Landwirtschaft in der Krise: Die kleinen Bauern kämpfen ums Überleben
Glückliche Kühe! Blühende Felder! Sein uriger Hof! Für den Brandenburger Landwirt Reinhard Jung sind solche Schwärmereien reiner Kitsch. Manager in fernen Konzernzentralen lenken heute das Landleben.
Kälber weinen nicht. Doch im dämmrigen Laufstall von Bauer Jung ist das Vieh immer noch unruhig. Am Tag zuvor war der Tierarzt in Lennewitz und hat den jungen Bullen die Samenstränge abgequetscht. Nun suchen die Kleinen Schutz bei der Mutter und saugen am Euter, was sie nur kriegen. „Das beruhigt“, sagt Reinhard Jung mit einem Blick auf die Tiere, denen die Milch aus den Mäulern tropft, „aber es tut ihnen immer noch weh.“
Er möchte das nicht weiter kommentieren. Für den Landwirt gehören Schmerz und Tod zum Dasein dazu. Draußen ist ein heller Frühlingsmorgen. Die Felder schimmern grün und gelb. Raubvögel kreisen in der klaren Prignitzer Luft. Der 50-Jährige zeigt sich in Gummistiefeln, Basecap und Arbeitshose. Sein Anwesen ist nicht bloß ein für die Gegend typischer Vierseithof, es ist ein Architekturdenkmal, das er persönlich vor dem Abriss gerettet hat. Vorplatz, Stall, Scheune – alles tadellos gefegt und aufgeräumt. Gerettet auch der selten gewordene Storch, der auf dem Scheunendach ein neues Zuhause fand. Und was das wiederkäuende Vieh betrifft, so handelt es sich um eine uralte Rasse, die ebenfalls schon kurz davor stand, auszusterben.
Im Grunde genommen droht Jung dasselbe Schicksal wie dem Deutsch Rotbunten Niederungsvieh. Denn die Landwirtschaft findet zunehmend ohne Bauern statt. Leicht überspitzt formuliert: Ackerbau und Viehzucht, so wie diese Kulturtechniken seit jeher existierten und den Menschen ernährten, haben im Grunde ausgedient. Früher schuftete der Bauer auf seiner Scholle, heute lenken Manager von fernen Konzernzentralen die Geschicke der Agrarbetriebe.
Die Zahl der selbstständigen Bauern in Deutschland hat sich seit 1991 halbiert. Die Jungen flüchten, die Dörfer veröden, ganze Landstriche leeren sich. Draußen möchte keiner mehr leben, aber mit dem Land wird jede Menge Geld verdient. Nur kommen die Gewinne eben nicht der Region zugute, sondern wandern ab zu den Agrarkonzernen in die Stadt.
Reinhard Jung geht nicht. Mag der Schulweg für die Kinder in die nächste, kaum so zu nennende Stadt Bad Wilsnack noch so weit sein. Da mögen Jahre vergehen, bis sie endlich ein schnelles Internet bekommen und die mondlosen Nächte in der Prignitz schwärzer als Tinte sein. Jung bleibt. Der schmale Mann mit dem Predigergesicht bewohnt auf seinem Anwesen ein perfekt restauriertes Fachwerkhaus. Er reist nicht mehr oft. Seinen Hof lässt er ungern allein. Sehr wahrscheinlich werden seine Frau und er in nicht allzu ferner Zukunft überhaupt die letzten privaten Bauern von Lennewitz sein.
„Ohne Gestern hat der Bauer keine Zukunft.“
Jung, der Sohn eines Lehrers und einer Bibliothekarin, ist der Geschäftsführer des brandenburgischen Bauernbundes und als solcher Erfinder der Wortkennung: „christlich – konservativ – heimatverbunden“. Auf ein gemeinsames Logo konnten sich die als Sturköppe und Individualisten bekannten Mitglieder nicht einigen. Dafür auf einen Slogan, der klingt, als entstamme er den 50er Jahren. Aber eigentlich meint Jung damit ja die Beschwörung einer untergehenden Welt. Eingebunden in den Kreislauf der Jahreszeiten, gemacht aus Sonnenenergie, Erde und Arbeit, unverrückbar und vertraut wie der Boden, von dem sein Berufsstand lebt. Er sagt: „Ohne Gestern hat der Bauer keine Zukunft.“
Wie das Morgen aussehen könnte, wird für die „Privaten“, deren Interessen durch den Bauernbund vertreten werden, immer ungewisser. 380 Mitglieder in Brandenburg, ein bunter Haufen Unabhängiger, vom kleinen Biobauern bis hin zum adligen Gutsbesitzer, der nach dem Mauerfall das Familienerbe übernahm. „Wir haben nach der Wende alle gemeinsam angefangen“, sagt Jung, „und stehen im Grunde alle nicht so schlecht da. Aber was nützt das, wenn wir irgendwann alleine hier draußen sind.“
In Brandenburg tobt ein Kampf ums Land. Auswärtige Investoren haben märkischen Sandboden als rentable Anlage entdeckt und kaufen, was sie nur kriegen. Bereits 110 000 Hektar bewirtschaften nach den Berechnungen des Bauernbundes auswärtige Investoren. „Das ist ein ganzer Landkreis“, sagt Jung.
Rein geografisch liegt seine Heimat ja nicht weiter als eineinhalb Fahrstunden nordwestlich von Berlin. Tatsächlich befindet sich das 38-Seelen-Dorf irgendwo im entlegensten Winkel des Elbtals, nicht einmal das Navi kennt die genaue Adresse an der Dorfstraße 20. Zum Glück ist „der Jung“ aber in der Gegend allgemein bekannt. Lennewitz – kaum ist man zum Ort hinein, ist man auch schon wieder draußen. Acht oder zehn Backsteinhäuser verlieren sich in der Weite Brandenburgs.
Die Dummheit der Verbraucher
Nunmehr zwölf Jahre ist es her, dass sich Reinhard Jung einen Traum erfüllte und Bauer wurde. 2003 gründete der gelernte Historiker, Journalist und spätberufene Landwirt in der Prignitz einen bäuerlichen Familienbetrieb. Seitdem befindet sich Jung fast permanent im Kampf. Wenn man ihn fragt, wogegen, dann ist er gegen fast alles. Gegen Agrarinvestoren und Bürokraten. Gegen das geplante Freihandelsabkommen TTIP und Greening. Gegen Braunkohletagebau, Naturschutzauflagen, Gewässerpläne und die „Dummheit der Konsumenten“.
Erst im Januar legte er sich in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer des Bauernbundes mal wieder mit den Tierschützern an, als er Auswüchse bei der Tierhaltung, wie lebend mit der Mistgabel aufgespießte Enten oder Antibiotika im Fleisch, zur „Randerscheinung“ eines ansonsten gesunden Systems erklärte. Einen Aufschrei verursachte auch die Forderungen seines Bauernbundes nach Jagdfreigabe für Biber und Wolf. „Die haben nämlich eine Lobby, im Gegensatz zu uns selbstständigen Bauern.“
Im Grunde aber bekämpft Jung die Art, wie die Gesellschaft zur ihren Bauern steht. „Solange die Lebensmittel billig genug sind, ist den Leuten die Landwirtschaft doch total egal.“
Reichtümer sind es nicht, die man mit der Nachzucht des Deutsch Rotbunten Niederungsviehs anhäufen kann. Jung hält sich zwölf Kühe und einen prächtigen Deckbullen. Fans dieser genügsamen Rinder preisen die Tönung des Fells als ein „unvergleichliches Kastanienrot mit einem Schuss Bordeaux“. Feinschmecker loben die feine Marmorierung des Fleisches. „Für mich“, sagt Jung lakonisch, „ist es einfach die schönste Rasse der Welt.“ Er versäumt dennoch nicht, auf die gut gewachsene Muskelmasse seiner Ochsen hinzuweisen. „Das gibt nachher prima Steaks.“
Hilft der gute alte Glaube?
Dass das Fleisch zu 100 Prozent bio ist, ist wiederum ein Prädikat, das den Landwirt nur am Rande interessiert. Seine Rinder stehen mindestens sieben Monate im Jahr auf der Weide. Auch im Winter haben sie Auslauf. Das Heu in der Raufe ist auf natürliche Art gedüngt und wird von ihm selber eingebracht. Die Ökobilanz ist perfekt, seine geliebten Rotbunten kommen ganz ohne Kraftfutter aus. Aber er will sich kein Etikett aufkleben lassen. „Ich bin Landwirt aus Leidenschaft“, sagt er, „und will mir von niemandem reinreden lassen, wie ich meine Tiere behandele.“
Bei seiner nachhaltigen Wirtschaftsweise könnte er jederzeit das Naturland Gütesiegel erhalten, er hat es noch nicht mal versucht. Bio boomt, aber die Konditionen passen Jung nicht. Der Handel mit dem guten Gewissen der Verbraucher sei ein Massengeschäft. Ob es den Tieren beim Biobauern wirklich besser gehe, darauf solle man lieber keinen Eid ablegen. Und je mehr Supermärkte auf öko machen, desto abhängiger werden die Biobauern von den großen Handelsketten.
Jung ist ein gläubiger Mensch, die Familie betet vor dem Essen. Für ihn ist der Landwirt „unmittelbar bei Gott“. Der gab ihm die Aufgabe, die Schöpfung zu achten und die Menschheit zu nähren. „Ein Landwirt denkt in Generationen“, betont Jung, „er wird niemals versuchen, das Maximale aus dem Boden herauszuholen.“ Was er heute sät, ist für die Nachfahren. Erst sie bringen die Ernte ein.
So lange will heute keiner mehr warten. Den auswärtigen Investoren bleibt für Nachhaltigkeit keine Zeit. Die Aktionäre der internationalen Holdings mit ihren extremen Renditeversprechungen wissen nicht um die Qualität seines Bodens, nichts über Fruchtwechsel und nichts über die Lockerheit der Krume. Er erwartet lediglich einen möglichst hohen Ertrag.
Heute weht ein scharfer Ostwind. Der bringt die gefürchtete Frühjahrstrockenheit und Kälte. Der vierfache Vater schickt seinen Jüngsten, den fünfjährigen Jakob, zurück ins Haus. Danach erklimmt er rasch seinen neuen Trecker – „natürlich gebraucht gekauft“.
Es ist nicht nur schön auf dem Land
Glückliche Kühe. Natürlich gedüngte Weiden. Rotbackige Buben und Mädchen. Das ist exakt die Art von Ländlichkeit, wie viele sie gerne hätten. Jeder kommt beim Anblick von Jungs liebevoll restauriertem Anwesen ins Träumen. Aber genau das ist es, was er nicht will. Nicht diesen Bio-Dekor, diesen ganzen Kitsch, der nur den Blick darauf verstellt, was tatsächlich auf Feld und Flur geschieht.
Jung hatte Glück und damals zum richtigen Zeitpunkt gekauft. Als er 1996 auf einer Radtour mit Ehefrau Vera nach langer Suche seinen „Traumhof“ entdeckte, wurden die Ländereien im Osten noch zu Ramschpreisen angeboten. Trotzdem wollte keiner dorthin. Die Nachbarn konnten kaum fassen, dass der Städter den verfallenen Hof nicht nur als Wochenendhaus erwerben wollte. Alle, die es gut mit ihm meinten, warnten damals: „Mensch, mach das bloß nicht!“ Die Landwirtschaft, hieß es, sei dem Untergang geweiht.
Was seine liquiden Mittel angeht, das gibt Jung bereitwillig zu, bewegt er sich auf eher bescheidenem Niveau, immerhin: „Meine Rechnungen konnte ich noch immer bezahlen.“
Allerdings könnte Jung, wenn es hart auf hart kommt, seinen 32 Hektar großen Besitz – die Weide, das Grünland und den Kiefernwald – jederzeit verkaufen. Und zwar mindestens für den vierfachen Preis: „Es schläft sich ruhig auf so einem Polster.“ Aber er lebt ja gerne auf dem Land, diesem ewigen Krisengebiet in den Augen der Politik, die wegen des demografischen Wandels Schulen und Krankenhäuser schließt, wegen der Braunkohle Dörfer abträgt und Kirchen abreißt, so lange, bis die Menschen ihre Heimat nicht mehr wiedererkennen.
Von Gentechnik bis TTIP
Während man also in Deutschland noch diskutiert, wer in Zukunft die Menschen ernährt, hat man sich in den USA bereits entschieden – und die Landwirtschaft Europas zu einer Art Disneyland erklärt. 2013 besuchte der Deutschlandkorrespondent der „Washington Post“ Jungs Hof. Zu dessen Enttäuschung zeigte sich der Journalist in seiner Reportage keineswegs von seinen Argumenten gegen grüne Gentechnik (Greening) und TTIP beeindruckt. Sondern hauptsächlich von Jungs grasenden Kühen und seinem roten Backstein-Fachwerkhaus. Kleine urige Höfe und echtes Rassevieh auf echten Weiden – so etwas gibt es noch? Das Leben der europäischen Bauern ist für die Amerikaner reine Folklore, ein Luxus, den sich heute niemand mehr leisten kann.
In Massachusetts, der Kornkammer der USA, ist ein Gehöft selbst von 200 Hektar Größe allerhöchstens ein Hobbybetrieb. Jungs Arbeitsweise ist ihnen genauso unverständlich wie die aus ihrer Sicht irrationalen Ängste der Deutschen vor den Folgen des Freihandelsabkommens.
Neulich hatten sie wieder internationalen Besuch in Lennewitz. Das russische Fernsehen brauchte einen typisch deutschen Bauern, der gegen die Globalisierung kämpft, und schickte ein dreiköpfiges Kamerateam aus Moskau zu ihm in sein winziges Rundlingsdorf. „Soll ich in die Kamera gucken?“, fragte Jung, als sich das Fernsehteam im Stall aufgebaut hatte, und griff zur Forke. Die Bewegungen, mit denen er seinen Deutsch Rotbunten ein paar Gabeln von dem selbst geernteten Heu vorwarf, waren erstaunlich linkisch. Das stört ihn aber nicht. Sollen die Leute doch reden, sagt Reinhard Jung. Ihn interessiere nur eins: die Freiheit der Landwirtschaft. „Der Rest der Welt ist mir ziemlich egal.“
Ina Weisse