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Direkte Ansprache. Darauf setzt Carsten Stahl. Oft ruft er einzelne Schüler zu sich und lässt sie vor den anderen von ihren Erlebnissen erzählen.
© Thilo Rückeis

Für wen kämpft Carsten Stahl?: Die umstrittenen Methoden des Anti-Mobbing-Influencers

Er ist emotional, laut. Manche sagen: radikal. Carsten Stahls Kampf gegen Mobbing ist bei Experten heftig umstritten. Ihn selbst kümmert das kaum.

Wer, fragt Carsten Stahl, wurde schon einmal gehänselt, weil er angeblich nicht gut aussieht? Zögernd schauen sich die Kinder um. Ein Junge geht zuerst über die Linie, die Stahl auf das Parkett in der kleinen Aula einer Brandenburger Privatschule geklebt hat. Es folgt der zweite, der dritte. Wenig später stehen fast alle auf der anderen Seite. Mobbing ist Alltag und es geht alle an – das will Carsten Stahl mit dieser Übung zeigen.

Die Schulleitung hatte ihn gerufen. Er kam gemeinsam mit dem Kamerateam eines Fernsehsenders. Die Aufnahmen, im Februar 2017 ausgestrahlt, sind noch heute bei Youtube zu sehen. Sie zeigen, wie Carsten Stahl ein rothaariges Mädchen im Rollstuhl zu sich holt. „Warum hat man dich gemobbt?“, fragt er.

Und: „Möchtest du, dass sich das ändert?“ Sie weint. Nickt. Stahl nimmt sie in den Arm und ruft mit donnernder Stimme: „Ich verspreche dir, dass das ab jetzt aufhört.“

Carsten Stahl ist Anti-Mobbing-Trainer, laut eigener Aussage der bekannteste Deutschlands. Er war mal Schauspieler bei RTL2, spielte dort einen Privatdetektiv mit großer Klappe. Viele kennen ihn deshalb: vom Achtklässler bis zum Bundestagsabgeordneten. Er ist 1,89 Meter groß, wiegt 112 Kilogramm, ist tätowiert bis an den Hals. Stahl ist kein Sozialpädagoge. Seine Sprache ist laut, aggressiv, emotional. In seinen Trainings sagt er Sätze wie: „Ihr denkt ihr seid erwachsen, aber das seid ihr nicht.“

Seine Vorträge an den Schulen funktionieren stets ähnlich. Stahl kommt rein und erklärt: Ich will mit euch über Mobbing reden. Er erzählt von seiner Schulzeit, in der er das Opfer war, rothaarig und sommersprossig – ausreichend Gründe für Misshandlung, fanden seine Mitschüler. Es bewegt ihn noch immer. Und seine Zuhörer ebenfalls. Gerne ruft er sich einzelne Schüler nach vorne, spricht sie direkt an. Sich selbst und ein Flipchart, mehr braucht Carsten Stahl nicht.

Stahl wird abgelehnt - und die Alternativen?

Es gibt Politiker und Pädagogen, die seine Methoden für eine – vielleicht die letzte – Möglichkeit halten, zu Problemkindern durchzudringen. Weil er ihre Sprache spricht. Es gibt andere, die halten Carsten Stahls Arbeitsweise für gefährlich und ihn für einen Anti-Demokraten, vielleicht sogar für rechts. In seiner Heimat Neukölln hat er heftige politische Debatten ausgelöst. Der Bezirk entschied letztendlich, nicht mehr mit ihm zu arbeiten.

Dabei ist das Problem groß – und niemand weiß genau, wie es zu lösen ist. In der Pisa-Studie 2017 gaben 16 Prozent der befragten Neuntklässler an, Mobbing erlebt zu haben. Hochgerechnet hieße das, dass allein an Berliner Schulen jährlich mindestens 50 000 Kinder und Jugendliche betroffen wären.

Dass er öffentlichkeitswirksam dagegen angeht, machte Carsten Stahl erst populär. „Die Wahrheit ist“, sagt er, „dass sich jeden zweiten Tag ein Kind durch Mobbing das Leben nimmt.“

Tatsächlich bringen sich jedes Jahr etwa 600 Jugendliche in Deutschland um. Wie viele davon, weil sie Mobbing erlebt haben, weiß niemand. Dass aber eher an Selbstmord denkt, wer gemobbt wurde, bestätigen Experten.

Eine aussagekräftige Statistik über Mobbing gibt es weder bundesweit, noch in Berlin. Schulen können Fälle zwar freiwillig melden. Seit 2017 veröffentlicht die Berliner Verwaltung aber nicht mehr, wie viele Meldungen eingehen. Die Schulen hätten uneinheitlich gemeldet, heißt es, die Zahlen seien nicht aussagekräftig. Stahl hält das für eine Ausrede.

Im Bundestag möchte Carsten Stahl für seine Sache werben

Ein Dienstag im November, Bundestag, Paul-Löbe-Haus. Drei Tage lang begleitet Stahl den sachsen-anhaltischen CDU-Abgeordneten Christoph Bernstiel. Sie haben sich in einer Fernsehshow kennengelernt. Bernstiel will Stahl zeigen, wie Politiker arbeiten, Stahl seine Botschaften an den Mann bringen. Es ist Tag zwei.

Carsten Stahl während seines Praktikums im Bundestag. Auf der Brust: Der Aufnäher seiner Anti-Mobbin-Kampagne.
Carsten Stahl während seines Praktikums im Bundestag. Auf der Brust: Der Aufnäher seiner Anti-Mobbin-Kampagne.
© Thilo Rückeis

Mit strammen Schritten und durchgedrücktem Kreuz läuft er durch die große Halle des Paul-Löbe-Hauses. Menschen drehen sich nach ihm um. Gerade hatte vor dem Reichstag noch das Gelöbnis von 400 Soldaten stattgefunden. Jetzt wird getuschelt: Ist das nicht ...? Plötzlich bleibt Stahl stehen, seine Hand greift die eines Rekruten. „Genau wie ich, stellst du dich schützend vor andere Menschen, sogar vor ein ganzes Land“, sagt Stahl. „Das ist deine Berufung – ich habe meine.“

Wer ihn zum Thema Mobbing befragt, erlebt einen wütenden Mann. Mit der Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres führt er eine Art Privatfehde. „Der Berliner Senat macht seit Jahren keine Prävention“, sagt Stahl. Es gibt zwar dutzende Präventionsprojekte. Dass es noch zu wenige seien, kritisierte kürzlich aber auch der Berliner Landesschülerausschuss.

Man kann Stahls Kommunikation populistisch nennen – mit wahrem Kern, aber reichlich überdreht. „Mann, ick bin Berliner, ick hab’ ne große Fresse, welcher Berliner hat dit nich?“ – das sagt Stahl dazu. Er zitiert Konrad Adenauer: „Machen Sie sich erst einmal unbeliebt, dann werden Sie auch ernstgenommen.“ Das habe er ja nun geschafft, sagt er.

Eine SPD-Politikerin wird von Stahls Anhängern bedroht

Rathaus Neukölln, Dachgeschoss, Raum A460. Mirjam Blumenthal, Fraktionsvorsitzende der SPD Neukölln, sitzt an einem kleinen Holztisch und spendiert Filterkaffee aus einer Thermoskanne. Seit fast drei Wochen wird sie auf Facebook bedroht. Der Auslöser war ein Video von Carsten Stahl. Der reagiert darin wütend auf einen Antrag der Neuköllner SPD und Grünen, sich gegen eine Zusammenarbeit mit ihm zu entscheiden.

Blumenthal hatte den Antrag schon im März damit begründet, Stahl würde Kinder „psychisch und verbal erniedrigen“, habe einem Kind sogar eine Waffe an den Hals gehalten. Stahl reagierte im Oktober mit einem Video – ebenfalls auf Facebook, an dem Tag, als in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung über sein Programm diskutiert wurde. In Richtung Blumenthal sagte er: „Sie werden dafür bezahlen, dass Sie sich erdreisten über mich zu richten und Lügen zu verbreiten.“

Jemand kommentierte auf Blumenthals Facebook-Seite: „Ich freue mich, wenn Herr Stahl Sie zur Rechenschaft zieht.“ Ein anderer schrieb: „Lass die Alte bluten Carsten.“

„Cybermobbing“, sagt Blumenthal mit fester Stimme, wenn man ihr Kommentare wie diese vorliest. Von einigen Nutzer-Profilen hat sie Screenshots gemacht. Sie zeigen das Eiserne Kreuz, den Deutschland-Adler oder Szenen aus Actionfilmen. „Hier wird gut durchorganisiert versucht, unliebsame Menschen zum Schweigen zu bringen.“

Dann sagt sie: „Eigentlich tun mir die Leute leid. Sie haben nicht gelernt, anständig miteinander zu kommunizieren.“ Was in ihren Aussagen mitschwingt: Stahls Fanschaft sei irgendwie rechts, er ein Politik-Feind.

Der Mobbingtrainer ist längst eine Marke geworden

Stahl ärgert sich darüber. Er sagt er sei kein Feind der Politik. „Wäre ich sonst hier im Bundestag?“ Dass Neukölln nun ohne ihn arbeiten will, wird er verkraften: Seine Bekanntheit reicht über seinen Heimatbezirk hinaus, 340 000 Menschen folgen ihm auf Facebook. Laut eigenen Angaben hat er bereits 50 000 Schülern in Deutschland geholfen. Fans können auf seiner Website „Stoppt Mobbing“-Merchandise kaufen: eine Tasse für 18 Euro, einen Pullover für 40,50 Euro und einen Jutebeutel für 17,50 Euro.

Auch um Spenden bittet der gemeinnützige Verein „Camp Stahl“. Bald soll ein Online-Seminar zum Verkauf stehen – für Schulen, die Stahl nicht persönlich besuchen kann. Er ist eine Marke. Sogar die „New York Times“ hat über ihn berichtet.

Die Stahl-Story geht so: In der Jugend selbst Mobbingopfer, dann Kampfsport, dem er heute seine Muskelberge verdankt – und Abrutschen in die Kriminalität. Vor sechs Jahren wurde sein Sohn eingeschult. Drei Tage später schon habe er verheult auf dem Bett gesessen, die Lippe blutig, Klassenkameraden hätten ihn so zugerichtet, erzählt Stahl. Er habe ihn angefleht: Papa, schick mich nie wieder in die Schule. Da habe sein Kampf gegen Mobbing begonnen.

Innerhalb weniger Tage schickt Stahl mehr als 200 Whatsapp-Nachrichten. Es sind Links zu Artikeln, Screenshots von Politikern, die sich mit ihm solidarisieren. Fotos von seiner „Stoppt Mobbing“-Kampagne, für die Lokalpolitiker wie Mario Czaja und der Neuköllner Jugendstadtrat Falko Liecke ihr Gesicht gaben. Mails von Eltern, die um seine Hilfe bitten. Bunt bemalte Briefe von Schülern, die sich bei ihm bedanken. Er hebt sie alle auf.

Ein Experte befand Stahls Workshops für „ausgezeichnet“

Stahl ist kein Psychologe und kein Pädagoge, eher Demagoge – zumindest wird ihm das vorgeworfen. Um seine fachliche Qualifikation nachzuweisen, verweist Stahl auf ein Schreiben von 2016. Es trägt den Briefkopf der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, unterzeichnet hat es ein Schulpsychologe für Gewaltprävention und Krisenintervention. Darin steht, Stahls Programm sei „ausgezeichnet“ und „unbedingt empfehlenswert“.

Die Berliner Bildungsverwaltung will davon heute nichts mehr wissen. Es handele sich um eine Einzelmeinung, sagt ein Sprecher. Der Verfasser habe seine Meinung zu Stahl mittlerweile geändert, in der Bildungsverwaltung sehe man seine Arbeit „in zunehmendem Maße kritisch“. Es gebe Stimmen aus Schulaufsicht und Schulpsychologie: Stahls Ton wirke zunehmend bedrohlich und einschüchternd.

Anruf bei Herbert Scheithauer. Er ist Professor für Entwicklungspsychologie an der Freien Universität Berlin und forscht seit 20 Jahren zum Thema Mobbing. Im Februar saß er mit Stahl in einer Anhörung im Bildungsausschuss. Es ging um den Tod eines Kindes aus Reinickendorf. Stahl hatte den Fall gegen den Willen der Eltern öffentlich gemacht. Dass die Ursachen des vermeintlichen Suizides nicht geklärt waren, ignorierte er. Für ihn gab es nur einen Grund: Mobbing.

Eine Anzeige wegen übler Nachrede

Erst vergangenen Monat veröffentlichte Carsten Stahl die Geschichte eines weiteren Kindes auf Facebook, intime Details zur Krankengeschichte, Vorname des Kindes, Name der Schule. Experten sind von solchen Aktionen schockiert.

In Reinickendorf hatte Stahl damals eine Mahnwache vor der Schule organisiert. Teilnehmer berichten, Stahl habe die Eltern der Schule gegen die Schulleitung aufgestachelt. Herbert Scheithauer hatte der Schule anschließend geholfen, den Fall psychologisch aufzuarbeiten. Zu Stahls Methoden sagt er: „Die Wirksamkeit von Stahls Programm ist meines Wissens nach nicht wissenschaftlich belegt.“ Oder: „Konfrontative Maßnahmen könnten auch negative Effekte auf Kinder haben.“ Er könne aber nicht ausschließen, dass Stahls Vorgehen „möglicherweise in einzelnen Fällen“ helfen könne.

Carsten Stahl, Coach und Anti-Gewalttrainer bei einem Kurs in der Hedwig-Dohm-Oberschule Moabit.
Carsten Stahl, Coach und Anti-Gewalttrainer bei einem Kurs in der Hedwig-Dohm-Oberschule Moabit.
© Thilo Rückeis

Bildungspolitiker vor allem von Linken, Grünen und der SPD kritisieren, dass Stahls Programme mit ein bis zwei Tagen zu kurz seien. Auch Scheithauer sagt, es gebe keine kurzfristige Methode, die nachhaltig gegen Mobbing wirke. Im Gegenteil, Maßnahmen, die falsch durchgeführt oder zu früh abgebrochen würden, könnten zu mehr Mobbing führen. Bewährt hätten sich langfristige Maßnahmen, bei denen alle Beteiligten eingebunden werden, Schüler, Eltern, Lehrer.

Carsten Stahl kämpft nun um seinen Ruf. Mirjam Blumenthal wirft er vor, gelogen zu haben. Wegen übler Nachrede hat er sie angezeigt. Er habe nie einem Kind eine Waffe an den Hals gehalten, wie sie in einem Facebook-Post behauptet. In Videos, die dem Tagesspiegel vorliegen, ist zu sehen, wie Stahl in einem „Eskalationstraining“ eine Spielzeugplastikpistole zieht und damit auf ein Kind zielt. Er wolle zeigen, sagt er, wie schnell aus einem Streit tödlicher Ernst werden könne.

Politiker unterstützen den Anti-Mobbing-Trainer

„Man muss mich und diese Methode nicht mögen“, sagt Stahl, „aber bei der Wahrheit bleiben.“ Blumenthal sei nie bei einem seiner Trainings gewesen. Das wurde der SPD-Politikerin auch von der Neuköllner CDU vorgeworfen. Sie antwortete: „Björn Höcke muss ich auch nicht kennenlernen.“

Im Bundestag haben Stahl und der Abgeordnete Christoph Bernstiel auf einer schwarzen Ledercouch Platz genommen, gleich neben dem Plenarsaal. Bernstiel, 35, seit 2017 im Bundestag, Innenpolitiker, nimmt Stahl in Schutz. Er erreiche die Kinder, an die die Politik meist nicht mehr rankomme, die schon „auf der schiefen Bahn“ seien. Bernstiel spricht von einer „unmöglichen Diffamierung“.

Halb-Wahrheiten und drastische Vergleiche prägen die gesamte Debatte um Stahl. Dabei rutscht die eigentliche Frage in den Hintergrund: Wie kann man sinnvoll gegen Mobbing vorgehen, und welche Maßnahmen richten nur noch mehr Schaden an?

Carsten Stahl lässt sich davon nicht beirren. Kommt Kritik auf, kontert er mit den positiven Reaktionen von Eltern und Schülern. Als vergewissere er sich selbst: Wie kann ich falschliegen, wenn ich diesen Menschen so viel gebe? Nach einem Seminar in Stralsund schrieb ihm eine Mutter: „Wir sind froh, dass Du dir den Wind nicht aus den Segeln nehmen lässt und für unsere Kinder kämpfst … Hut ab und ganz großen Respekt für Dich.“

Sind Sie oder Ihr Kind von Mobbing betroffen? Die Mobbing-Hotline Berlin-Brandenburg kann Sie beraten: 030/86 39 15 72. Bei Suizidgedanken erhalten Sie Hilfe unter der Nummer 0800/111 0 111.

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