„Eine Invasion wäre eine Katastrophe“: Die Angst der Kurden vor einem türkischen Einmarsch in Syrien
Es sah so aus, als könne der Krieg in Syrien bald enden. Nun droht der türkische Präsident den Kurden dort mit einer Invasion – die heben Schützengräben aus.
- Hannes Heine
- Muhamad Abdi
Vielleicht bleiben Kamischli nur noch wenige friedliche Wochen. Vielleicht rollen bald die türkischen Panzer, die einige Kilometer hinter der Grenze stehen, auf die Hauptstadt der syrischen Kurdenregion zu. Vielleicht donnern dann Kampfflugzeuge über diesen nordöstlichen Zipfel des Landes – die einzige Region in Syrien, die vom Krieg noch weitgehend verschont geblieben ist.
„Die Leute reden über nichts anderes mehr als über den Einmarsch. Und die Straßen sind leerer, es ist viel stiller geworden“, sagt Hasan Younes am Telefon. Der 38-Jährige ist Lebensmittelhändler in Kamischli.
Die Autonomiezone, in der die Stadt liegt, wird von kurdischen, assyrischen und arabischen Räten regiert. Am einflussreichsten ist die säkulare Kurdenpartei PYD. Die hatte sich früh von Syriens Präsident Baschar al Assad als auch von den untereinander zerstrittenen Aufständischen distanziert: Assad betrachten viele Kurden als blutrünstigen Diktator. Aber auch viele seiner Gegner werden von der PYD als Islamisten gefürchtet, die Assads Regime durch einen Gottesstaat ersetzen wollten.
Nun droht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den syrischen Kurden mit einer Invasion. Er möchte die PYD und die ihr nahestehende Miliz YPG vertreiben – es heißt, beide würden von der auch in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans – der PKK – unterstützt.
In Nordsyrien will Erdogan eine von türkischen Truppen kontrollierte Pufferzone schaffen, der Ost-West-Korridor auf syrischem Territorium soll das türkische Staatsgebiet und die von den Kurden verwalteten Orte trennen. Weil die meisten dieser Städte an der Grenze liegen, hieße das: Hunderttausende müssten ins Landesinnere fliehen.
Funktionierende Selbstverwaltung
Hasan Younes ist in Kamischli aufgewachsen, er mag seine Stadt. Während des acht Jahre andauernden Bürgerkrieges habe er nie vorgehabt, sagt er, Kamischli zu verlassen. Ahornbäume säumen die Straßen, in denen es auch dann noch vormittags immer nach frisch gebackenem Brot roch, als in Zentralsyrien längst der Krieg tobte.
„Eine Invasion wäre eine Katastrophe“, sagt Younes am Telefon. „Wir haben auch in Kamischli in den letzten Jahren viel erlebt. Tage ohne Strom, eisige Winter ohne Heizung. Wir haben den Schmutz, der aus der ganzen Welt hier ankam, bekämpft. Und nun lässt uns die Welt fallen?“ Aus dutzenden Staaten waren Anhänger des „Islamischen Staates“ nach Syrien gereist, Selbstmordattentäter versuchten, auch nach Kamischli vorzudringen.
Trotz all dem, sagt Younes, habe man in der Region, die sie Rojava nennen, eine Selbstverwaltung aufgebaut. „Ich konnte meine zwei Kinder fast immer zur Schule bringen, soll das alles umsonst gewesen sein?“ Younes’ Familie ist typisch für Kamischli: Die Mutter lebt im selben Haus, seine fünf Schwestern sind zu ihren Männern gezogen, der jüngere Bruder hilft im Lebensmittelladen aus. Zu Hause wird Kurdisch gesprochen, alle können Arabisch – Syriens Amtssprache – fließend.
Deutsche, die sich als Freiwillige der YPG-Miliz angeschlossen haben und Kamischli besuchten, berichten von einer funktionierenden Stadt. Es gibt kurdische, arabische, christliche Viertel. Zu den 500.000 Einwohnern flohen schätzungsweise 150.000 Vertriebene aus Zentralsyrien, die in Kamischli vorübergehend Frieden fanden.
Angst vor einer Zone der Kriegsverbrechen
Doch dass Erdogan nicht blufft, scheinen sie hier zu wissen. Hilfsorganisationen in der Region sind alarmiert. „Unsere Partner vom Kurdischen Roten Halbmond bereiten sich nun auf das Schlimmste vor“, sagt Anita Starosta.
Sie koordiniert die Einsätze der Hilfsorganisation Medico International in Syrien. Starosta sagt, wenn die türkische Regierung von einer „Sicherheitszone“ spreche, drohe für viele Kurden daraus eine Zone der Kriegsverbrechen zu werden. „Schon in Afrin mussten Hunderttausende auf der Flucht vor Ankaras Militär gerettet und versorgt werden.“
Die Provinz Afrin liegt im äußersten Westen der traditionellen Kurdengebiete, fast 500 Kilometer von Kamischli entfernt. Die türkische Armee hatte Afrin Anfang 2018 angegriffen und gemeinsam mit islamistischen Verbündeten besetzt, die zuvor aus Syrien vor Assad geflohen waren.
Familien aus syrischen Dschihadisten-Hochburgen zogen in die von Kurden verlassenen Häuser ein. Im Internet prahlten neue Bewohner damit, widerständige Kurdinnen vergewaltigt zu haben. Läden, die Alkohol anboten, wurden zerstört. Erdogan ernannte einen Provinzgouverneur für Afrin.
Nun kündigen syrische Islamisten im türkischen Exil in Internetvideos an, nach Kamischli marschieren zu wollen. Die Bundesregierung erklärte 2016, die Türkei sei zur „zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region“ geworden.
USA sind eigentlich mit beiden Seiten verbündet
Noch servieren die Kellner in Kamischli den beliebten Arak, auch Whiskey und Bier. Die US-Regierung weiß um die fragile Ordnung im Kurdengebiet. Offiziell ist Präsident Donald Trump mit beiden Seiten verbündetet. Die Türkei ist Nato-Partner, zudem sind dort US-Soldaten stationiert. Andererseits helfen die Amerikaner der YPG, indem sie ein von der Kurdenmiliz dominiertes Militärbündnis weiter gegen den IS aufrüsten. Vor einigen Tagen kamen 150 Lastwagen mit US-Waffen in Kamischli an.
Auch Akid, der Bruder von Hasan Younes, spricht am Telefon. Der 34-Jährige hat vor wenigen Monaten geheiratet und eine Wohnung gekauft, die renoviert werden müsse. „Ich weiß aber nicht, ob ich das tatsächlich machen soll“, sagt Akid Younes. „Wenn Erdogan angreift, müssen wir kämpfen. Wahrscheinlich wäre meine Arbeit dann umsonst.“ Er wisse ja, was mit den Häusern der Kurden in Afrin geschah. „Alles was ich hatte, habe ich in diese Wohnung investiert – und nun könnte ich alles verlieren.“
Aber vorerst haben sich die Regierungen in Ankara und Washington ja auf die Pufferzone statt eines Einmarsches verständigt. 600 Kilometer entlang der türkischen Grenze sollen die Kurden einen Korridor räumen. Unklar ist, wie weit diese Pufferzone ins syrische Landesinnere reichen soll.
Unklare Pufferzone
Erdogan fordert: bis zu 40 Kilometer. Er möchte in den Häusern der Kurden offenbar syrische Flüchtlinge aus der Türkei unterbringen. Das wiederum lehnen die Amerikaner ab – wohl auch, weil die IS-Auffanglager in der Region dann nicht mehr von den Kurden kontrolliert würden. Ohnehin besteht die Gefahr, dass die fast 12.000 gefangenen Islamisten fliehen, wenn die YPG alle Kräfte für einen Abwehrkrieg benötigt.
Wird Erdogan die USA brüskieren – und trotz aller Warnungen einmarschieren? Günter Seufert, der für das Politikberatungsinstitut Stiftung Wissenschaft und Politik die Türkei beobachtet, sagt: „Washington hat zu lange gewartet, es hat die Eskalationsbereitschaft der türkischen Regierung unterschätzt.“
Wenn die USA nicht bald dafür sorge, mit der Türkei eine Pufferzone einzurichten, werde Erdogan wohl tatsächlich angreifen. Schon heute hält die türkische Armee dutzende Städte in Westsyrien besetzt, Soldaten operieren auch 100 Kilometer hinter der Landesgrenze mitten im Irak. Kamischli liegt unmittelbar an der türkischen Grenze, von Drohnen und Agenten seit Jahren gut erkundet.
Zudem ist Erdogan getriebener denn je: Die Opposition hat bei der Kommunalwahl im März dazugewonnen, während Erdogans rechtsradikaler Koalitionspartner MHP auf ein hartes Vorgehen in der Kurdenfrage drängt. „Erdogan ist wirtschafts- und innenpolitisch angeschlagen, er braucht Siegesmeldungen“, sagt Seufert. „Und auch die von Erdogan unterstützten Kämpfer in Syrien verlieren an Boden – da wird er zeigen wollen, dass er immerhin entschlossen gegen die Kurden vorgeht.“
Noch vor einigen Wochen hatte es so ausgesehen, als ende der Krieg in Syrien in diesem Jahr; als besiege Baschar al Assad die letzten Aufständischen in Idlib und einige sich mit Russen, Türken, Amerikanern und den widerständigen Kurden auf ein Nachkriegsmodell.
Angst vor einer neuen Schlacht
Nun könnte eine neue Schlacht drohen. Um dies zu vermeiden, kündigten die kurdischen YPG-Einheiten an, von der Grenze abzuziehen. Allerdings verlangen sie, dass internationale Truppen das Gebiet übernehmen – keine türkischen Soldaten. Erdogan lehnt das ab.
„Die YPG-Kämpfer haben Großartiges im Kampf gegen den IS geleistet“, sagt der Kommandeur Ahmad Koye, der in Erbil – der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak – eine Elitetruppe der Peschmerga, Nordiraks kurdischer Armee, befehligt. „Nun aber sollten sie sich zurückziehen, für den Frieden.“
Die Autonomieregion wird von der konservativen PDK regiert, deren Chef Massoud Barzani hat sich stets mit Erdogan arrangiert. Könnte das die Lage entspannen? Man biete an, die syrischen Schwesterverbände der Peschmerga, also die dortigen Anhänger Barzanis, in der Zone einzusetzen, sagt Koye, 5000 Leute stünden bereit.
Anita Starosta von Medico International hielte es für besser, wenn die internationale Gemeinschaft das kurdische Autonomiegebiet in Syrien unterstützte. Die kurdische Selbstverwaltung versorge trotz knapper Ressourcen massenhaft IS-Gefangene. Nirgendwo in Syrien sei die Lage der Frauen zudem so gut wie in der Kurdenregion.
International anerkannt wird die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien, wie die Kurdenregion sich offiziell nennt, nicht. Während Amerikaner und Franzosen die Führung aus Kamischli immerhin als legitime Repräsentanten der syrischen Kurden empfangen, tut die Bundesregierung das nicht.
Das Auswärtige Amt spricht davon, an Syriens territorialer Integrität festhalten zu wollen. Der Menschenrechtsverband Human Rights Watch hatte 2014 erklärt, die PYD herrsche zuweilen undemokratisch – Menschenrechtsverletzungen seien jedoch deutlich seltener als in den Gebieten, die von anderen Aufständischen und Assads Regierung kontrolliert werden.
Die Regierung in Damaskus lehnt den Pufferzonen-Plan ohnehin ab. Die Kurden seien „ein Werkzeug in diesem aggressiven US-türkischen Projekt“, heißt es. Sie sollten sich lieber in den syrischen Gesamtstaat eingliedern. Assads Beamte zwingen Händler in Syrien, Warenlieferungen nach Kurdistan abzusagen.
Am Telefon sagen die Brüder Akid und Hasan Younes in Kamischli, dass sie ihre Stadt selbstverständlich verteidigen würden, wenn Erdogan seine Soldaten einmarschieren ließe. Es sind keine leeren Worte: Die beiden hatten einen Bruder, der gegen den IS kämpfte – und in der Schlacht um Rakka 2017 starb. Noch haben die YPG-Offiziere nicht zur Mobilisierung aufgerufen. Doch in Parks und an Straßen werden bereits Schützengräben ausgehoben. Einige in Kamischli sagen, der Krieg habe längst begonnen.