EU-Gipfel nach dem Brexit: Die Krise aller Krisen
Wie weiter, das gilt es beim ersten EU-Gipfel nach dem Brexit herauszufinden. Klar ist: Hier beginnt etwas ganz Neues. Unklar ist: Wie genau dies aussehen soll. Und ob Jean-Claude Juncker noch der Richtige ist.
Nicola Sturgeon setzt all ihre Hoffnungen in den Mann, den der Rest der EU schon fast abgeschrieben hat. Den Mann, der von sich sagt, er werde „bis zum letzten Atemzug für ein vereintes Europa arbeiten“. Sturgeon ist in die EU-Hauptstadt Brüssel gekommen und hat um einen Termin mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker gebeten. Es ist nicht das erste Treffen zwischen Juncker und Sturgeon, und in normalen Zeiten wäre die Begegnung ein Routinetermin. Nicola Sturgeon ist Chefin der schottischen Regionalregierung, also so etwas ähnliches wie Hannelore Kraft, die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin. Und Ministerpräsidenten sind ständig in Brüssel. Aber dies sind keine normalen Zeiten.
Es ist Tag sechs nach dem Brexit-Referendum. Sturgeon will bei ihrem Besuch sondieren, ob es einen Weg gibt, die Schotten in der Europäischen Union zu halten. Der 61-jährige Jean-Claude Juncker hat das europäische Aufbauwerk begleitet wie kein Zweiter. Und so soll er nach dem Willen von Sturgeon das Unmögliche vollbringen. Den Schotten einen Weg aufzeigen gegen den Brexit, gegen die Mehrheit von insgesamt 52 Prozent der Briten, die am vergangenen Donnerstag klar gemacht haben, dass sie nicht in der EU bleiben wollen.
Nebenbei soll er in dieser historischen Krise auch den europäischen Laden, oder das, was davon noch übrig ist, zusammenhalten. Wie das gehen soll, ist unklar – wie so vieles dieser Tage. So war das Treffen der Staats- und Regierungschefs, das am Mittwoch zu Ende ging, vor allem ein Gipfel der Ratlosigkeit.
Juncker - eine Fehlbesetzung?
Ob Juncker all den Aufgaben noch gewachsen ist, bezweifeln mittlerweile viele. Dass in der britischen Presse als Teil der „Leave“-Kampagne Gerüchte über sein angebliches Alkoholproblem ausgebreitet wurden, mag Juncker nicht überrascht haben. Es trifft ihn aber wahrscheinlich doch, dass nun auch wieder in der EU-Zentrale, hinter seinem Rücken, über seinen Gesundheitszustand spekuliert wird. Direkt nach dem Votum der Briten trat er am vergangenen Freitag in Brüssel derart wortkarg auf, dass viele Beobachter zu dem Schluss kamen, Juncker sei eine Fehlbesetzung. Gerade jetzt, an diesem historischen Wendepunkt, der alle bisherigen EU-Krisen vergleichsweise klein erscheinen lässt.
Juncker, der die EU stets als das Projekt einer „immer engeren Union“ begriffen hat, steht für all das, was das Londoner Establishment an der EU so gehasst hat. Aber die politischen Gegner des Kommissionschefs sitzen nicht nur in England, sondern auch in vielen osteuropäischen Hauptstädten. Polens Ministerpräsidentin Beata Szydlo begreift die Europäische Union beispielsweise lediglich als ein Bündnis „souveräner Staaten“ – das verträgt sich kaum mit Junckers Vorstellungen.
Er nimmt den Kampf auf
In der Bundesregierung verteidigen sie Juncker gegen die Angriffe. Immerhin sei er ein „politischer Kommissionspräsident“. 2014 gab es erstmals den Versuch, die Wahl zum Kommissionschef besser demokratisch zu legitimieren. Die konservative EVP-Parteienfamilie stellte seinerzeit Juncker bei der Wahl als Spitzenmann gegen den sozialdemokratischen Vertreter Martin Schulz auf. Normalerweise nominiert der Europäische Rat, also die Versammlung aus Staats- und Regierungschefs, einen Kandidaten für das Amt und das Parlament muss zustimmen. Diesmal akzeptierte der Rat zähneknirschend die Vereinbarung, dass derjenige Kommissionschef werden solle, dessen Parteienfamilie bei der Europawahl vorn liegt. Die EVP gewann seinerzeit – und Juncker mit ihr.
Ob ihm das nun hilft, sein Amt zu behalten, ist noch nicht sicher. Aber Jean-Claude Juncker hat den Kampf gegen seine Kritiker aufgenommen. Am Dienstag etwa hat er im Europaparlament noch einmal klargestellt, er sei weder müde noch krank. Am Mittwochnachmittag, vor seinem Treffen mit Nicola Sturgeon, steht Juncker dann gemeinsam mit dem polnischen EU-Ratschef Donald Tusk im Pressesaal des Justus-Lipsius-Gebäudes im Brüsseler Europaviertel. In dem blockartigen Gebäude ist gerade der EU-Gipfel zu Ende gegangen, der lange geplant war, aber nach dem britischen „Nein“ zu Europa unvermittelt zum Krisengipfel wurde. Auf dem Weg zur gemeinsamen Pressekonferenz redet Tusk lange auf Juncker ein – fast könnte man den Eindruck bekommen, dass sich da gerade jemand als neuer starker Mann in Stellung bringt. Als Juncker anschließend gefragt wird, ob er den Ausgang der britischen Volksabstimmung mit zu verantworten habe, ist es aber der ehemalige polnische Ministerpräsident, der ihn verteidigt. „Jean-Claude Juncker ist der Letzte, dem man vorwerfen kann, für das Ergebnis des Referendums verantwortlich zu sein“, sagt Tusk. Die Frage bleibt auch nach dem Gipfel: Wem dann?
Erstmals haben die 27 Staats- und Regierungschefs ohne die Briten getagt
David Cameron ist zu dem Zeitpunkt schon längst wieder abgereist. Am Abend zuvor durfte der britische Regierungschef zwar beim gemeinsamen Dinner noch dabei sein. Doch übermäßig viel zu sagen hatten sich Cameron und die übrigen Regierungschefs dann wohl nicht mehr. Das Abendessen ging für Brüsseler Verhältnisse vergleichsweise schnell – noch vor Mitternacht – zu Ende. Cameron ließ die Presse hinterher wissen, es sei ein „positives, konstruktives, ruhiges und zielgerichtetes Treffen“ gewesen. Dann zwängte er sich um 23.39 Uhr mit seiner Entourage in den Lift, um das Ratsgebäude zu verlassen – Exit aus Brüssel. Noch vor den wichtigen informellen Gesprächen.
Erstmals haben die 27 Staats- und Regierungschefs nun also ohne die Briten getagt – es ist eine Premiere. Und es ist gut möglich, dass zum nächsten Gipfel Cameron gar nicht mehr erscheint, sondern sein Nachfolger.
Während Cameron das Ratsgebäude verlässt, spricht Frankreichs Präsident François Hollande in der Nacht immer noch über die Folgen des Referendums. Auch in Frankreich, erklärt er, gebe es „eine Partei“ – den rechtsextremen Front National nennt er nicht beim Namen –, die ein Referendum über den Austritt aus der Euro-Zone fordere. Im französischen Präsidentschaftswahlkampf im kommenden Jahr werde es um die Teilhabe Frankreichs an der EU gehen, sagt Hollande voraus. Seine Äußerung gibt eine Ahnung davon, was in Europa in diesen Tagen auf dem Spiel steht.
Merkel will keine Spekulationen
Andererseits ist der Brexit mitsamt seinen negativen Auswirkungen für Großbritannien, die sich abzuzeichnen beginnen, auch ein ganz gutes Argument für alle, welche die EU in ihrer bestehenden Form verteidigen wollen. So stellt Hollande die rhetorische Frage, ob es denn nun besser sei, innerhalb oder außerhalb der Europäischen Union zu sein. Er zuckt mit den Schultern, als er das sagt. Ob er hofft, dass sich die Briten am Ende doch anders besinnen oder ob er nur einen möglichen Dominoeffekt in weiteren EU-Ländern verhindern will, ist auch eine der vielen offenen Fragen dieses Gipfels.
Auch Angela Merkel will sich auf Spekulationen, dass die Briten möglicherweise am Ende ihren Antrag auf Verlassen der Union gar nicht einreichen, nicht einlassen. Sie halte ein derartiges Szenario für „nicht möglich“, sagt die Kanzlerin. „Das Referendum steht da als Realität. Wir haben uns mit Realitäten auseinanderzusetzen. Das ist es, was Politik ausmacht.“ Keine Trauer über den Verlust des britischen Partners? Die Antwort der deutschen Bundeskanzlerin klingt nicht danach, als wolle sie sich allzu lange mit dem Blick auf die vergangenen fünf europäischen Chaostage beschäftigen: „Wir sind nicht dafür da, uns mit Trauer lange aufzuhalten.“
Das worst-worst-worst-case-Szenario
Wie groß die Unsicherheiten sind, die das britische Referendum ausgelöst hat, ist überall im Europaviertel Brüssels zu spüren. Gegenüber dem Ratsgebäude, wo die Staats- und Regierungschefs tagen, liegt der Sitz von Junckers EU-Kommission. Entlang der Rue de la Loi, der Hauptstraße im Europaviertel, geht es in vielen Gesprächen um den Brexit – wie man immer wieder an Gesprächsfetzen hören kann, am Morgen sind viele Kommissionsbeamte auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz: „ ... aber das wäre natürlich das worst-worst-worst-case-Szenario“, sagt einer dieser Mitarbeiter zu seinem Nebenmann. Gedankenspiele, was im schlimmsten Fall passieren könnte, gehören zurzeit in Brüssel zum Alltag.
Weiter unten an der Rue de la Loi marschiert eine Gruppe von Männern in dunklen Anzügen die Straße hoch. „Wir sind Landwirte aus Irland“, sagt einer der Männer, die in Brüssel an der richtigen Stelle nun auf ihre Interessen aufmerksam machen wollen. „Wir sind sehr besorgt.“. Warum? „Die Hälfte der landwirtschaftlichen Exporte aus Irland geht nach Großbritannien“, erklärt der Mann, „neue Handelsbarrieren würden uns erheblichen Schaden zufügen.“ Und außerdem könne es sein, dass es nach dem Brexit neue Kontrollen zwischen Nordirland und dem Rest der Insel gebe. Eine neue Grenze auf jener irischen Insel, die am Ende des vergangenen Jahrhunderts erst so mühsam den Weg zum Frieden gefunden hat – auch der ist vom Brexit bedroht.
Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.