Regierungserklärung zum Brexit: Merkel nummeriert die Krise erst mal durch
Durcheinander in London, Hektik in Brüssel und Berlin. Angela Merkel hat auch noch keine Lösung - aber muss sich im Bundestag zum Brexit erklären. Klar wird, was sie jetzt verhindern will.
Verwaltungshandeln ist auch eine Möglichkeit in chaotischen Zeiten. „Erstens“, sagt Angela Merkel. Die Kanzlerin steht im Reichstag am Rednerpult und blickt in einen ungewöhnlich gut besetzten Plenarsaal. Ungewöhnlich nicht nur, weil an einem Dienstag hier normalerweise nur Besuchergruppen leere blaue Bänke vor dem Bundesadler betrachten. Aber die Tagesordnung des deutschen Parlaments ist noch das Geringste, was die britischen Wähler durcheinandergebracht haben. Seit dem Brexit-Votum tobt Chaos in London, Hektik in Brüssel, Durcheinander in Berlin. Es wird Zeit, das alles mal etwas zu ordnen. „Erstens“, sagt Merkel also. Am Ende ihrer Regierungserklärung kommt sie bei „sechstens“ an. Die Frage ist nur, ob das Nummerieren weiterhilft in einer historischen Krise.
Ob das Ausmaß eigentlich alle schon begriffen haben, also so richtig? „Diese Katastrophe wird schleichend kommen“, hat ahnungsvoll einer aus der Regierungsspitze am Brexit-Tag vorhergesagt. Wenn man von der vollen Besetzung absieht, geht es im Plenarsaal zu wie immer. Wolfgang Schäuble lässt seinen Rollstuhl schwungvoll die flache Rampe vor dem Rednerpult hinunterflitzen. Bevor es losgeht, redet Merkel länger mit ihrem Finanzminister, weil sie hinterher gleich weg muss zum EU-Sondergipfel nach Brüssel.
Schäuble, der alte Europäer, der hat bestimmt begriffen, was da passiert ist. Am Montagabend bei einer Veranstaltung in seiner baden-württembergischen Heimat hat er gesagt, dass ihm zum Weinen zumute ist und den Briten inzwischen wahrscheinlich auch. „Das nützt jetzt aber auch nichts, das hätten sie sich vorher überlegen sollen.“ Schäuble hat dabei in einer Schule gesessen. In dem Satz klingt er wie ein alter Lehrer, der sich darin fügen muss, dass seine Schüler ihn bitter enttäuscht haben.
Es ist ja nicht nur so, dass da einfach mal ein Land beschlossen hat, Europa zu verlassen, und dass das so ähnlich wäre wie ein Beitritt, bloß umgekehrt. Nein, der Brexit hat die Europäische Union aus der Bahn geschleudert, einer Bahn, auf der es seit Menschengedenken immer nur vorwärts zu gehen schien – größer, besser, tiefer, mehr. Auf Rückschläge war die Antwort fast automatisch immer die gleiche: Europa wachse an seinen Krisen.
Aber wenn ein Land wie Großbritannien wegbricht, fällt dieser Trost schon deshalb aus, weil das Bild vom Wachsen allzu offensichtlich nicht mehr stimmt. Vielleicht haben deshalb die ersten Reaktionen der Amts- und Herzenseuropäer so hilflos trotzig geklungen, die „Jetzt erst recht“- und „Mehr Europa“-Rufe der Jean-Claude Junckers, Martin Schulzes und wie sie alle heißen. Es ist etwas passiert, also weiter so?
Merkel hat diesen Schwung vom ersten Moment an zu bremsen versucht. Das betreibt sie fort. „Naturgemäß“, sagt die Kanzlerin, gebe es jetzt jede Menge Vorschläge, von „Nun erst recht“ bis zum Ruf, Kompetenzen von Europa an die Mitgliedsländer zurückzuverlagern. Aber all das müsse sich einem Ziel unterordnen: Zusammenhalt. „Jeder Vorschlag, der die Europäische Union der 27 als Ganzes aus der Krise führen kann, ist willkommen“, sagt Merkel. Jeder Vorschlag, der die vorhandenen „Fliehkräfte“ stärke, würde Europa nur weiter spalten. Das wolle „die ganze Bundesregierung“ verhindern, mit aller Kraft.
Bei der Union klatschen sie demonstrativ Beifall. Bei der SPD klatscht demonstrativ fast keiner. Frank-Walter Steinmeier blickt von der Regierungsbank mit Weltschmerzmiene ins Nirgendwo. Sigmar Gabriels Mimik erkennt man hinter verschränkten Händen nicht. Sie wären jetzt gerade lieber nicht „ganze Bundesregierung“, nicht mal halbe. Gabriel hat gleich nach dem Brexit mit dem EU-Parlamentspräsidenten Schulz zusammen ein Zehn-Punkte-Papier in Umlauf gebracht, Steinmeier hatte mit dem französischen Kollegen Jean-Marc Ayrault schon auf Vorrat einen Plan B formuliert.
Merkel tut beide als parteipolitische Schnellschüsse ab. Ihr Fraktionschef Volker Kauder wird hinterher noch deutlicher. Man müsse die Lage sorgfältig analysieren „und nicht nach politischen Interessen“. Den „lieben Koalitionspartner“ erinnert Kauder bei der Gelegenheit daran, welche Rolle zum Beispiel Steinmeier bei der Formulierung der Agenda 2010 gespielt hat. Steinmeier muss da sogar lächeln, weil, das stimmt ja.
Das kleine Geplänkel deckt einen der Gründe für Merkels Unwillen gegen rasche Reaktionen und schnelle Schlussfolgerungen auf: Nach Lage der Dinge würden die allemal so ausfallen, dass sie ihr nicht passen können. Europas Sozialisten und Sozialdemokraten wittern Morgenluft. Die Briten waren Merkels Verbündete, wenn es um Wirtschaftsreformen und gegen großzügige Investitionsprogramme im Süden des Kontinents ging. Die CDU-Chefin will verhindern, dass der Brexit zum Anlass und Vorwand für einen Linksschwenk in Brüssel wird.
Das Motiv dürfte auch hinter der Einladung an die zwei Besucher stecken, die den Montagabend mit Merkel im Kanzleramt verbrachten: der Franzose François Hollande und der Italiener Matteo Renzi, „zwei Sozialisten zum Abendbrot“, wie anderntags ein CDU-Abgeordneter bissig vermerkt, der sich darüber ärgert, dass alle anderen Fraktionen am Dienstagmorgen zur Sondersitzung einberufen waren, bloß ausgerechnet die Union der Frau Kanzlerin nicht!
Merkel wird sich aber gedacht haben: Gerade die zwei Sozialisten, gerade die muss sie an ihre Seite binden beim Versuch, die Krise in ihrem Sinne zu steuern. Die müssen mitmachen bei „erstens“ bis „sechstens“, Schritt für Schritt. Was übrigens funktioniert hat. Merkels Plan ist vor allem ein Zeitplan, sie trägt ihn vor wie eine staatsrechtliche Vorlesung: Erst muss London den Austritt erklären, dann muss Rest-Europa die Bedingungen für die Austrittsverhandlungen festlegen. Und was die Zukunft der übrig gebliebenen 27 angeht, sollen bis zum September Vorschläge ausgearbeitet werden, die dann im März zum 60. Jahrestag der Römischen Gründungsverträge verabschiedet werden sollen. „Ein erfolgreiches Europa“ müsse das werden, sagt Merkel, „ein Europa, das sich an seine Verträge und seine Versprechen hält.“
Verwaltungshandeln, ja. Aber Verwaltung schafft immerhin Ordnung, bremst die Revolution und verhindert weitere Unordnung. Davon gibt es ja auch so schon genug. Europa hat sich in den letzten Monaten als zerstrittener Haufen präsentiert, gerade noch zu gemeinsamen Beschlüssen fähig, aber – man braucht da ja nur mal kurz an die Flüchtlingskrise denken – überhaupt nicht willens, die dann auch umzusetzen.
Und alleine was in London los ist! Der Premierminister David Cameron geht, bleibt aber noch etwas, über seinen Nachfolger raufen sich die Konservativen, die Labour-Opposition wäre ihren Chef am liebsten auch los, im Parlament hat der Brexit keine Mehrheit, die Schotten drohen mit Sezession – und die Brexit-Sieger präsentieren wahlweise komplette Ratlosigkeit und große Klappe. Boris Johnson hat den Briten schon versprochen, dass alles so bleibt, wie es ist, nur noch besser – was man dreist oder hilflos finden kann von dem früheren Londoner Bürgermeister mit der blonden Fusselfrisur und den klemmenden Anzügen oder, was vermutlich die Wahrheit ist, beides zugleich.
Wie viel Angst der Brexiteers vor den Folgen des eigenen Erfolgs haben, kann man am Dienstag besonders gut bei Nigel Farage studieren. Der Chef der antieuropäischen Ukip-Partei fordert im Brüsseler Europaparlament sozusagen ultimativ ein Freihandelsabkommen. Sonst wären bei den deutschen Auto-Arbeitern „hunderttausende Jobs“ in Gefahr. Juncker fragt Farage bei der Gelegenheit, was er eigentlich noch wolle im Europaparlament. Aber wenn es um sie selbst geht, sind die Europakritiker seit jeher nicht ganz so streng mit Europa.
Merkel ist die Letzte, die sich nicht weiter gute und enge Wirtschaftsbeziehungen mit Großbritannien wünscht. Diese Art von Erpressung kann sie schlechterdings nicht durchgehen lassen. „Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden“, versichert sie. „Es muss und wird einen spürbaren Unterschied machen, ob ein Land Mitglied der Familie der Europäischen Union sein möchte oder nicht.“ Freihandel mit der EU sei nicht zu haben ohne die übrigen Freiheiten, die Freizügigkeit von Arbeitnehmern inklusive.
Johnson und Farage werden das nicht gerne hören, zu schweigen von ihren Wählern, denen man versprochen hatte, dass Schluss sein werde mit dem Zuzug von Polen oder Rumänen oder Bulgaren. Dafür kriegt die Kanzlerin an dem Punkt mal fast allgemeinen Beifall aus dem Bundestag.
Den bekommt sie auch für die Absage an eine weitere kreative Idee der Sieger in London. Nein, es wird keine Verhandlungen geben, bevor Großbritannien nicht förmlich den Austritt erklärt hat. An dem Punkt herrscht EU-weit Einigkeit. Kommissionspräsident Juncker hat seinen Mitarbeitern schon einen, sagt er, „Mufti-Befehl“ erteilt: keine Gespräche über den Austritt, auch nicht vertrauliche, vor dem Austritt.
Für den EU-Gipfel ist damit der Rahmen ziemlich klar abgesteckt. Man wird sich anhören, was Cameron zu sagen hat, wird dem Briten die Botschaft mitgeben, dass es keinen Ausstieg de luxe geben wird, und ansonsten Zeitpläne und Kommissionen beschließen. Das ist nicht ganz das, was sich Gabriel oder Steinmeier gewünscht haben mögen. Aber was sollen sie machen als Teil einer „ganzen Bundesregierung“?
Selbst in der Frage des Tempos, das die Briten bei ihrer Austrittserklärung vorlegen sollen, hält die SPD nur noch den Anschein eines Streits aufrecht. Es sei die „Pflicht der Bundesregierung“, in Brüssel auf Tempo zu drängen, ruft SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann in Richtung Regierungsbank. Aber im Satz davor, sozusagen im Kleingedruckten, hat er zugestanden, dass die Drängerei nichts bringt. Natürlich entschieden die Briten allein, wann sie den Austrittsartikel 50 in Anspruch nehmen. In Brüssel redet Sozialdemokrat Schulz schon vom September.
Im Bundestag hat es dann übrigens noch eine Debatte gegeben über Merkels Regierungserklärung, so wie es sie immer gibt. Hinterher im Foyer sagt einer, dass er so etwas Überflüssiges noch nie erlebt habe in seiner Abgeordnetenzeit. Aber das stimmt eigentlich nicht. Sie war bloß relativ ratlos. Die alte Erzählung von Europa, sagt Unionsmann Kauder, die funktioniere nicht mehr so gut heutzutage. „Jetzt muss eine neue Geschichte erzählt werden!“ Aber wie die gehen soll, das weiß er wohl auch noch nicht. So wenig wie Katrin Göring-Eckardt von den Grünen, die findet, dass man viel mehr gut reden müsse über Europa, aber auch viel mehr darüber streiten, und die außerdem plötzlich Probleme hat mit alten grünen Grundsatzforderungen. „Ich bin nicht plötzlich gegen direkte Demokratie, aber die Abstimmung über Politik ersetzt nicht Politik!“
Oder wie Dietmar Bartsch. Der Linken-Fraktionschef hält eine sehr kritische Rede, deren Adressaten überwiegend in den Reihen rechts von seiner eigenen Fraktion zu vermuten sind. „Wir brauchen endlich eine andere Politik!“, ruft Bartsch, und dass der SPD-Chef Gabriel ja völlig recht habe mit seinen zehn Punkten zum Beispiel für mehr Investitionen gegen Jugendarbeitslosigkeit, nur leider stehe das Papier „diametral der aktuellen Politik entgegen“. Außerdem, sagt Bartsch, sei der letzte Europäer im Kanzleramt Helmut Kohl gewesen. Was dem SPD-Kollegen Oppermann die Chance zu dem Witz gibt, dass die Christdemokratisierung der Linken voranschreite.
Das übliche Geplänkel also. Was das genau mit dem Brexit zu tun hat? Gute Frage. Vielleicht ist das Ereignis aber auch einfach zu groß für so eine Debatte irgendwo zwischen der Tagespolitik. Das vereinte Europa, hat Merkel am Ende ihrer Rede gesagt, stehe an einem „historischen Scheideweg“. Was für ein Wort in diesen Tagen – und was für ein Bild: Es gibt eine Wahl, aber danach kein Zurück.
Robert Birnbaum