinherrschaft redet niemand mehr seit jenem 5. September, als Merkel ohne jede Vorbereitung die Grenzen offen ließ für die Flüchtlinge und sich die Deutschen plötzlich inmitten des weltenpolitischen Durcheinanders wiederfanden. Seehofer begann den Krieg, die AfD erlebte ihre Wiederauferstehung, die CDU verlor Wahl um Wahl.
Vor allem aber war da plötzlich dieser Riss zwischen den Deutschen und ihrer Kanzlerin, die den allermeisten – ob sie sie nun wählten oder nicht – bis dahin zumindest als die Garantin von Stabilität gegolten hatte. Auf einmal war auch in der CDU das Wort vom „Merkel-Malus“ zu hören. Ist nicht, hieß die bange Frage, die einstmals scheinbar Unbesiegbare inzwischen sogar mehr Belastung, weil sich auf ihre Person alle Gegnerschaft und all dieser neue Hass konzentrieren?
Merkel sagt: "Ich brauche lange, und Entscheidungen fallen spät"
Ob sie zu irgendeinem Zeitpunkt in diesen wilden Wochen und Monaten ans Aufgeben gedacht hat – der direkten Antwort weicht Merkel aus: Die Flüchtlingsfrage sei in ihrem Entscheidungsprozess nicht der einzige Grund gewesen. Aber dass sie sich selbst gefragt habe, ob sie zu einem neuen Zusammenhalt in der Gesellschaft beitragen könne – dieses Eingeständnis lässt darauf schließen, dass sie die Zweifel an ihr nicht unberührt gelassen haben.
Andererseits – wer hätte es denn eigentlich sonst machen sollen? Am Sonntagabend beugt sich der halbe CDU-Vorstand über die Balustrade im ersten Stock des Adenauer-Hauses, bereit zum Begrüßungsapplaus. Das ist ganz praktisch, weil man so auf einen Schlag ungefähr alle vor Augen hat, die als Merkel-Alternative in Frage gekommen wären. Und, bleibt an einem der Blick hängen? An Ursula von der Leyen vielleicht, kurz mal. „Ich glaube, dass immer jemand da ist, der Stäbe übernehmen kann“, weicht Merkel auch dieser Nachfrage aus ins Allgemeingültige. Klar, stimmt, alternativlos ist niemand. Nur ob der oder die Neue die Staffel zum Sieg bringt? Da war keiner in Sicht.
Krisen waren immer ihr Metier
Außerdem aber ist der „gegebene Zeitpunkt“ im Merkelschen Sinne durchaus günstig. Krisen waren immer ihr Metier. Sie geben ihr die Chance, zurück in die Rolle der Kümmer-Kanzlerin zu schlüpfen. Dass die „New York Times“ sie zur „letzten Verteidigerin des freien Westens“ stilisiert, nennt sie zwar „grotesk“, ja „geradezu absurd“. Typisch Merkel eben, bloß nicht die Latte der Erwartungen zu hoch legen. „Kein Mensch, kein Mensch alleine, auch nicht mit größter Erfahrung, kann die Dinge in Deutschland, Europa, in der Welt mehr oder weniger zum Guten wenden, und schon gar nicht eine Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland.“
Aber es ist ja andererseits kein Zufall, dass das Stichwort „Erfahrung“ in der Begründung ihrer Kandidatur häufiger vorkommt als jedes andere. Die Menschen, habe man ihr gesagt, hätten wenig Verständnis dafür, wenn sie in Zeiten wie diesen nicht ihre ganze Erfahrung noch einmal in die Waagschale werfen würde. Die malt sie aus, diese Zeiten: „Anfechtungen“ von rechts und von einer drohenden rot-rot-grünen Mehrheit von links, „große Anspannung“ der Europäischen Union, internationale Herausforderungen „für unsere Art zu leben“ und eine Weltlage, die „vorsichtig gesagt, erst mal neu zu definieren“ sei.
Es fällt kein Name. Doch sie hätte genau so gut eine Liste der Herrschaften aufzählen können, die diese Weltlage erzeugen – von Donald Trump in Washington über Boris Johnson in London und Wladimir Putin in Moskau bis Recep Tayyip Erdogan in Ankara. Die Welt ist aus den Fugen, und die Risse scheinen täglich breiter zu werden. „In dieser Situation bin ich bereit zu kandidieren“, sagt Merkel. Hinten im Foyer des Adenauer-Hauses spricht ein Reporter laut in seine Kamera, auf Englisch. Für die Welt aus den Fugen ist Angela Merkels Kandidatur eine Top-Nachricht.
„Bei mir ist es so“, fasst sie zusammen: „Ich brauche lange und Entscheidungen fallen spät. Dann steh’ ich aber auch dazu.“ Dass es ein sehr anderer Wahlkampf wird als die bisherigen Einschläfer-Schlachten der „asymmetrischen Demobilisierung“, sagt sie selber. Härter wird er, hässlicher. Die Merkel-Raute als selbstironisches Zitat am Hauptbahnhof aufhängen – solche Mätzchen sind Geschichte.
Der Streit mit der CSU ist nicht ausgestanden
Der Streit mit der CSU ist nicht ausgestanden, sondern nur auf Eis gelegt. So wie Merkel nicht zur CSU nach München kam, wird Seehofer in zwei Wochen nicht zum CDU-Parteitag nach Essen reisen. Immerhin verkündet der CSU-Chef, dass Merkel nunmehr auch die Kanzlerkandidatin der CSU werde. Vorher verraten hat sie ihm ihre Entscheidung aber offensichtlich nicht.
Merkel-Vize Julia Klöckner aus Rheinland-Pfalz wird wissen, weshalb sie den Geist der Geschlossenheit beschwört: „CDU und CSU können nur gemeinsam gewinnen.“ Da wird aus einer Selbstverständlichkeit Außergewöhnliches. Eine Volkspartei hat die Gewissheit verloren, die sie jahrzehntelang in sich trug: Regierungspartei einer breiten Mitte zu sein, neben der es nur ein paar linke und kaum rechte Kräfte gab.
Aber jedenfalls ist jetzt klar: Merkel zieht noch einmal in die Schlacht. Und da haben viele geglaubt, Helmut Kohl sei die eine historische Ausnahme gewesen von der Quasi-Regel, dass deutsche Kanzler von ihrem Volk acht Jahre zugestanden kriegen! Aussichtslos ist der Versuch ja nicht. So sehr Merkel manchen ihrer Gegner zum regelrechten Hassobjekt geworden ist, so erstaunlich stabil ist das demoskopisch messbare Zutrauen in diese Frau. 55 Prozent der Deutschen wollten sie im Kanzleramt behalten, hat Emnid gerade erst für die „Bild“-Zeitung ermittelt, und 92 Prozent der eigenen Anhänger.
Und wenn sie es schafft – dann kann die Zunft der Merkel-Astrologen sich auf neue Prophezeiungen verlegen, ob, wann und warum Angela Merkel nunmehr aber ganz sicher abtreten wird. Ein naheliegendes Spielfeld hat sie ihnen am Sonntag allerdings schon mal genommen: Sie trete für volle vier Jahre an, versichert Merkel, sofern die Gesundheit mitmache. Doch was das angeht: „Ich steh’ ja vor Ihnen ganz munter.“