Erste Sitzung des neuen Bundestags: Die Bürde des Hohen Hauses
„Aller Anfang ist schwer“, sagt Wolfgang Schäuble, als er den Knopf an seinem neuen Mikrofon nicht findet. Der Satz wird zum Motto des Tages – selbst althergebrachte Klatschgewohnheiten gelten nicht mehr.
Das Hohe Haus mopst sich ein bisschen. Das Gekichere ist vermerkenswert an diesem Tag der angestrengten Gesten, zumal es von ganz rechts außen bis ganz links außen reicht, quer durch alle Fraktionen im Reichstag. Es ist aber auch wirklich ein bisschen kurios zu sehen, wie ausgerechnet das dienstälteste Mitglied des Hauses den Knopf nicht findet. Dabei wird dieser Knopf in Wolfgang Schäubles künftigem Leben als Präsident des Bundestages sein sichtbarstes Machtmittel sein – damit kann er nämlich die Mikrofone im Saal an- und abschalten.
Sein eigenes allerdings auch. „Sehr geehrte Damen und Herren“, hebt Schäuble zu reden an. Unten legen sie pantomimisch die Hand hinter die Ohren. „Mikrofon!“ ruft jemand hoch. „Muss ich selber drücken?“ fragt Schäuble. Er klingt leicht ungläubig, aber ja, er muss. „Aller Anfang ist schwer“, sagt der Neue.
Man sollte den Satz vielleicht gleich als Motto des Tages auf den zwei großen Anzeigetafeln rechts und links neben dem Bundesadler einblenden, so viel Anfang wie an diesem Dienstag ist. Doch als am Morgen die ersten Abgeordneten in den Plenarsaal schlendern, steht dort nur zu lesen: „1. Sitzung des Deutschen Bundestages – 24. Oktober 2017“. Als Hintergrund für Selfies und kleine Gruppenbilder erfüllt der Tagesordungsvermerk trotzdem seinen Zweck. Vor allem die Neuen von der AfD sind eifrig dabei, den Moment festzuhalten, an dem sie jetzt also hier angekommen sind.
Der Tag gehört dem Parlament allein
Das Fotomotiv bietet sich auch deshalb an, weil die AfD ganz rechts außen sitzt, nahe an der Anzeigetafel, direkt vor der Regierungsbank. Die ist heute leer – Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der auf der Ehrentribüne zuschaut, wird nachher die alte Regierung entlassen und gleich wieder geschäftsführend einsetzen. Aber dieser Tag gehört dem Parlament allein. Kanzlerin und Minister müssen in die Abgeordnetenbänke.
Das ist ihnen vielleicht zum Eingewöhnen sogar recht. Alexander Gauland und Alice Weidel direkt vor der Nase zu haben – gewöhnungsbedürftig. Der Unionsfraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer schiebt sich jedenfalls durch die Pulks der „Alternative“ mit einem Gesicht, auf dem sich klar die Frage abzeichnet, ob es nicht noch einen anderen Weg zu den Unionsreihen in der Mitte gibt.
Gibt es. Aber der führt nur hinter Frauke Petry vorbei, die als Fraktionslose mit dem zweiten AfD-Aussteiger Marco Mieruch hinter ihrer Ex-Partei platziert ist. Bis zur Glaswand ist dann kaum noch Platz, weil 709 Abgeordnete den Plenarsaal doch sehr ausfüllen. So oder so also, Grosse-Brömer muss da durch.
Die Fraktionschefs gucken irritiert
Die AfD hingegen muss erst einmal an der alten Frau mit weißem Haar und kleinem Rucksack vorbei, die vor dem Eingang zum Plenarsaal nervös hin und her tigert und mit keinem spricht. Erst als Gauland und Weidel an der Spitze ihrer Truppen in den Saal einziehen wollen, stürzt die Weißhaarige auf sie zu, greift ihre Hände und wünscht „alles Glück“.
Die AfD-Fraktionschefs gucken irritiert. Sie kennen die Frau nicht. Ist lange her, dass die selbst im Bundestag saß – Angelika Barbe, Ex-DDR-Bürgerrechtlerin, Mitbegründerin der Ost-SPD, aus Protest gegen rot-rote Koalitionen zur CDU gewechselt, jetzt offenbar wieder politisch unbehaust. Gauland und Weidel schieben sich an ihr vorbei.
Punkt elf Uhr erklingt der Gong, und Hermann Otto Solms marschiert würdevoll, wenn auch etwas wacklig auf den Beinen vor zum Präsidentenpult. Der 76-jährige Freidemokrat leitet vorläufig die Sitzung als Alterpräsident. Eigentlich ist er das weder dem Lebensalter nach – das wäre der AfD-Mann Wilhelm von Gottberg – noch nach Dienstjahren, wie es der alte Bundestag im Juni als neue Regel in die Geschäftsordnung geschrieben hat. Aber Schäuble kann schlecht seine eigene Wahl beaufsichtigen, also hat er Solms vorgelassen, Abgeordnetenjahrgang 1980.
Sie präsentieren sich als Muster-Demokraten
Solms begrüßt den Bundespräsidenten (die AfD applaudiert nicht mit), den Ex-Präsidenten Norbert Lammert (die AfD applaudiert auch nicht mit) und die sehr alte, sehr kleine Inge Deutschkron, die als Überlebende 2013 unter der Reichstagskuppel die Gedenkrede am Holocaust-Gedenktag hielt.
Ihr applaudiert die AfD fast geschlossen, was nur den überraschen kann, der naiverweise geglaubt haben sollte, die wenigen Damen und vielen Herren würden sich hier gleich als Neonazis und Krawallbande präsentieren. Sie präsentieren sich vielmehr als brave Muster-Demokraten. Man kann das am Applaus ablesen. Sie klatschen praktisch immer mit, wenn es nicht direkt gegen sie oder einen ihrer Anträge geht – besonders eifrig aber dann, wenn einer der Redner sich gegen Ausgrenzung einerseits und „Hetze“ und „Parolen“ andererseits wendet. Parolen? Hetze? Finden wir ganz, ganz schlecht!
Für die anderen ist das eine interessante Erfahrung. In den Unionsreihen kann man hin und wieder die Szene beobachten, wie einer gewohnheitsmäßig in die Hände klatscht, dann die AfDler applaudieren sieht und erst mal absetzt: darf ich jetzt mit denen … oder nicht … oder was? Andere wundern sich nicht.
Das Schwierigste werden nette AfDler sein
„Wir sollten die nicht unterschätzen“, hat der CSU-Entwicklungsminister Gerd Müller vorhin gesagt, während sich die CDU/CSU im Fraktionssaal zum Zählappell versammelte, „da sind gute Leute drunter.“ Wer darauf hoffen sollte, dass sich diese Konkurrenz durch platte Pöbeleien erledigt, liegt falsch. Das Schwierigste, sagt ein Christdemokrat, werden „nette AfDler“, die regelmäßig Ausschnitte aus den Parteiprogrammen von CDU und CSU zur Abstimmung stellen.
Aber aller Anfang ist eben schwer. Solms zum Beispiel ist ja als Alterspräsident auch ein Neuling. Er darf die erste Rede im neuen Bundestag halten. Solms beginnt sie mit einer „sehr persönlichen Bemerkung“. Die entpuppt sich aber weniger als persönlich denn als Werbeblock für die Freie Demokratische Partei, die „nach schwierigen Jahren in der außerparlamentarischen Opposition“ wieder das Vertrauen der Wähler habe, weshalb im Parlament sich die liberale Stimme nun wieder Gehör verschaffen könne.
Es schlägt die Stunde der Geschäftsordnung
Aus den Bankreihen dringt missmutiges Gemurmel nach oben. „Eine Dummheit“, ärgert sich hinterher sogar ein Parteifreund, „man hält doch da keine Wahlkampfreden!“ Solms’ an sich durchaus bedenkenwerte weitere Ausführungen über die Eigenständigkeit des Parlaments gegen die Regierung, vorgeführt am Beispiel der Klage der FDP gegen den Awacs-Einsatz im Jugoslawienkrieg von 1994, oder gegen das „Zerrbild“, das Talkshows von Politik als einem Wettkampf von „Vertretern auffälliger Positionen“ zeichneten, stoßen ab da nur noch auf mauen Applaus im Saal.
Danach schlägt die Stunde der Geschäftsordnung. Normalerweise sind das nur zwei Minuten, denn in der Regel übernimmt der neue Bundestag umstandslos die Geschäftsordnung des alten. Diesmal aber haben SPD, AfD und Linke Änderungsanträge gestellt. Die SPD will die Kanzlerin vier Mal im Jahr persönlich zur Regierungsbefragung zwingen – der neue Fraktionsgeschäftsführer Carsten Schneider setzt seinerseits den Wahlkampf fort: Daran, dass die AfD hier sitze, sei auch Angela Merkels Weigerung zur Auseinandersetzung schuld!
Die AfD will den Alterspräsidenten wieder nach dem Alter bestimmt sehen – der neue Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann setzt die kurzfristige Änderung dieser Regel mit dem Vorgehen Hermann Görings gleich, der 1933 die Kommunistin Clara Zetkin am Reden gehindert hatte, was der FDP-Amtskollege Marco Buschmann empört als „Geschmacklosigkeit“ zurückweist. Die Linke fordert vier Fachausschüsse schon vor der Regierungsbildung einzurichten statt eines Hauptausschusses.
Ein strenger Blick zur SPD
Die Grüne Britta Haßelmann führt die erregten Gemüter zur Sache zurück. Ja, man könne über Ausschüsse reden, und ja, man müsse über Debattenkultur reden. Aber dann bitte gründlich und im Detail und nicht mit halbgaren Anträgen – strenger Blick zur SPD –, die bloß die Grünen vorführen sollten, die zu Oppositionszeiten einen ähnlichen Antrag schon mal gestellt haben. Aber eben nur einen ähnlichen. Haßelmann bekommt den ersten Jamaika-Beifall des Tages – Union, FDP und Grüne vereint. Die Drei verweisen die Anträge in die Ausschüsse.
Dann wird der Präsident gewählt. Das zieht sich, weil alle 709 Namen aufgerufen werden, auch wenn zum Beispiel Merkel ihren Stimmzettel einfach schon bei G wie „Martin Gerster“ einwirft. Danach steht die CDU-Chefin mit den Grünen Katrin Göring-Eckardt, Cem Özdemir und Toni Hofreiter zusammen. Ab 18 Uhr trifft man sich zur Sondierung, das hier ist also die Vorsondierung.
Schäuble bekommt 501 Stimmen, 173 Abgeordnete lehnen ihn ab, 30 enthalten sich. Kein tolles Ergebnis. Vielleicht hätte er – auch wenn das natürlich protokollarisch nicht geht – seine Rede vorher halten sollen. Denn was der alte Mann im Rollstuhl seinem Parlament zu sagen hat, hat nichts mit dem scharfen Debattenredner zu tun, der er sein kann. Es wird das Bekenntnis eines „Parlamentariers aus Leidenschaft“ zur Kraft der Demokratie.
Gauland schwant vielleicht etwas
Regt euch ab, ist seine Botschaft. Als er 1972 das erste Mal in den Bundestag in Bonn am Rhein kam, erinnert sich Schäuble, „da wurde um die Ostverträge gestritten“. Politisiert war das Land damals, mobilisiert, polarisiert – „geschadet hat es nicht“. Dann der Streit um die Nachrüstung, um die Einheit – „Veränderung war immer“.
Sicher, auch heute erscheint vieles wieder schwierig in einer immer unübersichtlicheren Welt. Aber gerade da müsse das Parlament der „Ort der Bündelung“ sein, „der Konzentration auf die wichtigen Fragen“. „Das geht nur über Streit“, sagt Schäuble, „den müssen wir führen, und den müssen wir aushalten.“ Aber dann komme der Kompromiss und die Entscheidung mit Mehrheiten. „Wir sind aus der Mitte der Bürgerinnen und Bürger gewählt, aber niemand vertritt das Volk“, sagt Schäuble. „So etwas wie ein Volkswille entsteht erst mit parlamentarischen Entscheidungen.“
Gauland guckt auf sein Pult. Er weiß, dass er gemeint ist und seine Kraftsprüche vom Volk, das die AfD vertrete. Vielleicht schwant ihm, dass der kleine Mann da oben auf dem Pult noch sein härtester Widersacher wird. Und das nicht, weil er den Knopf für das Mikrofon bedient.